Auf dem Blog „Mützenfalterin“ erschien gestern von gleichnamiger Bloggerin ein knapper Eintrag zum Begriff der Zeit, der von einem durchaus angenehmen melancholischen Ton und von Zweifel getragen wird. Ich fand’s ganz interessant, zumal ich nicht nur die Phänomenologie des Alltags in kritischer Absicht, sondern auch die des inneren Sinnes mit Leidenschaft betreibe. Es bleibt keiner der Momente unseres Lebens übrig. Ist dies das Wesen der Zeit? Oder verzeitlichen wir nicht viel mehr in diesem Blick den Wesensbegriff? Ich will diese Aspekte der Zeit gar nicht so sehr von Heidegger her schreiben, der die Zeit in ein unhistorisches Konzept von Wesentlichkeit einfror, sondern es zeigt sich Zeit in den ästhetischen Phänomenen. (Wenngleich das nur einen ihrer Aspekt darstellt. Ebenso zeigt sich die Zeit in einer ganz anderen, nämlich zyklischen Weise in der Natur und wenn man so will ebenso im Naturschönen.)
Das Vergehen der Zeit erzeugt Lust und Schmerz in einem. Unsere Tage sind gezählt. Ebenso die Dauer des Moments. Den Schmerz des Es-war-einmal und die Lust der Reflexion, für die wir den Begriff „Erinnerung“ bereitstellen, tarieren wir in unserem Denken immer wieder neu aus. Unsere gängige bzw. alltägliche Auffassungsweise der Zeit hat etwas mit deren (physikalischer) Struktur und mit ihrer Meßbarkeit tun. Erst indem wir die Zeit einteilen, kann Erinnerung als Geschichte geschrieben und können Erinnerungen als Geschichten erst poetisiert und damit überhaupt möglich werden. Erinnerungen haben wir nur dann, wenn wir die Zeit im Modus „Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft“ konzipieren. Ein durchgehender nunc stans, eine unendliche durée, ein gelebtes Jetzt, in dem sich Jetzt an Jetzt schließt, ineinander vertröpfelt und als reine Gegenwart erlebt wird, kann keine Erinnerungen erzeugen. Peter Licht brachte zum Beginn der Nuller-Jahre in seinem kleinen, feinen, lakonischen Musik-Stück „Sonnendeck“ eine kleine unscheinbarer Wahrheit unter, indem er textete: „Und alles was ist dauert drei Sekunden//Eine Sekunde für vorher//Eine für nachher, eine für mittendrin.“ Das ist der Moment. Der verfließende. Gelebt, kurz gedacht, vergessen. Und aufs neue inszeniert. Dasein als Schiffspassage: Wenn ich nicht hier bin, bin ich auf dem Sonnendeck. Oder im Solarium. (Zur Flüchtigkeit des Hier und Jetzt schrieb Hegel in seiner „Phänomenologie des Geistes“ poetische und philosophisch inspirierende Passagen, die jedoch den Rahmen eines solchen Textes sprengen.)
Die Welt sei einzig als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt, formulierte Nietzsche in seinem frühen Text „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Jeder Zeit-Punkt vergeht. Wie damit umgehen? Das ist das Wesen der linearen, physikalischen Zeit. Aber es gibt eine andere Zeit: die der Erinnerung, die der ästhetischen Erfahrung, des ästhetischen Zustands. Ohne dieses Vergehen und die Reflexion darauf, gäbe es keine Literatur, keine Kunst. Proust widmet sich diesem Phänomen des Vergehens auf mehreren tausend Seiten und läßt auf diese Weise ein Leben, eine Epoche an den Leserinnen und Lesern vorbeigleiten. Und an einem Gebäckstück samt Tee entzünden sich Szenen von Liebe zu bestimmten Menschen, strömt ein Ton des Lebens, der sich nicht mehr linear bemißt, sondern als Eindruck und Text sich treibt. Gilles Deleuze schreibt in „Proust und die Zeichen“: Jede Wahrheit sei eine Wahrheit der Zeit und darin insbesondere rivalisiere Prousts Werk mit der Philosophie.
