„Mach mal den Fernseher an!“
Es weiß fast jede oder jeder, was sie an jenem Tag getan und gemacht haben. Zumindest ab dem Moment, seit der Minute, wo die Betrachter erfuhren oder vielmehr: ersahen, daß da Flugzeuge in das World Trade Center rammten, als die beiden Türme einstürzten und diese Bilder in endlosen Wiederholungsschleifen um die Welt liefen. Dazwischen die Bilder von Rennenden, aus den Fenstern springenden, herabstürzenden Menschen, Menschen im arabischen Raum, die jubelten, Menschen mit fassungslosen Gesichtern, der ausdruckslose Blick George W. Bushs, aber auch jene Photographie von Thomas Höpker, die um einiges später erschien, auf der man ruhig und gelassen plaudernde Menschen sieht, während auf der anderen Seite des Flusses Manhattan in Rauch gehüllt ist. Bilder zu 9/11 von der Photoagentur Magnum gibt es hier.
Ich selber bekam dieses schnitthafte Ereignis relativ spät mit: erst um 16 Uhr 45 MEZ, als ich das Geschäft meines Tabakhändlers/Zeitungsverkäufers betrat und der mir, als ich so unbeteiligt und sachlich-kalt, wie es meine Art ist, Zigaretten orderte, aufgeregt erzählte, daß die USA mit Flugzeugen angegriffen wurden. Ich fragte ihn halb witzelnd, ob Kuba oder Putin-Rußland den USA nun den Krieg erklärt haben, doch der Händler hatte keinen Sinn für dergleichen und sagte: Nein, die USA wurde mit Passagierflugzeugen attackiert. Ich wußte nicht genau, was er damit meinte, sagte „Aha!“ und ging des Weges nach Hause in meinen gemütlichen bürgerlichen Altbau. Sein Gerede erschien mir wirr und undeutlich. Bereits vordem und zuweilen äußerte der Händler sich eigenwillig. In jenem Refugium angekommen, schaltete ich – entgegen meiner Gewohnheit – bereits am späten Nachmittag den Fernseher an. Dann habe ich gesehen, was der Zigarettenhändler meinte und zündete mir eine seiner Zigaretten, die nun die meinen waren, an, griff zum Telephon.
Worauf ich hinaus will: Gesehen. Fast alle saßen oder standen vor den Fernsehgeräten. Deutschlandradio oder andere Radiosender hörte kaum einer. Es war nicht nur eine Macht, sondern auch ein Reiz der Bilder, welcher verschiedene Modi der Rezeption aktivierte, was sich am sinnfälligsten womöglich in dem umstrittenen Ausspruch des Komponisten Stockhausen manifestierte: „Also was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat …“ (zitiert nach Wikipedia). Im richtigen Zusammenhang besitzt dieser Satz, bei allem Zynismus und Pseudoästhetizismus, der auch darin stecken mag, seine Wahrheit.
Man kann sich den allseits bekannten Bildern von 9/11 und denen, welche dem Umkreis von 9/11 entstammen, auf vielfältige Weise nähern, so wie diese Bilder auf die vielfältigste Weise Reaktionen hervorriefen und immer noch hervorrufen: Von Abscheu, der gepaart war mit einer Faszination – denn warum sonst gäbe es dieses Bild der zwei Türme, in die Flugzeuge einbrechen und die dann einstürzen, die aufsteigenden, sich über New York legende Staubwolke, in dieser unendlichen Schleife der Wiederholung bis hin zur extremen Zeitlupe, wie da das Flugzeug, langsam und langsam, Sequenz für Sequenz in den ersten Turm steuert, wie innerhalb der Sekunden ein Feuerball durch die Fenster sich frist, schleichend, in Bildpunkten, die rot herausspringen? Und weshalb schalteten nur wenige die Apparate nach der dritten Wiederholung aus? Der Hinweis auf Kants Erhabenes scheint mir bei diesen Bildern des Einschlags nicht ganz verfehlt zu sein. Die Zeitlupe des Vorlaufes bannt den Moment, als wollte sie ungeschehen machen. An dieses „Urbild“, das ein Doppelbild war, dockten zahlreiche weiter Bilder an. Von den Kampfbildern aus Afghanistan, dem schnellen Sieg über die Taliban, über das Bild der gestürzten Statue von Saddam Husseins, über jene „Mission Accomplished“, der gehängte Saddam Hussein und den Photographien und Fernsehbildern aus dem US-Folterlager Guantanamo, bis hin zu den Bildern aus dem Abu-Ghraib-Gefängnis, die ikonographisch noch einmal einen gesonderten Status einnehmen, über den zu sprechen sein wird. Eine Photographie jedoch, die in diesen Kreis der Bilder unbedingt hineingehörte und in der klassischen Erzählweise und wie in fast jedem konventionellen Film eigentlich den Abschluß, die Klimax böte, fehlt, ist abwesend: die Photographie des getöteten, erschossenen, gerichteten, hingerichteten (wie immer man es nennen mag) Osama Bin Laden. Überbordende Strukturen lassen sich gut in Bildern handhaben und eingrenzen. Hier aber bleibt eine Leerstelle, eine Kluft.
