Deutscher Buchpreis für Lutz Seilers „Kruso“

Ich sitze dran, ich lese, ich bin ein wenig ratlos. Das Buch springt mich nicht an, aber es stößt auch nicht fort, die Sprache ist poetisch, die Beschreibungen passen, gehen in die richtige Richtung. Aber ich will keine Schulnoten verteilen, sondern ich möchte das Buch auseinandernehmen wie ein Elektrogerät oder eine Spieluhr, um zu  sehen, was darin nun stecken mag und wie das Teil funktioniert. Ob das gelingt, weiß ich nicht. Mich interessieren die Mechanismen, die Wirkungsweisen. Das Innere als Äußeres. Die Struktur als Form. Kalt, klar, kristallin.

Da ist jener junge Mann namens Ed, der Germanistik studierte, der einen Faible für die Gedichte Trakls hat, diese zudem auswendig hersagen kann und den es nach dem Verlust seiner Freundin G im Sommer 1989 auf die Insel Hiddensee verschlägt, weil er aus seiner Studierspur gefallen ist. Zu den Zeiten der guten alten DDR war Hiddensee ein Paradies und eine Zwischenraum für Aussteiger. Ed kommt in einer Art Schankwirtschaft und Ausflugslokal mit dem schönen und anspielungsreichen Namen „Klausner“ als EssKaa unter (SK = Saisonkraft), muß dort die Sauarbeit am Abwasch erledigen – „den Römer machen“, wie die Saisonkräfte beim „Klausner“ sagen, weil der Körper mit einem gewandhaften Geschirrtuch umwickelt ist, das all die Nässe, das eckelhafte Schmutzwasser mit dem Fett darin aufsaugen muß. Fettfilme liegen überm Gesicht, auf der sonnengegerbten Haut. Am Abwasch trifft Ed auf jenen charismatischen Inselbewohner namens Kruso, dem er zugeteilt wird. Die Nähe zum Robinson ist gewollt. Klar.

Und so entwickelt sich im Zusammentreffen von Kruso und Ed sowie dem Inselszeneario mit seinen Aussteigern, die als SKs arbeiten, ein geheimnisvolles Spiel. Eingeflochten in die politischen Ereignisse, wie aber nur wie in weiter Ferne aufschimmern. Seiler spart diese Wendezeit ganz bewußt aus, und dennoch handelt es sich um einen Roman über die untergehende DDR. Wohin geht der Text?, frage ich mich. Es ist nicht gut, vor Ende der Lektüre eine Besprechung zu schreiben, insofern sind das bloß subjektive Notizen, die ich in die Tastatur stippe. (Novizen vertippte ich mich gerade.) Mich interessiert, weshalb dieses Buch nur mäßig fesselt. Mich macht es neugierig, weshalb ich es weiterlese. Es ist nicht schlecht. Aber ich komme dennoch nicht voran. Was sperrt sich?

Das Thema „Buchpreise“ will ich nicht aufwärmen und auch nicht die Frage, welche Bücher bei der Nominierung in der Longlist fehlten. Den Preis gegönnt hätte ich Hettches „Pfaueninsel“, es scheint mir subtiler, was aber womöglich daran liegt, daß Hettches Roman sehr viel mehr in die Philosophie ausgreift und Assoziationen zur Theorie als Lebensweise und als Sichtform abruft. Literatur ist eine Form von Philosophie.

Tja, der Buchpreis, der Buchpreis. (Es steckt in dieser Wortverbindung das Substantiv Preis darin und das koppelt an den Wertbegriff: montetäres System – durchaus notwendig –, an das die Literatur andocken muß.) Angesichts einer Flut von Autorinnen und Autoren hat sich der Literaturbetrieb massiv geändert. Es ist nicht mehr, wie in den 50er, 60er, 70er Jahren, daß es 40 oder höchstens 50 bedeutende deutschsprachige Schriftsteller gab. Und so fieberten die Leserinnen und Leser, wenn ein neuer Handke-, ein neuer Walser-, ein neuer Grass- oder Bachmann-Roman erschien. Das waren Ereignisse – vom Feuilleton groß ausgewalzt und auf der ersten Seite präsentiert. Die Schreibsituation ist heute eine andere. Wer nur halbwegs einen Stift gerade halten kann oder weiß, wie man eine Computermaus und eine Tastatur hinreichend bedient, schreibt Romane, Erzählungen und manchmal auch Lyrik. Viele Texte entstehen, lungern in Festplatten oder in Moleskine-Notzheften und die meisten der Texte werden erfolglos und unentdeckt bleiben. Für manche ist es schade, andere finden eine Nische. Schriftstellerinnen wie Aléa Torik gönne ich von ganzen Herzen einen Erfolg und daß sie einen Schritt nach oben machen.

