Über Pop-Musik – mit einem Abschweif zum Echo

Jugendkultur samt Pop sind ein ganz  spezielles Ding. Mit der herkömmlichen Moralisierung und der Kritik der Lage, was geht und was nicht geht, kommt man bei ihren Ausdrucksformen nur bedingt weiter. (Ähnliches gilt übrigens auch für die Satire: Früher, in den 1980ern hat die Titanic sehr viel derbere Dinge sich geleistet als heute die eher harmlos-frivole Sonneborn-Rede in Brüssel, wo er sich über die Frau von Marcon belustigte und dem Grafen Lambsdorff einen Fallschirmeinsatz über Syrien anriet. Was ja nicht einmal verkehrt ist, denn wer, nach dem Motto „Hannemann, geh du voran!“ vom Krieg trötet, sollte mit gutem Beispiel Schule machen und selber hingehen, aber nicht andere hinschicken. Manche ereiferten sich über diese doch eher humorvolle Rede, die übrigens vor vielleicht einmal 10 Abgeordneten, stattfand, was ich, nebenbei, skandalöser finde als Sonneborns Rede. Aber das mag Ansichtssache sein. Ja, auch so eine Provokation. Bei den alten Titanic-Beiträgen würde heute mancher vermutlich in Ohnmacht fallen, insbesondere ehemalige Titanicjakobiner wie Leo Fischer.)

Provokant ist mittlerweile vieles und in einer Gesellschaft der Animositäten sind die Gemüter gegenwärtig gereizter als je zuvor. Beim Pop hingegen ist die Provo-Pose endemisch und gehört dazu, es ist eines der Prinzipien von Pop-Musik: um bei den 1950ern anzufangen, von Chuck Berry über Elvis the Pelvis, hin zu Doors, The Stooges, kulminierend im Punk und andernorts in Rap und Hip-Hop. Ich schreibe das nicht wertend, sondern als Beschreibung eines Phänomens der Jugendkultur. Das man sicherlich in vielfacher Hinsicht, auch mit Adornos Hinweis zur Kulturindustrie, kritisieren kann. Pop-Musik ist nur bedingt subversiv. Die kalkuliert eingesetzte Provokation wird in der Regel sehr schnell vom Warensystem absorbiert.

Wir haben uns damals in den frühen und mittleren 80er mit den wildesten Dingen geschmückt: vom Tampon bis hin zu NS-Parteiabzeichen für Kraft durch Freude. Die Erregung gab es auch damals schon. Aber wie sonst konnte man seine linksliberalen Lehrer, die von 68 her den Marsch durch die Institutionen wirkungsvoll angetreten und nun im gut bezahlten, verbeamteten Establishment angekommen sind, denn noch provozieren als mit solchen Symbolen? Die klügeren der Lehrer lächelten und verstanden solche Gesten, denn sie wußten noch um den Geist der Opposition, und ob jemand echter Nazi war oder nicht, erkannte man recht schnell. Im Gegensatz jedoch zu posierenden Rappern wie Kollegah, Farid Bang oder Bushido war es bei uns keine auf Profit kalkulierte Show, um die eigene Community bei der Stange zu halten. Ebensowenig bei den „Sex Pistols“, wenn sie  „Belsen was a gas“ sangen:

„Belsen was a gas I heard the other day
In the open graves where the jews all lay
Life is fun and I wish you were here
They wrote on postcards to those held dear“

Womit wir beim Echo-Musikpreis sind. Lustiger Nebenfakt: der Musikjournalist Jens Balzer, der einmal ein guter und böse-witziger Schreiber war, inzwischen aber immer häufiger reichlich verschnarchtes Moralin verschreibt, saß mit in der Echo-Jury. Die politisch-korrekte Erregung fiel ihm erst hinterher ein, als sich dann andere erregten. Protest, der nichts kostet, denn in einer Jury wäre es deutlich wirkungsvoller gewesen, seinen Unwillen kundzutun. Und statt in einem „Zeit“-Interview mit Sven Regener zu plaudern und gleiche Ansichten sich gegenseitig zu bestätigen, hätte Jens Balzer gut getan, investigativ über die Interna in einer Pop-Jury zu schreiben. Aber Protest ist immer nur dann gut und bequem zu haben, sofern er nichts kostet. Nett vom sicheren Sessel aus. Nicht anders als im Falle Weinsteins, wo seit Jahrzehnten arrivierte Schauspielerinnen erst dann ihren Mund aufbekommen, wenn der Wind sich dreht und es opportun ist.

Insofern wäre beim neuen Echo-Skandal die Frage viel interessanter, warum überhaupt und aus was für Motiven soetwas wie von Kollegah oder Farid Bang in dieser Weise gesungen oder in Bildern kommuniziert wird. Wenn man denn schon analysiert. Ich fürchte mit dem moralischen und fuchtelnden Zeigefinger kommt man da nicht viel weiter. Wir haben über genau diese Leute damals zu den Punk-Zeiten Anfang, Mitte der 80er herzlich gelacht und wußten: Wirkung erreicht, sofern die Aufregung sich einstellte. Eigentlich müßte man im Sinne einer paradoxen Intervention auf diese Zeilen der beiden Rapper reagieren. Das könnte vielleicht effektiver sein. Dieser Echo-Diskurs, im wahrsten Sinne des Wortes, hat freilich nur zur Verstärkung dieser Angelegenheit geführt. Hätte man die Sache einfach auslaufen lassen, wäre das morgen bereits vergessen. Was allemal besser wäre.

Ja, auch ich denke, es gibt Grenzen der Inszenierung und dieser Satz zum Auschwitzinsassen ist nicht nur bloß genzdebil. Aber: Man muß solche provokanten Sätze und Gesten vor dem Hintergrund dieser Musik nehmen. Klar kann man diesen sogenannten Gangsterrap arrivierter Kleinbürger soziologisch und politisch kritisieren. Das tat man bereits in den 1990er Jahren, wenn es z.B. um den Sexismus ging, wenn da auf MTV die wackelnden Weiberärsche, die prallen Brüste und die Bling-Bling-Goldketten samt fetten Autos zu sehen waren, mit denen sich die männlichen Helden umgaben. Aber diese Attribute sind zugleich auch Zeichen des Pop und das sagt etwas Gesellschaftliches. Diese Ketten, die trainierten Oberarme, die Autos, Ärsche und Titten stehen für etwas, sie symbolisieren. Das ist der eine – gesellschaftliche – Aspekt. Der zweite hängt mit dem Verkauf solcher Zeichen zusammen, um Gewinn zu generieren. Das Wort Musikindustrie trifft es da ganz gut. Was sich als vermeintliche Subversion aus dem Ghetto gibt, ist lange schon von der Industrie eingekauft, teils auch vom Reißbrett designt, um des Effektes willen, und die Bands wissen das und affirmieren das auch: denn es ist der Fetisch Geld, um den der ganze Tanz sich dreht. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden in der Tat zum Tanzen gebracht: aus dem Geist der Pop-Musik heraus spielt man ihnen ihre eigene Melodie vor. Aber es ist die der narkotisierenden Wiederholung, die sich als Emotion geriert. Ähnliches gilt auch für die sich politisch gebende Pop-Musik. No One Here Gets Out Alive!

