„Das Leben sei eine Maskerade, erklärst Du, und das ist Dir ein unerschöpflicher Stoff zum Vergnügen, und noch ist es niemandem gelungen, Dich zu erkennen; denn jede Offenbarung ist immer eine Täuschung, so nur kannst Du atmen und verhindern, daß die Leute auf Dich eindringen und die Respiration beeinträchtigen. Darin hast Du Deine Tätigkeit, Dein Versteck, zu bewahren, und das gelingt Dir, denn Deine Maskerade ist die rätselhafteste von allen; Du bist nämlich nichts und bist immer nur im Verhältnis zu andern, und was Du bist, bist Du nur durch dies Verhältnis. Einer zärtlichen Hirtin reichst Du schmachtend die Hand und bist im selben Augenblick in aller möglichen Schäfersentimentalität maskiert; einen ehrwürdigen geistlichen Vater betrügst Du mit einem Bruderkuß usw. Du selbst bist nichts, eine rätselhafte Gestalt, auf deren Stirn geschrieben steht: entweder – oder; …“ (S. Kierkegaard, Entweder-Oder, S. 706 f., München 1988)
So schreibt der Ethiker B. an den Ästhetiker A. – einseitig geführte Korrespondenzen. Eine kunstvoll gefügte Geschichte, die sich als Literatur lesen läßt und zugleich Philosophie ist; ein Buch, welches vielfältig fiktionalisiert, perspektivisch verfährt. Ein Buch, indem es fast wimmelt von Personen, die jeweils die Schriften eines anderen herausgeben oder auffinden, um sie der Lektüre zugänglich zu machen. Das mündet zum Ende des ersten (ästhetischen) Teils in „Das Tagebuch des Verführers“, welches sogar jenen Ästhetiker A., der diese Schriften bzw. Briefe findet und herausgibt, schaudern läßt, ihm gar einen Schritt zu weit geht in dieser kalten, mitleidlosen Unmoral.
„Nicht nur in Komödien, auch in der Wirklichkeit ist es schwierig, ein junges Mädchen abzupassen; man muß seine Augen hinten und vorne haben.“ (S. 463)
Diese Geschichte im „Tagebuch des Verführers“ besitzt eine Dimension, die den Ausdruck des Kafkaesken vorwegnimmt, aber es verweist in manchem genauso auf Hawthornes „Wakefield“ (nebenbei: eine der genialsten und eigentümlichsten Erzählungen in der Literatur). Was geschieht im Tagebuch? Die Handlung ist schnell umrissen: Ein Mann mit dem Namen Johannes, der gezielt eine Frau verführt und die Gefühlen dieser Frau instrumentalisiert, steuert, dorthin biegt, wo er sie haben möchte, dabei detailreich in eigenen, privaten, also nicht öffentlichen Aufzeichnungen darüber berichtet, was sich abspielt, die Regungen und Steigerungen aufzeichnet. Er inszeniert – innerlich unbeteiligt –, daß sich jene Frau in ihn verliebt: raffiniert, intelligent, verführerisch. „Sich in ein Mädchen hineinzudichten, ist eine Kunst, sich aus ihr herauszudichten, ist ein Meisterstück. Doch hängt das letztere wesentlich von dem ersteren ab.“ (S. 429)
Es ist die harte Maskerade des Ästhetikers, dem im Genuß alles gleich gut ist, dem sich im Genuß die Dinge verzehren. Der Wert der Dinge bemißt sich darin, inwieweit sie Genuß bereiten und dazu dienen, mit Raffinesse die Sinneslust zu steigern. Diesen Ästhetiker nun muß man sich im strengen Sinne des Wortes aber vielmehr als einen Aisthetiker vorstellen. Denn auch das Kunstwerk fungiert dem Aisthetiker einzig als ein Für-ihn-seiendes, es dient dem Verzehr, die Intention aufs Objekt ist um des Subjekts und seiner Steigerung willen. Der Überschuß und der Exzeß sind solipsistisch erkauft, die Ökonomie der Verausgabung in der Verführung dient dem Erhalt und der aisthetischen Steigerung des Selbst. In diesem Don Juanschen Sinne ist der aisthetischen Ästhetiker präreflexiv, sein Umgang mit Kunst ist kulinarischer Natur, anders als der Faustische Ästhetiker, der den Augenblick mit der Reflexion zu paaren weiß. Beim Verführer Johannes ist es eine Zwischenstellung: Sowohl Selbstgenuß im höchsten und im perfiden Sinne, gepaart mit der Reflexion darüber, die sich aber an der eigenen Reflexionslust derart selbstreferenziell ergeht, daß auch jene Reflexion lediglich dazu dient diese unendliche Lustmaschinerie im Gang zu halten.