In Berlin leben mehr Schriftsteller als die Stadt Einwohner hat. Der schreibende Arbeiter ist Realität geworden, nur daß die Schreibenden im Grunde nicht arbeiten – zumindest nicht im Sinne der klassischen Erwerbsarbeit –, sondern sich von Gelegenheit zu Gelegenheit hangeln (müssen). Stichwort auch dazu: Kreuzberger Medienbohème. An die Futtertröge zieht es alle. Ja, es schreiben viele Menschen, zu viele und viele zu sehr am Geist der Zeit orientiert, was nicht an sich schlecht sein muß, sofern der Stoff auf geistreiche Weise und mit einer gewissen Notwendigkeit in der Sprache behandelt würde und wenn es denn nicht alles so derart am Mainstream sich ausrichtete: Am besten irgendwas mit Berlin und mit Männern und mit Frauen und mit Liebe. Vor allem mit Liebe, denn alles muß von Liebe getragen sein. Und sei es im Scheitern. Diese Themenwahl ist per se nicht schlimm und per se auch nicht gut, sondern es bedeutet, daß sich der Literaturbetrieb durch die Ubiquität des Schreibens von Literatur grundlegend wandelte. Schreibseminare und die Unsitte des kreativen Schreibens – eine der schlimmen Wortkreationen – erfahren einen Boom. Hildesheim und Leipzig sind begehrt. Und leider lese ich aus manchem, das von jungen Schriftstellerinnen und Schriftstellern produziert wird, zwar durchaus den Stilwillen, aber ebenso ein gehöriges Maß an Konformität und Langeweile heraus. Was einmal wieder boomt, ist die Alexa-Henning-von-Langeisierung der Literatur, die Hegemannisierung: Wie man aus Banalem Banales schaufelt und das mit einem irgendwie coolen Sound und ein paar modischen Begriffen tarnt oder genauer geschrieben:  das Banale übertüncht. Egal, damit müssen die Schreiberinnen und Schreiber selber klarkommen. Insofern kann ich mich mit der Wahl von Lutz Seilers „Kruso“ durchaus anfreunden. Aber ebenso scheinen mir Angelika Klüssendorf und Gertrud Leutenegger vielversprechend, auf deren Roman ich sehr gespannt bin. Von Hettches herrlicher „Pfaueninsel“ erscheint hier auf Aisthesis am Wochenende eine Besprechung.

Ich könnte hier schreiben: Herzlichen Glückwunsch Lutz Seiler! Doch ich denke, daß es Lutz Seiler egal ist, ob der Blogger Bersarin ihm nun Gutes oder Schlechtes wünscht. Insofern sind solche Gratulationen in Blogs in den Wind geschrieben. Ausgenommen, ich kennte Seiler. Tue ich aber nicht. Also mache ich mich weiter dran, seinen Roman wie die Spieluhr zu zerlegen. Das war bereits als Kind meine Lieblingsbeschäftigung, zum Leidwesen meiner Eltern: Dinge auseinanderzunehmen, um zu sehen, was sich darin bzw. unter der Oberfläche befände. Zum großen Bedauern bekam ich diese Objekte hinterher nur selten wieder in der Weise zusammengesetzt, wie sie es vorher in ordnungsgemäßem Zustand waren.

3 Gedanken zu „Deutscher Buchpreis für Lutz Seilers „Kruso“

  1. Ja, der Buchpreis. Ich kenne Seilers Werk nicht und wußte dennoch vorher allein aus den Inhaltsangaben und aufgrund der Feuilletonpräsenz, wer den Preis bekommen wird. Leider habe ich diese Prophetie nirgendwo im Netz hinterlegt – so kommen solche Bescheidwissereien ex post immer sehr schal daher. Dennoch: Alleine das Thema machte den Preis. Den diesjährigen Favoriten auszumachen war nicht schwer.