Doch ist das, was solche wie Farid Bang oder Kollegah machen, nur die Spitze des Eisberges, denn viel interessanter ist das, was auf der Straße abgeht, in der tatsächlichen Szene, die eigentlich nur noch den Spezialisten, den hartgesottenen Fans bekannt ist. Nicht anders als bei jeder anderen Jugendkulturen auch, etwa beim Punk. Damals Anfang der 80er gehörten mit ZK und dann schon etwas populärer mit der Opelgang-Platte solche wie die Toten Hosen dazu. Irgendwann dann sind sie oben angekommen und der Protest wurde zur Pose und zur Posse. Von Text und Musik her unterscheiden sich die Toten Hosen in nichts von Frei.Wild – zumindest wenn man es formal nimmt.

Aber genauso gibt es heute noch kleine, so gut wie unbekannte Bands, die aus dem Geist der Rebellion oder einfach aus Freude an Musik und einer Subkultur ihre Sache machen. Von wenigen gehört nur, die Sache spielt sich auf lokaler Ebene ab. Von solchen subtilen, aber auch von den arrivierten Szenarien der populären Musik, die uns als Ausdruck von Jugendkultur spätestens nach dem Ende des zweiten Weltkriegs begleitet, schreibt Diedrich Diederichsen in seinem lesenswerten Buch „Über Pop-Musik“. Auf eine kluge und dialektische Weise vertieft er sich in diese Phänomene. Ich rate unbedingt zu Diederichsens Buch. Nach der Lektüre sieht man manches vielleicht unter einer anderen Optik. Und es sichtet dieses Buch, obwohl Diederichsen ein Freund des der populären Musik ist, durchaus kritisch dieses Phänomen Pop. Adornos Ausführungen zur Kulturindustrie werden einerseits ernst genommen und nicht in der üblichen undialektischen und simplen Art als Kulturpessimismus der alten Onkels denunziert, aber doch erkennt Diederichsen auch den ästhetischen Eigenwert von Pop an: Von dem rebellischen Geist bis hin zum Ausdrucksmedium einer Jugend, die viel Zeit hat, sich mit sich selbst und mit der Welt zu beschäftigen. Was nicht selbstverständlich ist, zum ersten Mal eigentlich in der Geschichte der Menschheit.

Der Geist der Rebellion aus dem Kinderzimmer, wie Diedrichsen schreibt, und eine Industrie, die weiß, daß dieser Geist, in Flaschen gefüllt, sich gut verkauft. Und Jugendliche, die dem entrinnen wollen, indem sie weiter auf ihre Abschottung setzen. Tocotronic widmen diesem Protestregress mit ihrem Roten Album vor zwei Jahren eine ganze Schallplatte.

Provokation also als ein Mittel, um die Ressource Aufmerksamkeit, die den nötigen Abverkauf generiert. In dieser Weise kreist die Spirale. Und darin sind auch solche wie Kollegah, Bushido, Farin Bang zu verorten. Deren Antisemitismus ist nur der Ausdruck eines sowieso in der Gesellschaft gestreuten Vorbehalts gegen Juden. In der arabischen Communitiy insbesondere. Aber eben nicht nur dort. Man sagt, es hätten auch die Deutschen in der Vergangenheit erhebliche Problem mit dem Juden gehabt.

Was den politischen Protest im Pop betrifft, sein gesellschaftliches Moment und das Auslaufen des Pop als Subversionsmodell, da kann man ergänzend noch von Georg Seeßlen das gerade erschienene Buch Is this the End? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung lesen. Hier trifft sich, wie auch bei Diedrichsen, Popkritik mit Kunst- und Gesellschaftskritik. Während jededoch Diedrichsen das System Pop immanent analysiert, streift Seeßlen eher die politische Zone. Aber davon mehr ein andermal.

Comment cʼest – Feuilleton, Pop, Betriebssystem: schreibe FORMAT C:/Q

Nun bin ich seit Wochen kurz davor, mein über 30 Jahre währendes Abonnement der „Zeit“ zu kündigen, um auf die FAZ umzusatteln, was ich eigentlich schon lange hätte tun sollen, aber bisher aus Bequemlichkeit Monat um Monat hinausschob, und dann stoße ich endlich auf eine „Zeit“-Glosse, die zu lesen sich lohnt. Kritik der Kritik, eine Notiz aus dem Betrieb, die das Trallala des pseudosubversiven Popdiskurses beim Namen nennt. Wenn sich Kunstbetrieb, Feuilleton und Journalismus immer mehr nach der Kategorie der Unterhaltsamkeit ausrichten und ansonsten jeden komplexeren Anspruch mühelos zu unterlaufen sich anschicken: Wozu brauchen wir dann eigentlich noch diese Kultur-Seiten, wo all die Kultur-Journalisten fröhlich fabulieren, als schrieben sie für die „Bravo“ oder für die „Brigitte“?

Wenn Teile des Feuilletons unterhalten wollen, wie das Literarische Quartett oder andere Produkte im Kulturbetrieb, dann sollten sie es nach den harten Regeln der Unterhaltungsindustrie machen, so daß es im Resultat dann auch wirklich unterhaltsam ist und daß da nicht ein Mann in einem scheußlichen blauen Anzug sitzt, der wie eine Kopie Jörg Pilawas ausschaut. Schematisiert, konzeptualisiert, kalkuliert und standardisiert die Produkte! Und zwar auf eine Art, daß man auf den ersten Blick dieser Schablonen nicht gewahr wird. (Man mag gegen den alten Reich-Ranicki sagen, was man will, man mag seine Ästhetik als konservativ betrachten, aber als Kritiker gewitzt zu schreiben und zu unterhalten und dabei doch geistreich zu sein in seinem theatralischen Donnern: das vermochte er. Nicht immer zur Freude der Autoren. Aber es gibt eben keine Großkritiker mehr, was einerseits nicht schlecht ist, aber es fehlt im Feuilleton ein bestimmter Ton.)

Alexander Cammann bringt in der Zeit Nr. 49 des Jahres 2015 auf den Punkt, was im Betrieb fehlt. Nein, das ist kein Verfallsgejammere, wie gerne vorgehalten wird. Aber ich möchte im Internet wie auch im klassischen Feuilleton wieder Kritiken, Rezensionen, Berichte, Glossen lesen, die mich begeistern. Von Autoren, die schlauer als der Leser sind und die ihr profundes Wissen gerne teilen, um das der anderen zu erweitern. Die in ihrer Sprache etwas wagen, die mit Esprit schreiben können. Ich möchte nicht das lesen, was ich sowieso weiß, und in launigem Ton über irgendwelche Ereignisse wie Buchmessen, Lesungen, Bücher sich zu ergehen, mache ich abends in geselliger Runde selber. Dazu brauchtʼs keine Zeitung.