Zeit ist Erzählung. Thomas Mann nannte im „Zauberberg“ den Erzähler den raunenden Beschwörer des Imperfekts. Erzählen in seinen vielfältigen Formen (vom Mythos über Thukydides‘ Geschichtsschreibung, von der Fabel bis zu Novelle oder Roman) hat etwas mit Zeit zu tun, über deren Vergehen wir manchen Gedanken verschwenden. Davon kann man sich in Paul Ricœurs gelehrigem, dreibändigen Werk „Zeit und Erzählung“ ein Bild machen. Mich interessieren die Weisen des Poetisierens. Wie wir einen Moment in die Gestalt bringen, ohne ihn dinghaft zu fixieren, verdinglichend brechen, ohne ihn instrumentell handhabbar zu machen. Wie wir Bilder erzeugen, die eine Geschichte erzählen, wie wir Geschichten erzählen, wie so bisher nie dagewesen sind. Jede gute Literatur kommt wie eine Novelle daher.
Die Schönheit des Moments läßt sich nicht festhalten. Was passiert, wenn einer zum Augenblicke sagt, „Verweile doch, du bist so schön!“, wissen wir vom Faust. Die Zeit, die wir festzuhalten bestrebt sind: ein Teufelspakt. Denn sie schwindet umso schneller, je mehr wir ihr im gelebten Augenblick die Intensität verleihen und sie fixieren wollen. Sie schwindet so oder so. Und auch die Photographie ist nur eine Form der geronnenen Zeit, die den Augenblick nicht mehr lebendig macht. Sie bannt ein Bild, erzeugt manchmal Melancholie oder gibt den Anlaß für eine Geschichte, die sie aus dem gefrorenen Ausschnitt hervortreibt. Familienalben sind sowohl Schreine der Erinnerung als auch Kenotaphen. Extrem Lebendiges und Totes.
All diese ästhetischen und aisthetischen Überlegungen mögen in den unmittelbar biographischen Bezügen nichts nützen, wenn eine/r auf die Zeit in ihrer Flüchtigkeit sinniert und an ihr (ver)zweifelt. Genauso aber gibt es auch solche trüben Tage und Monate, da ist einer froh, wenn sie vorbei sind. Winter und Frühling 2014 waren eine graußliche Zeit, in der ich mich lediglich in der Erinnerung aufhielt. Sexualisierungen als blinder Zeitvertreib. Im März besuchte ich ein Bordell. Im Stein. Nicht schlecht. Massageöle und saubere Lacken. „Darf ich etwas von Ihrer Testflüssigkeit probieren?“ Ansonsten war in diesen Monaten wenig, was in irgendeiner Weise Freude bereitete. Zeiten wechseln, heben und steigen wie Stimmungen. Sind nicht handhabbar zu machen.
Leipzig, im Juni: Wenn beim Spazieren durch die Hitze der Stadt trotz Abwesenheit jeder Pflasterstein und jeder Weg in Plagwitz mit Erinnerungen sich füllt. Keine Zeit, die aufzuschreiben. Wir schickten uns SMSe hin und her. Der Zauber eines Mediums. Die Zeit, die sich sedimentierte und bis in den Körper eindrang. Proust setzte jene Zeichen der Zeit im literarischen Text. Skizzen zu Proust wären fällig.
Es gibt ein Zeitkonzept, das diese physikalische Zeit übersteigt bzw. aussetzen läßt und in einer Ästhetik der Intensität mündet. Nietzsche umschrieb im „Zarathustra“ in verschiedenen Passagen diesen Moment als Wiederkehr des Immergleichen, als erfüllten Augenblick, als nunc stans [und zugleich als dessen Negation, denn noch dieser scholastische Begriff ist durchdrungen von einer abendländischen Metaphysik, die Nietzsche nicht müde wurde, in die Kritik zu nehmen], als Aussetzen der Zeit, als ihre Umpolung, bis ins Gedicht hinein, dessen Titel zu einem geflügelten Wort wurde:
ALLE LUST WILL EWIGKEIT
O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
‚Ich schlief, ich schlief –,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh –,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit –,
– will tiefe, tiefe Ewigkeit!‘
So zumindest spricht die Nacht, die manche in oder mit ihren Hymnen besangen. (Inwiefern Hymnen und Hymen etymologisch zusammenhängen und ob diese Assonanz bloß dem Zufall geschuldet ist, steht auf einem anderen Blatt.)