Das „Urbild“ dieses Geschehens an 9/11, diese Ikone des 21. Jahrhunderts, war ein Doppelbild in mehrfachem Sinne: es waren zwei Türme, es rasten in diese Türme zwei Flugzeuge, wir haben es (mindestens) zweimal gesehen: diesen Einschlag, den Tod von Tausenden. Sicherlich handelt es sich auf dieser Ebene des Faktischen um kein Kunstwerk. Aber die gesamte Choreographie, das Geschehen trägt Züge, die einen Blick erfordern, der Ästhetik, Philosophie samt der Phänomenologie, Soziologie und Psychologie sowie die Politik zusammenschließt.
Ich schreibe keinen explizit politischen oder moralisch-ethischen Diskurs über die Folgen, die Implikationen, die Wahrheit des 11. September, die Unschärfen, die Fragen, welche bleiben. Allenfalls werden diese Aspekte implizit mitschwingen. Vielmehr ist dieser Text eine ästhetische Annäherung, einerseits, und es ist eine Art von philosophischer (Buch)-Kritik, andererseits. Es läuft – gleichsam als Film – das Ende August auf Deutsch erschienene Buch „Das Klonen des Terrors. Der Krieg der Bilder seit 9/11“ des US-amerikanischen Kunsthistorikers William John Thomas Mitchell in diesem Beitrag mit. Es wird sicherlich Leserinnen und Leser geben, die diese Sicht mitleidlos oder apolitisch, gar antipolitisch nennen. Mag sein. Theorie denkt aber nicht dessen, was ist und nicht sein sollte, ein, indem sie Bekenntnisse und Losungen an die Wand sprüht, sondern indem sie denkt und in diesem Denken analysiert. Wir sehen, und es ist die Frage, was wir sehen und wie wir sehen.
Diesen Bildern vom 11. September sowie den Folgebildern, die daran anknüpfen (etwa die von Abu Ghraib, welche ich für ebenso gewichtig halte) sich zu nähern, funktioniert nur bedingt über die Systeme der Psychologie, der Politik, der Sozialwissenschaften. Wesentlicher trägt hier die Bildwissenschaft ihren Teil dazu bei – jene Wissenschaft, die sich zusammensetzt aus der Kunsttheorie, Kunstgeschichte, aus Medienwissenschaft, Soziologie, Ethnologie, Psychologie, Philosophie. Ursprünglich sich aus der Ikonographie und der Ikonologie Aby Warburgs und Erwin Panofskys entwickelnd, befaßt sie sich mit allen Arten von Bildern (selbst den banalen) sowie ihren kulturellen Codierungen und Interpretationsmustern. Für Deutschland seien in der Forschung stellvertretend die Namen der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, Hans Belting (Bildanthropologie) sowie Gottfried Boehm genannt, welcher die Wendung des Iconic Turns prägte; für Frankreich lese man Georges Didi-Huberman.
Hintergrund für eine solche Bildwissenschaft ist zudem jene, für meinen Geschmack etwas unglückliche Wendung vom Pictorial Turn, die Mitchell prägte. Es orientiert sich dieser Begriff an jenem Buch „Linguistic Turn“, welches Richard Rorty 1967 herausgab – eine Wendung, die als Terminus technicus einschlug. Philosophisch gesehen ist jene Rede vom Pictorial Turn sicherlich ein wenig zu hoch gehängt, aber als Teilaspekt innerhalb einer philosophisch-ästhetischen Betrachtung besitzt er einiges Recht. Man sollte ihn freilich nicht verabsolutieren.Und dazu neigt sich solches Vorgehen leider häufig: aus dem Körnchen Wahrheit wird eine große Blase gefertigt.