„Konsequenterweise kann heutzutage ein Pianist, der Beethovens Diabelli-Variationen eingespielt hat, nicht mehr danach gefragt werden, warum er dieses Stück so und nicht anders interpretiert hat, sondern danach, ob er auch Hip-Hop hört. Niemand käme auf die hingegen auf die Idee, Kendrick Lamar zu fragen, ob er auch den späten Beethoven hört. Während der popkulturelle Diskurs sich heute vorzugsweise im hermetischen Checker-Milieu entfaltet, müht sich jeder Museumsdirektor mit pädagogischem Begleitprogramm um einen niedrigschwelligen Zugang, als müsste er sich für seine Kunst schämen.

Nirgendwo geht es derzeit elitärer zu als ausgerechnet in den Deutungswettkämpfen populärer Kultur, im Ringen um die jeweils aktuell verbindliche Form. Nichteingeweihte haben weniger Zugangschancen als bei Schönbergs Zwölftonmusik: Die ewigen Distinktionsrituale des ‚Was geht/was geht nicht?‘ folgen fein ziselierten Codes zwecks Abgrenzung und Ausschluss, Abweichungen werden geächtet, allerneueste Trends und Tendenzen in einem ausdifferenzierten System unter Einsatz eines theoretisch hochgerüsteten Argumentationsarsenals durchgesetzt. Wenn schon der Gegenstand nicht hochkulturell ist, soll es wenigstens der Diskurs sein. Schade nur, dass man bei dieser Anstrengung zugleich auch noch so locker sein will.“

Schöner und treffender hätte man es nicht schreiben können. Wobei diese Distinktionskultur Pop allerdings ein Jahrzehnte währendes Phänomen ist – so alt wie der Pop selbst und diesem intrinsisch. Sein Wesen ist notwendigerweise Aus- und Abgrenzung. Das nahm er sich von der sogenannten Hochkultur – ein freilich in sich bereits problematischer Begriff. Die sogenannte hohe Kultur und der Pop sind lediglich zwei Spielmarken, zwei Seiten der einen Medaille – Janusgesicht der Spät-Moderne. Selbst die Provokation ist kein Phänomen des Pop, sondern von der Kunst geborgt und war dieser im Gestus der Avantgarden immer schon eingeschrieben: Grenzen zu überschreiten, heißt, sie anders als bisher zu ziehen. Aber eben auch: neue Grenzen zu erreichten. Unauflöslicher Widerspruch, der sich in der ästhetischen Form gründet. Das Bürgertum, das vom 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts noch als solches existierte und nicht bloß in seiner herabgesunkenen Variante einer neuen Bürgerlichkeit, die meist auf die Bräsigkeit hinausläuft, ließ sich in seinem Antagonismus gerne erschüttern, wenn die Künstler schrieben oder lauthals riefen: „Épater la bourgeoisie!“ und „Glotzt nicht so romantisch!“ (Dieses romantische Geglotze und Geklotze in Phrasen ist heute leider wieder en vogue.)

Pop ist die Fortsetzung der Hochkultur mit anderen Mitteln.

Die vermeintlich Pop-Progressiven finden das vermutlich gar nicht komisch. Bei Pop hört der Spaß auf.
 

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Was wir nicht loswerden können: von der Pop-Musik

„Über Pop-Musik“ heißt ein 2014 von Diedrich Diederichsen veröffentlichtes Buch, das von jener Musik handelt, die seit mindestens 60 Jahren die Gesellschaft und insbesondere ihre Jugendkulturen sichtbar begleitet, durchdringt und prägt wie nur wenig andere Phänomene: ein Buch, klug geschrieben, ungeheuer theoriegesättigt, weit ausgreifend in die Sache selbst hinein, nicht bloß als Theorie eines Blickes, der von außen sich anwendet.

Thematisch postmodern passend zu Eduardo Halferons Roman „Der polnische Boxer“ entwickelte sich im Kommentarteil zu meiner Rezension ein interessantes Gespräch über die Ausprägungen des Pop, und zwar zwischen summacumlaude, ziggev, che und mir. Diese Ausführungen gehen womöglich etwas unter, weshalb ich hier gerne darauf hinweisen möchte. Nachzulesen im Kommentarstrang. Ein anregendes und gutes Gespräch, wie ich finde.

Das Phänomen der Pop-Musik bleibt insofern soziologisch wie auch musikalisch aus der Binnensicht heraus spannend, weil zum einen immer neue Richtungen der Musik sich einstellen, insbesondere durch das cross over und die Retro-Wellen, die alte Stile aufgreifen und diesen Stilen zugleich etwas Neues oder etwas anderes und ihm sogar Entgegengesetztes hinzufügen. Vor allem aber sind, heutzutage bis in hohe Alter hinein, die soziologischen, philosophischen, musiktheoretischen Beobachter dieses Feldes zugleich unabdingbar deren Teilnehmer. An Diedrich Diederichsen zeigt sich das insbesondere. Pop heißt, wie Diederichsen es schreibt, Platten im Jugendzimmer hören – alleine oder mit Freunden – sozusagen der Raum des Privaten, und es bedeutet zugleich, in Konzerte zu gehen, sich in seinem Umfeld auf diese oder eine andere Weises zu kleiden – der Raum des Öffentlichen. Vor allem aber heißt Pop: Mit Intensität Musik zu hören. Ohne eine umfangreiche, umfassende Plattensammlung (seinerzeit) ist ein solch stupendes Wissen, wie es Diederichsen ausbreitet nicht möglich. Und ohne einen gehörigen Vorrat an Wissen und Theorien ebensowenig. Diese Kombination der Elemente macht es derart spannend, Diederichsen zu lesen. Doch das alleine reicht nicht hin, denn Diederichsen versteht es zu formulieren. Harter, manchmal trockener und dennoch klug komponierter Theoriesound über und in und aus der Musik heraus. Diederichsen schrieb ein Standardwerk.

Beim Pop handelt es sich eben nicht bloß, semiotisch betrachtet, um ein Zeichensystem, oder es ginge darum, kulturelle Codes zu entziffern bzw. die sich über Kleidung, Stil, Habitus, Musikgeschmack herausbildenden Unterschiede nicht nur lesen, sondern auch anwenden zu können. „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“, sangen 1995 die Band Tocotronic dialektisch klug und zugleich vertrackt, wissend, daß es nicht nur auf die Entscheidung des Willens ankommen kann, dazugehören zu wollen, denn es steht hier sehr viel mehr auf dem Spiel. Mit Pop-Musik verbinden sich Lebensentwürfe, Haltungen und Praktiken, bestimmte Stile und Richtungen der Musik erfordern zwar einen hohen Einsatz, erzeugen aber gleichzeitig den Distinktionsgewinn und erwirken einen tendenziell autonomen Subjektbereich. (Nicht anders als die Ruhe- und Rückzugszone des Jugendzimmers, in dem mit Freunden Musik gehört wird und das für die Eltern Tabu ist.)