Die Photographie bannt den Moment, so heißt es. Dabei wird jedoch leicht übersehen, daß dieses Bannen an die photographische Apparatur bzw. deren Technik gebunden ist. Eine Kamera im 19. Jahrhundert hatte erhebliche Schwierigkeiten, mittels jener Zeit, in der Licht auf die Filmplatte fiel, auch nur die kleinste Bewegung im Bild festzuhalten, ohne daß es im Bild unscharf und verschwommen wurde. Starr und steif, manchmal mit Stangen und Gerüsten fixiert, standen die Portraitierten vor dem Apparat des Photographen. Mindestens drei Sekunden dauerte es bis in die 1880er Jahre, daß ein Mensch vor der Kamera sich bewegungslos verhalten mußte. Anders die Kompaktkameras in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, die mit einer Verschlußzeit von 1/125 oder 1/250 Sekunde und weniger die Bewegungen einfrieren konnten. Eine der großen technischen Ausnahmen jener Zeit, in Bewegungsstudien den Moment, die Sekunde zu zeigen, stellen Edward Muybride Photographien dar; nämlich mittels einer relativ neuen Technik das einzufangen und im Bild festzuhalten, was nicht wahrnehmbar ist und sich dem natürlichen Blick des Auges entzieht.
Marcel Duchamps Gemälde aus dem Jahre 1912 „Akt, eine Treppe herabsteigend“ dürfte wohl, was die Studien zur Bewegung betrifft und inwiefern sich Zeit und Raum in diesem Gemälde verquicken, von Edward Muybrides Bewegungsstudie wesentlich beeinflußt sein.
Vielleicht schätze ich aus diesem Grunde Cy Twomblys Photographien von Blumen so außerordentlich, und halte sie trotz ihrer Schlichtheit für ästhetisch gelungen, weil diese Bilder etwas vom Fluß der Zeit anzeigen und sie zugleich festzuhalten versuchen. Wie vergeblich solche Fixierung sind, manifestiert sich in Twomblys Blumen-Photographien. Er präsentiert eine eigenwillige Art von Stilleben (nature morte), rekurriert einerseits auf eine malerische Tradition (er selbst malte und zeichnete Blumen), vergewisserte sich jedoch zugleich im Modus der Photographie der Ordnung des Sichtbaren und flüchtigen Lebens abgezirkelter Flora. Von ihrem metaphorischen Gehalt einmal abgesehen – die Blume steht als Metapher für den Text der Lyrik, aber es sind ebenso die erotischen oder sexualisierten Varianten denkbar – sind Schnittblumen, in eine Vase plaziert, Objekte von ausgesprochen begrenzter Haltbarkeit. Sie welken, lassen auf eine faszinierende Weise irgendwann den Kopf hängen, nachdem sie noch Stunden vorher in ihrer ganzen Pracht im Raum standen, Blütenblätter vertrocknen, werden hart und bereits beim Kauf ist ihnen ihr Todesdatum eingeschrieben. Die Photographien Twomblys zeigen, als Bild festgehalten, Objekte, die sehr kurz nur ihre Form behalten. Sie frieren ein, deuten aufs Vergängliche, ästhetisieren, portraitieren das, was in wenigen Tagen in dieser Weise nicht mehr sein wird.
Unscharf verschwimmen die Blumen im Vorder- und Hintergrund, nur wenige Stellen im Bild, die scharf und konturiert die Blütenblätter zeigen; wie vergilbte legt sich eine Schicht über die Photographie.
Anders als Robert Mapplethorpes ebenso faszinierenden Blumenphotographien, die Blüte und Stengel in ihrer Kraft und der konturierten Schönheit zeigen: im Spiel von Licht und Schatten entsteht die Formen und es schält sich geschärft die Struktur der Blütenblätter hervor. Photographie als ästhetische Form und als Potenzierung des Gegenstandes. Ganz anders Twombly. Es sind Photographien von Blumen, wie wir sie im Traum oder in den Kammern des Todes wahrnehmen. Hinter den Schleiern. Verblühend. Wie Polaroids, die sich augenblicklich vor unseren Augen entwickeln und deren Chemie radikal dem Licht ausgesetzt ist, so daß diese Bilder nach wenigen Monaten verblichen daliegen.
In auseinandergezerrter Weise wird die Zeit bei Douglas Gordon ins Bild gesetzt, wenn er in „24 Hour Psycho“ den gleichnamigen Hitchcock-Film auf eine Spiellänge von 24 Stunden dehnt. 24 Stunden sind bekanntlich ein Tag. Der Duschvorhang und das in den Körper eindringende Messer, der zunächst die Treppe hinaufsteigende und dann hinunterfallende Arbogast dehnt sich in der Zeit als Detail.
Es sei mit Toshiki Okadas anregender Erzählung „Die Zeit, die uns bleibt“ als harter hedonistischer Reigen der Lust, aber ebenso – spielerisch in den Predigerton verfallend: die Nacht des Jägers – mit jenem Satz aus dem 1. Korinther-Brief 7,29 „Die Zeit ist kurz“ geschlossen. Daran führt kein Weg vorbei.