Als wesentliche Momente des pictorial turns werden von Mitchell die Erfindung der Zentralperspektive und die der Photographie genommen. Bilder gab es vor Erfindung der Photographie nur als gemalte, gezeichnete oder radierte. Mit dem Übergang vom analogen zum digitalen Bild in den 90er Jahren setzte noch einmal eine gesteigerte Stufe ein. Mit diesem pictorial turn gehen dann Felder wie visual culture und visual studies einher. Richtig ist, daß das Bild in der Moderne des 20. Jahrhunderts einen ganz anderen Stellenwert erhalten hat als vordem. Dazu trug im wesentlichen die Verbreitung von Photographien (seit dem 19. Jhd.) und das Fernsehen als Fortschreibungsmedium des Kinos bei, welches als neue Qualität einen Wandel ums Ganze einbrachte. Die Bilder werden auf eine Weise lebendig und erhalten – metaphorisch gesprochen – ein eigenes Leben und erlangen damit eine besondere Macht, die es in den Blick zu nehmen gilt. Innerhalb der Spätmoderne eröffnete sich noch einmal ein qualitativer Sprung ums ganze. Bilder jeder Art (und überhaupt Nachrichten) verbreiten sich mittlerweile mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit durch die Welt, gelangen über die Datenleitungen in Sekundenschnelle von A nach B.
Daß es hinter diesen Bildern kein gesellschaftliches Leben mehr gibt und diese Welt des sogenannten Realen (hier nicht im Lacanschen Sinne genommen, denn da bedeutet es das Gegenteil) eine Simulation ist, so daß Reales als Weise des Seins nicht mehr existiert, so weit ginge Mitchell sicherlich nicht. Aber das, was sich gesellschaftliches Sein nennt, ist geprägt durch einen Kanon von Bildern und Metaphern und wird genau dadurch überformt und in der Interpretation strukturiert. Es existiert kein unverstellter Zugang, immer ist, um es in anderen Worten zu formulieren, die Ideologie abzutragen.
Diese Durchdringung und diese Ubiquität von Bildern motiviert eine neue Form von Wissen und damit Wissenschaft, die diese Aspekte in einem Kontext sistiert. Diese Arbeit leistet die Bildwissenschaft. Wir können, wie Mitchell in seinem Buch „Das Leben der Bilder“ schreibt, diese Bilder nicht hinter uns lassen, um dann eine authentische Beziehung zum Sein, zum Realen, zur Welt zu entwickeln (Das Leben der Bilder, S. 12). Insofern geht es darum, solche Bilder und Metaphern in die Reflexion zu nehmen.
Wenn man diese Türme des World Trade Center als Urbild und als Ikone begreift – Ikone etwa der Wirtschaftsmacht – so stellt der Angriff auf die Twin Towers einen klassischen Akt des Bildersturmes dar, wie wir ihn aus dem Byzantinischen Bilderstreit oder vom reformatorische Bildersturm her kennen. Damit einher geht ebenfalls das Bilderverbot („Du sollst Dir kein Bildnis machen …“) der drei monotheistischen Religionen, die Europa prägten und prägen. Wie die Taliban die Buddha-Statuen von Bamiyan im März 2001 medienwirksam – also unter dem Einsatz von Bildern – zerstören, da es sich für sie um bloßes Götzenwerk handelte, so waren auch das World Trade Center, das Pentagon und eines der Regierungsgebäude in Washington Götzen: verbotene Bilder, um die herumgetanzt wurde, wie ums goldene Kalb. Wer auch immer diese Inszenierung, den Krieg der Bilder, den Bildersturm und die Dramaturgie startete, die Regie führte, er führte sie gut und erzeugte mit der Zerstörung des Götzen eine bedeutsame Gegenikone, die allerdings, und dies ist ihr interessanter Status, in beide Richtungen hin brauchbar zu machen ist, in zwei Richtungen funktioniert. Der Einschlag und der Einsturz lösten ja beides aus: Entsetzen und Jubel zugleich. Der Sinn dieser Taten liegt in der Produktion von Worten und Bildern, in der Erzeugung von symbolischen Formen der Gewalt und weniger in der unmittelbar physischen Gewalt. (Mitchell, Das Klonen und der Terror, S. 101. Seitenangaben im laufenden Text, die nicht anders gekennzeichnet sind, beziehen sich auf dieses Buch.)