Insofern gehört das Phänomen Pop zu dem Bereich, was Habermas Lebenswelt nennt, die der Systemwelt opponiert. Sei es auch nur als Geste. Meist läuft es auf eine Geste hinaus. Denn an die subversive Kraft von Pop glaube ich nur bedingt. Pop polt die eigenen Bezüge, wälzt manchmal ganze Lebensentwürfe um, in jenen wilden  jungen Jahren zumindest, wenn im Überschwang dieses eine gerade entdeckte, gehörte, wild aufgesogene Musikstück alles, was bisher war, in einem anderen Licht erscheinen läßt, als ich jenes bestimmte Musikstück hörte, alles ganz anders war. Bei mir handelte es sich um die „Lieder eines fahrenden Gesellen“ von Gustav Mahler. Aber das betraf im Grunde mehr eine ästhetische Existenz als die Welt der populären Moden. Beiden Rezeptions- und Seinsweisen ähnlich bleibt jedoch der Ereignischarakter dieses Momentes. Eine Weise der Überschreitung, die in keinem Diskurs und in keiner Begrifflichkeit restlos gehandhabt werden kann. (Ausgenommen vielleicht in der künstlerischen, literarischen oder auch musikalischen Form der Darstellung. Denn Pop-Musik bezieht sich nun einmal wesentlich auf Pop-Musik und seine Rezeptionsweisen. Selbstreferenzialität des Systems.) Exzeptioneller Augenblick und Kairos in einem. Hier mögen die Artikulationen der Pop-Musik und eine Ästhetik des Ereignisses als Blitzhaftes (und Konstituierendes in einem Zuge) in einer sicherlich noch genauer zu bestimmenden Weise konvergieren.

„Doch lässt sich der alte Streit, ob man Pop-Musik nur aus der Erlebensperspektive oder gerade nur aus einer gesellschaftskritisch distanzierten, funktionstheorietischen gerecht wird, nicht so leicht entscheiden. Da in der Pop-Musik Begeisterung als individuelle Wahrheit erscheint, was zugleich einen objektiven Schritt zur gesellschaftlichen Integration (oder Desintegration oder, sehr viel seltener, Integration in etwas gezielt Anderes, eine ‚andere Gesellschaft‘) darstellt, wird man ihr erst gerecht, wenn man ihren Transformationscharakter von beiden Seiten beleuchtet: die Bilder des subjektiven Dazugehörenwollens wie des Nichtmitmachenwollens und die Antworten von Markt, Staat und Institutionen, vor allem aber den öffentlich ausgestellten Weg zwischen diesen beiden Polen – wie wir noch sehen werden. Wäre Pop-Musik eine Kunst im klassisch-westlichen Sinne des Begriffs, müsste der Dialog zwischen soziologischer und ästhetischer Perspektive nicht eingeklagt werden; die Ästhetik eines kulturellen Formats wie das der Pop-Musik muss erst noch entwickelt werden – soziologische Versuche sind dagegen zahlreich.“ (Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik)

 In einem unscharfen und weiten Sinne gehören diese Bestimmungen ebenfalls in den Umkreis meiner Thematik von Kritik und dem Eigensinn der Kunst. Es stehen sich zunächst zwei Bereiche gegenüber: ein unmittelbares Tun der Kunst und eine vermeintlich unmittelbare Rezeption von Kunst hier im speziellen der Musik, sowie die Kritik, die reflektierende Sichtung eines Phänomens, die zwar einerseits dabei und mitten drin sich befindet, andererseits aber den Abstand benötigt, um den kritischen Blick überhaupt setzen zu können. Wir wissen ja um das Bild von er Eule der Minverva, die ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt und daß erst im Grau in Grau, wenn eine Gestalt des Lebens alt geworden und damit als abgelebt sich erweist, das Erkennen einsetzen kann. In der Sache: sei das nun Phänomenologisch oder dialektisch gewichtet.

Man muß nicht alles argumentativ teilen, was Diederichsen in seinem Buch an Bestimmungen und Thesen entwickelt. Anregend freilich bleiben seine Überlegungen dennoch. Besser und klüger ist in der BRD nie über Pop-Musik geschrieben worden.

Ob ihr verblendet oder erhellt: Pop Pop Pop Musik: Talk about. Zwischen Bowie und Heino, zwischen Kommerz und Kritik

Zum Thema Pop gibt es viele Ansätze, die SPD schuf einst sogar – wie passend – das Amt eines Pop-Beauftragten, und es wird das weite Feld des Pop teils gehypte und auf einen Thron gehoben, der erstaunen läßt. Die Freude am Pop hat dabei viele Ursachen. Wie ein Thema angehen, das so viele Bereiche berührt? Das Phänomen Pop kann man rein binnenästhetisch von der Musik selber betrachten. Da bleibt dann, so vermute ich, in den meisten Fällen nicht viel von diesem Liedgut übrig. In der Regel werden eingängige Akkorde gebraucht, Tonfolgen, die im Ohr bleiben, Klänge, die die Sinne berühren, ohne daß sich diese Klangfolge tiefer in der Logik des Materials gründet. Selbst die innovative, großartige Band „Velvet Underground“ dürfte in dieser rein ästhetischen Perspektive deutlich schrumpfen. Aber für die Musikästhetik und die Partituren bin ich nicht hinreichend kompetent, um ins Detail zu gehen.

Die andere Weise, sich dem Phänomen Pop zu nähern, geschieht diskursübergreifend. So wie Diedrich Diederichsen in seinen Texten – jüngst in seiner neuen Veröffentlichung mit dem eingängigen, fast schon apodiktischen Titel „Über Pop-Musik“ oder aber das gelehrige Werk von Thomas Hecken „Pop. Geschichte eines Konzepts von 1955 bis 2009“. Da verschränken sich soziologische und musikästhetische Betrachtungen mit solchen der Kunst und der Medientheorie, da werden die Übergängigkeiten in den Musikstilen gezeigt und die Notwendigkeit solcher Verquickungen gedeutet. Der Sound und der Groove der Musik als Lebensstil werden in den Diskursrahmen gebracht.

Das Problem beim Phänomen Pop ist zunächst die Geschmacksästhetik, die Pop-Musik wesentlich konstituiert: Einst gab dieser Begriff des Geschmacks in der Betrachtung von Kunst eine emanzipative Kategorie ab und legte im 18. Jahrhundert Protest gegen den Regelkanon, gegen die Regelpoetik ein, anhand derer ein Kunstwerk zu verfertigen sei und an dem es sich auszurichten habe: Kunst als eine Form der techné: der Künstler beherrscht sein Metier. Der Geschmack brach diese Verhärtung auf. Über den Begriff des Geschmacks habe ich hier im Blog relativ ausführlich geschrieben.