Eine Frau mit Namen Cordelia wird Schritt für Schritt und mit Überlegung verführt, liebeshörig gemacht. Am Ende diese Genusses, der – wie ein jeder – endlich ist, bleibt der Überdruß an dieser Frau zurück. Sie wird fallen gelassen. Aber damit nicht genug: „Es wäre doch wirklich wissenswert, ob man etwa nicht imstande wäre, sich derart aus einem Mädchen herauszudichten, daß man sie so stolz machte, daß sie sich einbildete, sie selbst sei des Verhältnisses überdrüssig. Das könnte ein recht interessantes Nachspiel geben, das an sich psychologisches Interesse hätte und nebenbei einen mit manchen erotischen Beobachtungen bereichern könnte.“ (S. 521)
Es geht in dieser Weise der Reflexion nicht mehr um den/die Andere(n) in irgend einer Form, nicht einmal ex negative im Willen zur Qual (etwa bei de Sade) oder als Anlaß einer Wette, wie in de Laclos Briefroman „Les Liaisons dangereuses“, sondern die reine Selbstmächtigkeit samt der unbändigen Freude an einer ästhetisch-raffinierten Selbstpraktik gibt das Kriterium des Handelns ab. Die Operationen des Verführers sind die vollkommene Onanie.
An jenes Tagebuch aus dem ästhetischen Teil schließen sich im zweiten Teil die Passagen des Ethikers B an.
Aus vielfältigen Textstücken sind die Papiere von A. zusammengesetzt, und sie sind unsortiert, bedürfen der Ordnung durch einen Herausgeber. Die Texte des Ethikers sind übersichtlich, leicht zugänglich, da es sich um geordnete Briefe an A. handelt. Sie sind teils moralisierenden Charakters, schon vom Titel, so überschrieb B. einen Brief mit dem Titel „Die ästhetische Gültigkeit der Ehe“ oder über „Das Gleichgewicht zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen in der Herausarbeitung der Persönlichkeit“
„Was Du gern hast, ist die erste Verliebtheit. Du verstehst es, Dich in eine träumende, liebestrunkene clairvoyance zu versenken und in ihr zu verbergen. Du umspinnst Dich gleichsam ganz und gar mit dem feinsten Spinngewebe, und nun sitzt Du auf der Lauer. Aber Du bist kein Kind, kein erwachendes Bewußtsein, und Dein Blick hat deshalb etwas anderes zu bedeuten; doch damit bist Du zufrieden. Du liebst das Zufällige. Das Lächeln eines hübschen Mädchens in einer interessanten Situation, ein erhaschter Blick, dem jagst Du nach, das ist ein Motiv für Deine müßige Phantasie. Du, der Du immer so groß damit tust, ein Beobachter zu sein, Du mußt Dir gefallen lassen, daß Du zum Entgelt selbst Gegenstand der Beobachtung wirst.“ (S. 528)
Eine mediale Situation, die sich im Fortgang steigert, gar filmisch, photographisch gerät, ein neues optisches Medium, das in dieser Situation nicht nur zufällig zitiert wird. Ein Szenerie der Blicke, eine Achse. Solche Situationen sind nur in der Großstadt möglich: sei es Paris, sei es Kopenhagen; anschließend an das obige Zitat heißt es:
„Ich will Dich an einen Fall erinnern. Ein junges hübsches Mädchen, neben dem zu zufällig [denn dies muß natürlich hervorgehoben werden, Du kanntest weder ihren Stand, noch ihren Namen, ihr Alter usw.] bei Tische saßest, war zu spröde, um Dir einen Blick zu schenken. Einen Augenblick lang warst Du unschlüssig, ob es bloße Sprödigkeit sei, oder ob es sich nicht ein wenig Verlegenheit darein mische, die, richtig beleuchtet, sie in einer interessanteren Situation erscheinen zu lassen. Sie saß einem Spiegel gegenüber, in dem Du sie sehen konntest. Sie warf einen verschämten Blick hinüber, ohne zu ahnen, daß Deine Auge dort schon Wohnung genommen hatte, sie errötete, als Dein Auge dem ihren begegnete. Dergleichen bewahrst Du genau auf wie ein Daguerreotype und auch so schnell wie dieses, für das man bekanntlich sogar bei schlechtem Wetter nur eine halbe Minute benötigt.“ (S. 528)
„Entweder – Oder“ mag auch für den philosophisch kaum Gebildeten in der Lektüre Faszination ausüben. Es ist ein Zwischenwerk, der Text lebt wesentlich vom Stil, von seinen Sprachfiguren; von seinem Gehalt her ist es keine hineingepreßte Thesenprosa oder Thesenphilosophie, die sich literarisch maskiert. Diesen Text aber rein als Literatur zu rezipieren, führt am Gehalt vorbei. Adorno schreibt, als Auftakt, in seiner Habilitationsschrift über Kierkegaard:
„Wann immer man die Schriften von Philosophen als Dichtungen zu begreifen trachtete, hat man ihren Wahrheitsgehalt verfehlt. Das Formgesetz der Philosophie fordert die Interpretation des Wirklichen im stimmigen Zusammenhang der Begriffe. Weder die Kundgabe der Subjektivität des Denkenden noch die pure Geschlossenheit des Gebildes in sich selber entscheiden über dessen Charakter als Philosophie, sondern erst: ob Wirkliches in die Begriffe einging, in ihnen sich ausweist und sie einsichtig begründet. Dem widerspricht die Auffassung von Philosophie als Dichtung. Indem sie Philosophie der Verbindlichkeit nach dem Maße von Wirklichem entwindet, entzieht sie das philosophische Werk der adäquaten Kritik. Nur aber in Kommunikation mit dem kritischen Geiste vermöchte es geschichtlich sich zu erproben. Daß gleichwohl fast allen im eigentlichen Verstande »subjektiven« Denkern beschieden war, als Dichter eingereiht zu werden, erklärt sich mit der Gleichsetzung von Philosophie und Wissenschaft, die das neunzehnte Jahrhundert vollzog. Was an Philosophie dem Wissenschaftsideal sich nicht einordnete, ward unterm Titel der Dichtung als kümmerlicher Anhang nachgeschleift. Von wissenschaftlicher Philosophie ward gefordert, daß ihre Begriffe sich konstituierten als Merkmaleinheiten der darunter befaßten Gegenstände. Wenn aber die Kantische Konzeption der Philosophie als Wissenschaft von Hegel erstmals umfassend formuliert worden ist im Satz, ‚daß die Erhebung der Philosophie zur Wissenschaft an der Zeit ist‘, so fällt gleichwohl seine Forderung nach wissenschaftlicher Begrifflichkeit nicht zusammen mit der nach eindeutiger Gegebenheit der Begriffe als der von Merkmaleinheiten. Die dialektische Methode, der in aller Hegel-Feindschaft Kierkegaards Werk gänzlich zugehört, hat vielmehr ihr Wesen darin, daß die Klärung der Einzelbegriffe, als deren vollständige Definition, erst von der Totalität des ausgeführten Systems aus und nicht in der Analysis des isolierten Einzelbegriffes geleistet werden kann. In der Vorrede zur ‚Phänomenologie‘, die das herausstellt, hat Hegel ausdrücklich des Scheines von Dichterischem gedacht, der jeglichem philosophischen Beginn anhaftet. (Th. W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, S. 9 f. in: GS Bd. 2)