„Strategische Formen von Gewalt wie Krieg oder Polizeiaktionen spielen in ihrem Repertoire keine herausragende Rolle. Die wichtigste Waffe des Terrors ist das gewalttätige Spektakel, das Bild der Zerstörung oder die Zerstörung eines Bildes oder beides, wie beim eindrucksvollsten Spektakel dieser Art, der Zerstörung des World Trade Center, bei der die Vernichtung einer weltweit erkennbaren Ikone ganz bewußt ihrerseits als Ikone eigener Art inszeniert wurde. Die mit dem Bild vernichteten Menschen sind Kollateralschäden.“ (S. 101 f.)
Diese Sätze mögen zunächst zynisch klingen, es erweist sich dies aber als die Quintessenz dieser Anschläge. Die Flugzeuge wurden nicht in irgendein Gebäude einer beliebigen US-Amerikanischen oder europäischen Stadt gelenkt, um möglichst viele Menschen zu töten, sondern zielten auf die drei zentralen Systeme der USA (und damit des westlich-kapitalistischen Systems) ab: Wirtschaft, Militär, Politik. Die Dramaturgie, der Ablauf war perfekt organisiert. Erst der Flug in das eine Gebäude, in der Gewißheit, daß sämtliche Kameras der Fernsehstationen nun auf die Twin Towers gerichtet sind, um nach diesem werbenden ersten Akt, den zweiten einzuleiten: nun unter den Augen der ganzen Welt. Bevor ich im zweiten Teil zum Buch von Mitchell selbst komme und in die Details einsteige, einige subjektive Wendungen:
Meine persönliche Mutmaßung zu 9/11: Es wurde innerhalb der Regierung der USA gewußt, daß sich etwas ereignen wird, ob man auch genau wußte, was sich exakt ereignen würde, ist schwierig zu beurteilen. Das Grundrauschen vor den Anschlägen in den digitalen Netzen nahm merkliche Ausmaße an und war deutlich zu vernehmen, wenn man es wollte. Geheimdienste (auch in der BRD, dort u.a. die Landesämter für Verfassungsschutz) tickten auf Hochtouren. Es wurde in den USA abgewartet, um zu sehen, was sich ereignen wird. Einige Monate nach der „Wahl“ Bushs dachte ich: merkwürdig ruhig geht es in den USA zu. Sollte ich mich in diesem Mann getäuscht haben? Die Ruhe trog. Man ließ diese Aktion sehenden Auges zu, um reagieren zu können – die Pläne für den Nahen und Mittleren Osten lagen bereits in den Schubladen. Von den Neocons gut ausgearbeitet, denn die wußten schon vorher, wer die Wahl 1999 gewinnen wird. Das, was sich an 9/11 ereignete, hätte für diese Planer besser nicht sich abspielen können. Vor den Augen aller Welt. Bilder besaßen immer schon eine ungeheure Macht, und es gibt diese Urangst, daß ein Bild lebendig wird. Die Zwillingskonstellation des Dorian Grey ist bekannt, auch die Figur des Golem. An 9/11 haben die Bilder sich verselbständigten, gerieten zum Leben, und es wurden alle Register gezogen, die man in das Lexikon der Politischen Ikonographie eintragen kann.
Bilder dienen der psychologischen Kriegsführung, „um das kollektive Nervensystem über die Massenmedien zu traumatisieren und die Phantasie gegen sich selbst zu wenden.“ (S. 120). Terrorwarnungen werden hoch und wieder heruntergefahren. Der Mann, welcher neben einem in der Metro sitzt, ist prinzipiell verdächtig, wenn er dieses Quäntchen des Anderen an sich trägt. Bilder erzeugen die Urängste, greifen in die symbolische Ordnung ein, und es verhält sich dabei wie in jener Radierung aus Goyas „Caprichos“: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Aber Bilder können, wie Goya es zeigt, genauso die Gegenkraft abgeben.