Mittlerweile ist der Geschmack – nicht nur in der Kunstbetrachtung, sondern insbesondere im Pop – zur Ausrede für die subjektive Befindlichkeit geworden. Was dem einen sin Uhl, ist dem andern sin Nachtigall. Was dem einen sein Bowie, ist dem anderen sein Heino. Was dem einen seine Einstürzenden Neubauten sind dem anderen die Zillertaler Schürzenjäger. Etwas überspitzt geschrieben. Sinnlichkeitssurrogat Musik – je nach Lebenswelt und Lebensstil. Wenn im Pop der Geschmack die einzig bestimmende Kategorie sein sollte, dann ist jegliche Wahl eine Frage der persönlichen Präferenz. Das eine Meinen so gut wie ein anderes Meinen und Sinnen, und damit jeglicher Disput sowie jegliche ästhetische Kritik überflüssig. De gustibus non est disputandum. Nur auf der Ebene des Binnenästhetischen und im gesellschaftlichen Moment sowie in der soziologisch gewichteten Hörer/innen-Situation werden sich zwischen Heino und Bowie Unterschiede ausmachen. Auf der Ebene des Habitus handelt es sich um zwei Lebensmodelle, die so oder anders gleichberechtig nebeneinander stehen. Geschmacksfragen eben. Taumelnd mit Neubautens „Sehnsucht“ zechend durch die Nacht ziehen oder im eingehakten Gleichschritt mit dem braunschwarzen Haselnußmädchen, das im Schritt sauber geduscht riecht, durch die Shopping-Mall schreiten. Was aber ist das Kriterium der Differenz und das für richtig und falsch?

Allerdings ist das Phänomen des Pop zu komplex, um es nur auf Geschmacksfragen herunterzubrechen. Beatles oder Rolling Stones? Wie es „Metric“ in ihrem schönen Stück „Gimme Sympathy“ sangen. Pop bedeutet auf der Ebene der Analyse die Diskursverschränkung des Verschiedenen in den Blick zu nehmen – von Mode über Soziologie bis hin zur Kunsttheorie. Diese unterschiedlichen Gebiete der Theorie bzw. der angewandten Künste durchdringen wiederum die Lebenswelten. Und auf der Ebene der Lebenswelt ist Pop das Leben in nuce – zumindest für die, die daran glauben und gegen das falsche Leben entweder ihren Eskapismus oder eine andere Weise von Dasein setzen wollen, weil das Leben, in dem die Menschen leben, lange schon nicht mehr lebt. Pop eröffnet Räume und Pop ist der Reflex auf die beschädigte Welt: selbst noch in seiner eskapistisch-affirmativen Jukebox-Version und erst recht in der Variante des Pop, die sich emphatisch und kritisch versteht. Aber der Satz Adornos, daß es kein richtiges Leben im falschen gebe, bleibt dennoch bestehen und dürfte schwierig zu entkräften sein, sofern man nicht einer Kinderferienlager-Privatutopie huldigt.

Was die Diskursverschränkung anbelangt, so gehört zum Phänomen des Pop ebenso der Stil, die Inszenierungs-Szenerie, die Distinktion und der exzeptionellen Musikgeschmack dazu. Vor allem aber handelt es sich beim Pop um ein wirkungsästhetisches Phänomen, das an unsere Lebenswelten und unser Selbstbild anknüpft: Wie wir leben wollen, wie wir uns selber innerhalb von Mode, Kunst und Habitus verorten: Pop als Verausgabung und kalkulierte Verschwendung oder aber als Kompensation, um die Anmutungen der durchkapitalisierten Welt für eine Weile zu vergessen. Pop hat mit dem Selbstbild zu tun und insofern ist dem Pop in gewissem Sinne die Musik eher akzidentiell – ob Schlager, Hip Hop, Rock oder Jazz. Im Phänomen Pop steckt wesentlich die Warenwelt – zu der es kein Jenseits gibt: deren Immanenz ist total. Pop ist einerseits der hilflose Protest dagegen und zugleich deren Fortschreibung. Mode als Gegenmode mit anderen Mitteln und am Ende doch immer im Rahmen bleibend.

Wie ging Mitte der 80er die Werbung des Kaufhofs, als Punkrock seinen Zenit längst überschritten hatte? „Wir machen aus Punk Prunk!“ oder war es „Prunk mit Punk bei Kaufhof“? ich weiß es nicht mehr genau: Schöne Nietengürtel, Lederjacken im Abrißschick und andere Accessoires wurden für das richtige Image käuflich bereitgestellt: was Du auch machst, mach es nicht selbst. Wo andere früher mühsam durchs Karo-Viertel oder durch SO 36 streiften, damit sie der Inszenierung von Individualität nachkamen, oder wo junge Menschen in die wilde Bricolage verfielen, da gibt es nun die passende Garnitur ebenso im Kaufhaus zu erstehen. (Zumindest solange sie sich gewinnbringend verkauft.) Heute müssen wir dieses Basteln mit einem Song von Tocotronic ergänzen. Im Grunde jedoch kam in dieser Werbung des Kaufhofs Punk wieder bei sich selber an: Im Warenhaus nämlich, von dem er über die Modedesigner Vivienne Westwood und Malcolm McLaren in seiner populären Variante seinen Ausgang nahm. Dies ist die Gefahr jeglicher Pop-Musik. Aber auch die jeglicher Kunst – insbesondere der bildenden. Sie alle wollen gerne mit ihren Bildern in der Deutschen Bank hängen.

Pop markiert die feinen Unterschiede: Dumpfer Popper oder subtiler Pop(per)-Dekonstrukteur, auf dessen Musikzettel Palais Schaumburg steht? Walter Benjamins Destruktiver Charakter sowie sein Kunstwerkaufsatz gekreuzt mit der Attitüde des Kunstpunks oder riechender Rotzlöffelpunk, am Straßenrand lagernd und „Exploited“ auf der Jacke gesprüht? Pop in seiner aufreizenden Variante paart sich als Habitus und im Sinne ästhetischer Souveränität übers herkömmliche Bürger- oder Kleinbürgerleben (unserer Eltern) mit den künstlerischen Avantgarden des frühen 20. Jhds, wie Dada und dem Surrealismus, und mit dem Dandytum des 19. Jahrhunderts. Aber Pop spürt zugleich dem Leben in seiner (vermeintlichen) Intensität nach, jenem Möglichkeitssinn, der in dem einen unvergeßlichen Augenblick dieser einen Nacht wohnt. Eine durchwachte, auf einer Party oder in einem Club mit Musik zertanzte, verrauchte, in Alkohol oder anderen Drogen geschwängerte Nacht. Genau diese eine Musik, dieser eine Sound, dieser Klangteppich, in dem sich Beat an Beat reiht. Dieser eine Ritt durch diese eine besondere Nacht. In der Pop-Musik verbindet sich das affektive Erleben mit einem Konzept vom Leben als einem Kunstwerk, das in jener Nacht den Schund der Tage zum schönen Schaum und zum sinnlichen Scheinen verwandelt. Pop ist ein aisthetisches Phänomen.