    Meine Praeferenz kann man ja problemlos nachlesen. Martin Lechner war mit „Kleine Kassa“ immerhin auf der Longlist – eine erfreuliche Sache für jemanden, der nie in Leipzig war, schlimmer noch: Der einen zugesicherten Studienplatz in Leipzig damals absagte. Martin, du Betriebsverächter!!! (Würde von Dir natürlich gerne wissen, was Du von Lechner hälst…).

    Von Hettche kenne ich v.a. „Nox“ aus der Mitte der 90er Jahre, sein zweites Buch nach „Jakob muß sterben“, ein echter Mißerfolg. Ich glaube, dass ihm dieser Mißerfolg damals sehr viele Jahre des Wiederaufbaus seiner mutwillig kaputt gemachten Etablierung im Betrieb gekostet hat – kann mich aber auch täuschen. Jedenfalls kam es zum Verlagswechsel. Es war damals die erste Zeit der auktorialen AlexavonHusw., eigenntlich ist diese Zeit immer noch nicht vorbei. Siehe hierzu auch die Diskussion bei Alea über das Fräuleinwunder, über die biographische Zuschreibung der Texte, über die verkaufsfördernde Wirkung der „besonderen Biographie“. Seis drum, die „Pfaueninsel“ ist bei mir fest eingeplant, auch wegen der fast 20 Jahre alten Leseerfahrungen mit „Nox“.

    Eigentlich wollte ich über Literatur plaudern, schon plaudere ich über den „Betreib“, besser den Vertrieb von Büchern, denn darum geht es ja intentional beim Buchpreis. Ich hoffe nur, dass jeder, der ernsthaft die Vollendung seines Werkes verfolgt, wirtschaftlich dazu die Gelegenheit hat. Und weiß leider, dass dem wohl nicht so ist.

  2. @ zeilentiger
    Sofern ich die Innenteile finde und wieder in eine Textordnung bekomme, gibt es auf alle Fälle eine Besprechung.

    @summacumlaude
    Auf Seiler tippte ich ebenfalls. Es sei ihm – wie geschrieben – gegönnt, doch auch ich hege den Verdacht, daß der Deutsche Buchpreis mehr mit der Präsenz des Buches im Feuilleton zusammenhängt als mit seiner objektiven Qualität. Denn dann hätte ihn ebenso Hettche gewinnen müssen. Aber die Kriterien, nach denen ein Preis vergeben wird, sind häufig schwierig zu bestimmten. (Und noch schwieriger zu vermitteln.) Seilers Buch ist sicherlich sehr viel intensiver konstruiert als der Roman Hettches, was allein daran liegen mag, das dessen Buch auf rund 350 Seiten über 70 Jahre ausgreift, während Seiler einen kurzen Zeitraum auf über 400 Seiten schildert. Da bleibt naturgemäß für manche lyrische Verdichtung in der Prosa und für die Tiefenarbeit mehr Raum. Die Geschichte kann sich in den Details entfalten. Während sie sich bei Hettche anhand einzelner hochintensiver, verdichteter Szenen sowie der Reflexionseinschübe des Erzählers aufbaut.

    Martin Lechner habe ich bisher nicht gelesen. Es gibt so unendlich viel, das da der Lektüre harrt. Noch mein Stapelregal mit den ungelesenen Neuerscheinungen, die nun nicht mehr neu sind, biegt sich.

    Leider kommt man bei dem Thema „Literatur“ und „Schriftstellerinnen/Schriftsteller“ schnell auf dem Marktplatz an. Daß auch Bücher in dieser durchkapitalisierten Gesellschaft verkauft werden wollen, ist der Literatur und insbesondere den Organen ihres Vertriebes nicht vorzuwerfen. Sehr wohl aber diese Art von Marktförmigkeit. Fast könnte man zudem sagen, unter dem Diktat des Gängigen verlieren die Menschen ihre Lesekompetenz. Wer hält heute noch einen Proust, einen Joyce, einen Foster Wallace durch? Gefällig muß es sein, realistisch muß es sein. Die eigene Lebenswelt muß es abbilden. Schlecht schreiben können einige, schlecht lesen leider viele.
    Der erste Roman von Hettche heißt allerdings „Ludwig muß sterben“. Diesen sowie „Nox“ und den „Fall Arbogast“ las ich mit Interesse, dann verlor ich Hettches Texte aus den Augen.

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