Diese Dramaturgie an 9/11 übertraf alles, was die Macher je sich hätten erträumen können.
Was bleibt, ist der Opfer in diesem unerklärten Krieg, der im klassischen Sinne der Politikwissenschaften keiner ist, einzugedenken: sei es in den USA, in Afghanistan, im Irak, in Pakistan. An zahlreichen Orten. Aber es reicht der Gedenkkitsch nicht hin. Bilder strukturieren das Denken und erzeugen Formen von Gewissen. Diese Mechanismen der Erzeugung nimmt die Philosophie in die Kritik.
Am 11. September 1973 wurde der demokratisch gewählte Präsident Salvador Allende durch die Armeejunta unter Führung des Generals August Pinochet aus dem Amt geputscht, unter anderem mithilfe der USA, maßgeblich durch die CIA und den Kriegsverbrecher Henry Kissinger. Wenig später zogen in das Land die Chicago Boys um Milton Friedman herum ins Land ein, damit Chile nach ihren theoretischen Bedürfnissen gestaltet werde. It‘s not a trick. It‘s capitalism. Als das „Wunder von Chile“ bezeichnete Friedman diese (neo-)liberal strukturierte Tötung von Menschen, welche freilich als Wohlstandsmehrung sich gut verkaufen ließ.
In der Nähe des World Trade Centers, das heute als Ground Zero existiert, was auf der Ebene der Metaphern ein beeindruckendes Bild auch in bezug auf den Kapitalismus liefert, „befand sich im 18. Jahrhundert einer der ersten Friedhöfe für Afro-Amerikaner. Durch Zufall stießen Bauarbeiter hier 1991 auf Skelette, doch die Bauverwaltung wollte weiter bauen. Schließlich wurde nur ein Bruchteil des Friedhofs ausgegraben und eine Gedenkstätte errichtet. Der Rest sind Regierungsgebäude, erbaut auf Sklaven-Gräbern.“ So berichtet der Schriftsteller Teju Coles in der Sendung vom 8.9.11 bei „Kulturzeit“. Über den postkolonialen Umgang mit den Orten der Erinnerung schreibt er in seinem Debüt-Roman „Open City“. Zentrales Moment der Bildwissenschaft ist die Unsichtbarkeit, das, was als Verdrängtes hinter den Bildern steht, womit wir am Ende sehr viel dichter an einer Freudschen oder Lacanschen Psychoanalyse uns befinden.
Es kann kein Leid und kein Ereignis gegen das andere ausgespielt werden. Die rund 3000 Toten, die dieser Tag am 11. September 2001 forderte und die von denen, welche diese Anschläge, planten, durchführten, in Kauf genommen wurden, haben keinen höheren, aber auch keinen niedrigeren Wert als die anderen Toten, die im Namen der verschiedenen (idiotischen) Religionen, des Faschismus, des Kapitalismus, des Stalinismus, des Maoismus et al. fabriziert wurden, und es kommt hier nicht auf quantitative Aufrechnungen an. Worum es aber geht, ist, in den Blick zu bekommen, daß es willkommene, d. h. staatlich geförderte und unwillkommene Erinnerung gibt, die kultiviert werden oder eben nicht.
Erinnerungskultur funktioniert über Bilder und über den Ausschluß von Bildern, indem man bestimmte Bilder annulliert und gar nicht erst zu Ikonen geraten läßt. Dies impliziert den Begriff der Macht. Am Ende hin gilt, wenn auch nicht normativ, aber so doch faktisch der eigenwillige Satz des Goggelmoggel aus „Alice hinter den Spiegeln“:
„‚Wenn ich ein Wort gebrauche‘, sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, ‚dann heißt es genau, was ich für richtig halte – nicht mehr und nicht weniger.‘ ‚Es fragt sich nur‘, sagte Alice, ‚ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.‘ ‚Es fragt sich nur‘, antwortete Goggelmoggel, ‚wer der Stärkere ist, weiter nichts.‘“
Im zweiten Teil geht es dann in die Bilder und in die Lektüre von Mitchells Buch hinein.
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W.J.T. Mitchell, Das Klonen und der Terror. Der Krieg der Bilder seit 9/11, Berlin 2011. (Suhrkamp Verlag)
Weiterhin: W.J.T. Mitchell, Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008 (Beck Verlag)