Und es ist die Pop-Musik während einer solchen Nacht Narkotikum, Anästhetikum, Augenblicksdehnung und Kraftspeicher für Neues in einem. Dies gilt für die unterschiedlichsten Musikstile, und dies ist unabhängig von der musikalischen Qualität des Gespielten. Zu solcher Regung sind simple Rock-Mucker in Maffay-Manier mit schlammcatchenden wohlgeformten Biker-Weibern auf Festivals und SPK-Eingeweihte im darkroom of music fähig. Lediglich die popkommerzielle Bekanntheit oder eben Ungekanntheit und das noch nicht vollständig warenförmig Gemachte, der Grad des Szenigen und des Exzeptionellen bildet hier das Distinktionsmerkmal zwischen denen, die übers Herkömmliche nicht hinauskommen und dem Connaisseur des Subtilen. Gelungener Pop ist eben auch die Differenz zwischen den Spacken und denen, die es besser wissen. Was uns die Pop-Kritik von Spex (einst) oder Jens Balzer in der „Berliner Zeitung“ gut vor Augen führen. Die Magie, der Schauer und der (manchmal inszenierte) Wahnsinn des Pop beruhen nicht nur, aber vielfach auf einer kalkulatorischen Inszenierung, die sich an den Moment knüpft und diesen abpaßt, auskostet und in neuen Popstücken wiederum konserviert. Das System Pop ist damit zugleich ein selbstreferentielles. Das Bier aber kostet so oder so 3 Euro fünfzig.

Was ist der Fortschritt beim Hören der Pop-Musik? Früher mußten wir uns abmühen und in die vielen Platten hineinhören oder das Ohr ans Radio pressen, um auf bestimmten Sendern wie AFN oder im NDR-Musikclub den einen Sound, dieses eine Stück herauszuhören und es sogleich weiterzuerzählen. Es war jener Kult, als erster dieses oder jenes Lied, diese oder jene Band für den Kreis der Freunde „entdeckt“ zu haben: es gab jene wunderbaren Musiktrüffelschweine, die immer das richtige fanden, und von dem wir beim gemeinsamen Hören oder beim Konzertbesuch dann profitierten. Diese eine Band, die alles bisherige topte und die bisher in der In-group keiner hörte. Diese umständliche Ochsentour samt subtiler Kennerschaft und mit dem Entdeckerblick versehen muß heute kein Jugendlicher mehr unternehmen. Heute weist uns iTunes darauf hin: Wer gerne EMA gerne mag, der wird auch xyz gerne hören. So bildet sich der persönliche Kanon populärer Musik.

Pop-Musik ist ein zwiespältiges Phänomen: emanzipativ einerseits, weil es bestimmten Gruppen überhaupt erst Möglichkeiten zum Ausdruck bietet, die ihnen im offiziellen Betrieb der Kultur niemals geboten würden, und ein Phänomen der kalkulierten Reaktion, der präformierten Gefühle und der Standardisierung von Leben in einem.

Einen unfreiwillig guten Dienst erwies Heino der Popmusik übrigens mit seiner Platte „Mit freundlichen Grüßen“, indem er zeigte, wie banal manches Lied ausschaut, wenn es vom falschen Sänger richtig intoniert wird.

Vergiftet sind wir so oder so. Mit den Liedern im Kopf und dem System, das wirkt. Pop-Musik kann jene auf den Punkt gebrachte Regung sein. Und es korrespondiert in diesen Kontexten manchmal der (vermeintlich) heterosexuelle Mackerrock in seiner feinen Variante mit dem lyrisch gestimmten Lied.

Tonspur zum Sonntag

Blue Yodel für Herbert Wehner
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Um nun ein wenig – und sei es nur ein Etwas und ein Augenblick – von all der Theorie zu entspannen.

Ich lernte K. im ersten Semester meines Studiums im Jahre 188X, nein 1988 kennen. Im Einführungskurs Soziologie kreuzten sich Blicke und Worte. Sie war die mit weitem, sehr weitem Abstand hübscheste Frau im Seminar und des Semesters überhaupt, obwohl sie, mit meiner Vorliebe brechend, schwarzhaarig war: tiefschwarze, schulterlange, glatte Haare, ein feines, ebenmäßiges Gesicht; schmal, jedoch nicht dünn. Gleichfalls ihr Körper: das heißt, es gab an zwei wichtigen Stellen gewisse wichtige Rundungen. Wie trifft man eine solche Frau? Nun: Bestimmte Menschen und Zirkel finden sich in einem Anfängerseminar im ersten Semester durchaus schnell zusammen, allein über das Äußerliche, den Spaß an bestimmter Musik, über die Sprache, den Wortwitz und selbstredend natürlich durch die politische Sache.

Aber im Gegensatz zu den übrigen Personen in dieser trink- und feierfreudigen Kleingruppe, welche unter dem Etikett links lief, verhielten wir beide uns ein Stück unernster, nahmen vieles witzig und erkannten das Groteske (im etymologischen Sinne eben) in mancher Rede, mancher Aktion. Auch waren wir die eher kunstsinnigen, auf Ästhetik gepolten Charaktere. Ja, es war oft schwierig auszumachen, wer von uns beiden bösartiger und zynischer war. Gewissermaßen lieferten wir uns einen unausgesprochenen Wettbewerb darin, auf die Welt den bösen sarkastischen Blick zu werfen, der so viel Freude bereiten kann, ohne jedoch daß ein Funken Konkurrenz in diesem Sprachspaß aufkam. Sie nannte mich „Herr Geist“, ich rief sie „Frau Körper“. Und wir teilten eine Liebe, nämlich die zu F.S.K: Und jetzt, liebe Leser, haben auch Sie den Bogen zur „Tonspur am Sonntag“ gefunden, denn Sie rätselten womöglich bereits, was los ist und ob das jetzt eine augustinische Bekenntnisshow reinster, jedoch gottloser Subjektivität abgäbe.

So checkte ich von jener Zeit ab im Grandhotel Abgrund ein. Der wohl wichtigste Kritische Theoretiker hatte mir das Entreebillet ausgestellt. Die „Theorie des Romans“ und „Geschichte und Klassenbewußtsein“ waren nicht mehr genug.

Da wir aufgrund ähnlicher Interessen manche Seminare in der Philosophie und in der Soziologie gemeinsam belegten, so tauchten wir dort auch meist zusammen auf. Wir saßen in den Seminaren und Vorlesungen zusammen, wir witzelten zusammen und wir lagen im Sommer nebeneinander auf dem Universitätsrasen, wir gingen zusammen in die Kantine (Mensa), insbesondere die steinalte Bedienung Frau N. in der Cafeteria des XXX-Seminars hatte es uns sehr angetan: Frau Ns berechtigt barsche Art, mit anmaßend sich gebenden Studenten umzuspringen, fand unsere Sympathie, denn diese Weise war genau richtig. Gerne aßen wir dort eine Bulette und tranken einen schwarzen Kaffee oder ein Kaltgetränk. Auch rauchten wir zuweilen dort.

Mit K. irgendwo, egal wo, aufzutauchen, war einerseits sehr angenehm: manch neidischer oder böser Blick von Männern und vor allem Frauen ruhte auf uns bzw. eher auf ihr. Andererseits machte es mich einsam, denn an andere Frauen in Seminaren war durch jenes schöne Wesen kaum ein Herankommen mehr möglich. Ich habe gedacht, daß eigentlich das Gegenteil der Fall sein müßte. War es aber nicht. Eine weniggroß bis kleine blonde Frau mit Bob-Frisur, wie ich es zu dieser Zeit so sehr liebte, lernte ich in einem Seminar zur Photographie kennen. Aber da muß ich seinerzeit irgend etwas vermasselt haben.

Wir haben in keinem Moment etwas miteinander gehabt, kein Kuß, kein Nichts, nichts Intimes. Sie hatte einen Freund. Nun, solche Petitessen sollten im gewöhnlichen Leben eigentlich kein Hindernis abgeben, doch es existierte zwischen uns ein Moment, das ich mit dem Begriff des unkörperlichen, denkenden Begehrens bezeichnen möchte. Es war bei mir nicht einmal eine heimliche Lust vorhanden, sondern ich habe diese unglaubliche Schönheit der Frau genossen, es war ein Erlebnis, sie ansehen zu dürfen, einfach nur mit oder neben ihr zu sitzen, sich zu unterhalten, zu sprechen, den Geist Hegels auf sie wirken zu lassen, auf die Welt und auf gerade Vorübergehende diese sarkastischen bösen Blicke zu werfen, sich gegenseitig die neuesten Filme von Rohmer und Godard zu erklären, und zwar nicht mit irgendwem, sondern mit dem in weiblicher Person sich manifestierenden Schönen. Und nur deshalb, aufgrund einer Distanz, hat diese Geschichte mit uns beiden eine Zeit lang funktioniert. Wie es im Leben aber so passiert, verlaufen sich manche Wege, gehen in der Zeit auseinander, ohne daß einer der beiden Spaziergänger weiß, weshalb das so kommt.

So war das einst. Damals – in diesen wunderbaren Jahren. Wie schrieb Eva Strittmatter: „Und wie wir in der Jugend brannten, jetzt glüh‘n wir anders. So nie mehr.“ Was soll man da sagen: May be, baby.

„And the boys and the girls und the girrrlz and the boys.“

Charlotte Hegemann – die Erste. Oder: Give a fuck to my popkulturelle Pastiche

Also gut, ich muß einmal wieder etwas zugeben, schweren Herzens, aber ich habe es getan; nein: nicht abgeschrieben, abgetrieben, abgerieben, sondern ich ging in die Kaufhalle und habe ein Buch erstanden, und zwar das von Charlotte Hegemann. Ja, dirty fuckin‘ fotzenkotz, 14 Euro suchmichmal packte ich im Thalia-Buchshop auf den mittelbraunen Hartholz-Tresen. Hylemorphismus, sagte ich mir, das Buch in der Hand langsam hin und her bewegend, das Buch, welches mich verwandeln und mich wieder zu einem jungen Menschen machen würde.

Nein, ich bin nicht zu meinem vertrauten Buchmenschen, zu meinen Lieblingsdealer gegangen, der gute Bücher, Ritalin und sonstwas für mich bereithält, burn out the hell, sondern zu einem gestylten, innerlich jedoch schäbigen Buchdiskaunter wo mich kein Mensch kennt, ein Mann in der Menge sozusagen, anonymisiert, der von den Waren geschluckt wird, gehüllt in meinen dunklen Mantel, das Gesicht etwas zur Erde geneigt. Hier kennt Dich keiner, sagte ich mir, hier bist du der Fremde. Am Ende der Verkaufstransaktion fand ich Thalia-Filialen gar nicht mehr so schlecht.

Nicht auszudenken jedoch, der Blick meines Buchdealers, wenn ich da gekauft und gesprochen hätte „Einmal Axolotl Roadkill, bitte!“ „Wir führen keine Splatter-Filme.“ „Nein, kein Film, den neuen Bestseller von Ullstein, den kennen sie doch, das ist überall im Gespräch, sogar die ‚Zeit‘ hat dem Plagiatsfall Hegemann zwei ganze Seiten gewidmet“ „Nein, kenne ich nicht.“ Konsequent, konsequent, dachte ich anerkennend.

Ach, ich könnte diese wunderbaren Verkaufsgespräche, die ich so sehr liebe, unendlich in die Länge ziehen und weiterführen bis zum Ausverkauf; es steckt in mir eben so eine richtige Krämer-Badoni-Seele. Doch möchte ich meine Leser nicht langweilen mit Dingen, die nicht dazugehören, sondern sogleich in die Sache selbst hineingehen.

Was soll ich sagen, was nur schreiben? Viel der Vorurteile, der Verurteilungen, der Lorbeeren sind vergeben worden, manches sprach einer aus. Was kann ein kleiner Blogger da noch hinzufügen? Die eintausendeinste Literaturkritik zu schreiben, erscheint mir langweilig; für eine literaturtheoretische Analyse, die Bezüge aufzeigt, dekonstruiert, dialektisch dechiffriert oder die Sinnhorizonte freilegt, ist meine Zeit zu knapp bemessen, der Raum nicht vorhanden und das Buch so wichtig nicht, als daß ich mich verschwendete.

Okay, sagte ich bei mir, zu ertragen ist die Angelegenheit nur, wenn du dich an dem Text entlangschreibst: du liest ein paar Seiten von Hegemann, bis es dir zu langweilig wird, dann schreibst du ein paar Zeilen, damit du vergessen kannst, was du gerade lasest. So ließe die Lektüre sich durchhalten. Aber ach, Sicherheit ist nirgends, und ich kann nicht einmal versprechen, daß ich diese Experiment wirklich durchstehe und nicht irgendwann abbreche. Baut also nicht auf mich, liebe Leser, gut kann es sein, daß ich mit Walter Benjamin weitermache, und es folgt ein Text zum dialektischen Bild und zur Ware. Da hacke ich die Hegemann dann ab, wenn es mir zu bunt wird mit dem Buch.

Ich mach das deshalb mal so, daß ich den Text lese, diesen oder jenen Aspekt aufgreife, stellenweise zitiere, mich über Passagen lustig mache oder auch lobe, wo Gelungenes steht; mich am Pubertären delektierend. Nichts schöner als die erste Periode. Und Sie, geliebte einzige Leserin, lieber Leser dürfen mir bei meiner Lesung zusehen, ja mir fast über die Schulter auf den antiken Schreibtisch schauen, wo die gerade benötigten Bücher und die kostbaren Schreibwerkzeuge liegen; diese Insignien meiner Macht.

Die Plagiatsdebatte lassen wir bei dieser Lektüre von Hegemanns Buch einmal beiseite: das eine ist mein Plagiat, das andere mein signifikantives Nicht-Ich, warum auch nicht? Sondern ich möchte mich mit dem Text beschäftigen. Ein kurzes Nachwort aber noch zu denen, die zur Erklärung beständig die guten mittelalterlichen Mönche im Munde führen: das waren Wesen ohne Namen, die schrieben und abschrieben, so wie heute unsere Kopiergeräte, die genausowenig Namen tragen, zumindest keine Eigennamen. Lediglich Warennamen führen die Maschinen. Dies im Unterschied zu Helene-Charlotte Hegemann, die sehr wohl und anders als die vielfach genannten mittelalterlichen Mönche, mit ihrem guten Namen spazieren geht.

Ein zweites noch zum Plagiat: Literatur ist keine Seminararbeit oder eine Dissertation, natürlich kann man in der Belletristik (auch ohne Nachweis) zitieren, anzitieren, herbeizitieren. Viele arbeiteten und arbeiten so. Den schalen Beigeschmack, welchen das medial aufgebrezelte Phänomen Hegemann jedoch hinterläßt, habe ich bereits an anderer Stelle kritisiert.

Ich schreibe das besser zuerst, bevor jemand schreit: Aber der Auftaktabsatz des Buches ist nicht so schlecht, wenn man einmal den letzten Satz dieses Absatzes ausnimmt. Der ist dann wieder schlecht. Und so bewegt sich die Lektüre über die ersten Seiten mit gemischten Gedanken hin und her. Klar, da ist das vielgenannte Sampling, das Anzitieren; vor allem gehört dieses Buch zu dem von mir am meisten verachteten gesellschaftlichen Phänomen namens „Pop“. Wenn ich wählen könnte zwischen dem Leben im Wilhelminischen Kaiserreich und dem Dasein in einer Popgesellschaft, dann möchte ich monarchisch leben.

Na ja, an Sätzen wie diesem (von mir erfunden) kann sich der Leser ein Bild machen, wie das Buch aufgebaut und strukturiert ist. Ich fremdele ja nicht einmal mit dieser Ironie und Lakonie. Ob‘s aber für ein Buch reicht? Stellenweise ist das Überteibungs- und Szenegerede lustig, oft jedoch nervt es gehörig.

„Ich bin wild aufgewachsen und ich will wild bleiben. Es ist drei Uhr nachts und mein kaputtgefeierter Körper sitzt zu Tode in seiner Opferrolle versunken in einem Taxi.“ (S. 23) Der Satz ist so schlecht nicht, weil er eine Geschichte in den Zusammenhang bringt, wenngleich ich die Marketingabteilung von Ullstein immerzu im Hinterkopf habe, die dabei mitwirkt. Aber: „Ich finde meine dissoziative Identitätsstörung interessanter als alles, was diese Stadt mir ununterbrochen ins Gesicht kotzt“ (S. 24) Der Slang ist zu dicke aufgetragen; Theorien nennen, Marken nennen, Bands nennen, Musikstile kennen. Und immer an den Leser denken. Schön wenn jemand seine Plattensammlung nach außen trägt: Musik ist, was den Geschmack und die Lebenskunst betrifft, ein einschneidendes und entscheidendes Distinktionsmerkmal zwischen Kack-Spack und Eingeweihtem, sozusagen das Hypokeimenon des popkulturellen Spaltungssubjektes.

„Aus Hackepeter wird Kacke später“ (Kurt Krömer)

In der Literatur kann, aber muß solches nicht immer der Fall sein. Daß alles mit allem verwurstet, alles mit allem in Verbindung gebracht werden kann, – modernes Prinzip nebenbei, man denke an den bekannten Satz von Lautréamont – daß Korrespondenzen (siehe hierzu etwa Baudelaires gleichnamiges Gedicht und natürlich Benjamin) erzeugt werden müssen, dies betont der Text ja gleich zum Anfang; mit Arnold Schwarzeneggers Werbespruch, seinerzeit für Energie, kann man da nur sagen „Mix it, baby!“:

‚Berlin is here to mix everything with everything, Alter!‘

‚Ist das von Dir?‘

‚Berlin is here to mix everything with everything, Alter? Ich bediene mich überall, wo ich Inspiration finde und beflügelt werde, Mifti. Filme, Musik, Bücher, Gemälde, Wurstlyrik, Fotos, Gespräche, Träume …‘

‚Straßenschilder, Wolken …‘

‚Licht und Schatten, genau, weil meine Arbeit und mein Diebstahl authentisch werden, sobald etwas meine Seele berührt. Es ist egal, woher ich die Dinge nehme, wichtig ist, wohin ich sie trage.‘

‚Es ist also nicht von dir?‘

‚Nein. Von so ‘nem Blogger‘ (S. 15)

Natürlich ist die Figurenrede nicht das Sprechen der Autorin, beides setzt der des Lesens Geübte nicht in eins und verwechselt das eine nicht mit dem anderen. Es deutet sich in dieser Passage zumindest ein Prinzip nicht nur von literarischer Konstruktion, sondern zugleich auch von Lebensart an, das die Protagonistin des Buches führt bzw. zwangsläufig führen muß. Diese Frau wird Beethovens späte Streichquartette nicht als Form des adäquaten Protests begreifen können; es reicht als Ausdrucksform lediglich zu L7 hin.

Nein, wir kommen bei diesem Buch am Pop nicht vorbei, eine Umgehungsstraße läßt sich nicht befahren, eine Umleitung existiert nicht. Und selbst so geschätzte Dichter wie Brinkmann partizipierten am Pop, wollten Pop in die Literatur tragen, von Rainald Goetz ganz zu schweigen, dem das Buch sicherlich einiges verdankt und dessen letzter Satz seines Buches „Rave“ in eben jenem Bekenntnis mündete: „Nein, wir hören nicht auf, so zu leben.“

Die Sowjetische Kommandantur Berlin-Karlshorst muß sich mit jenem monotonen „Yeah, Yeah, Yeah“ befassen, das die populäre Musik in Variationen darbringt, sie läßt den Pop an sich heran. Da haben wir uns jahrelang über Adorno gebeugt, gerudert mit den wachsverschlossenen Ohren im Steinbruch des Herren, während andere am Mast gefesselt dem Gesang lauschten. Und nun dieses. Aber es ist wie es ist: Am popkulturellen Wesen soll die ganze Welt genesen.

Ende der ersten Lektüre.