Geschichtszeichen und ökologische Krise. Thomas Seiberts „Zur Ökologie der Existenz“

Geschichte ist nach Marx‘ Kommunistischem Manifest die Geschichte der Klassenkämpfe. Für die spätmoderne Gesellschaft kann man es zuspitzen: Es ist die Geschichte der politischen Krisen und vor allem der ökologischen Katastrophe. Kapitalismus, der sich kybernetisch, global und über Datenströme entfesselte, der verwüstete Landstriche zurückläßt, Hunger und Ausbeutung produziert. Eine Natur, die aus den Fugen geriet. Die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ist komplizierter geworden, die Melodie der Gesellschaft spielt schneller, so daß jene revoltierenden Kräfte die Verhältnisse anders zum Tanz zwingen müssen. Auf diese spätmoderne Krisenerfahrung reagiert Thomas Seiberts Ökologie der Existenz.

Seibert versteht jene Ökologie als Krisenbuch, und das ist für die Gegenwart und auch vier Jahre nach dem Erscheinen des Buches aktueller denn je. Dabei möchte Seibert die verschiedenen Krisen nicht losgelöst betrachten, sondern im Zusammenhang verstehen – was einerseits einen Blick aufs Ganze der Gesellschaft ermöglicht, aufgrund dieser weiten Perspektive andererseits die Frage nach den Lösungen eines Problems aber nicht einfacher macht.

Die Krisen erkennen und damit implizit: verändernd eingreifen, und dies eben können nur Menschen. Deshalb stellt Seiberts die Frage nach dem Subjekt neu: Inwiefern wir als tätige Wesen in der Geschichte einen neuen Anfang bereiten können. Da Seibert sich an Hegel und Marx orientiert, tritt diese Kritik dialektisch auf, indem verschiedene Bereiche nicht nur aufeinander bezogen, sondern auch in ihren Widersprüchen, die zugleich Motor sein können, betrachtet werden. Jedoch reichen herkömmliche Krisentheorien, insbesondere solche orthodox-marxistischer Provenienz angesichts der sich verkomplizierenden Lage nicht mehr aus: wir haben es nicht mehr nur mit einer ausgebeuteten Arbeiterklasse zu tun – im Westen schon gar nicht, dort hat der Arbeiter materiell alles erreicht,  das Problem sind eher die Menschen ohne Arbeit oder die in prekären und unorganisierten Verhältnissen zur Arbeit gezwungen werden. Bei der Pluralität der Akteure in den sozialen Kämpfen (und auch angesichts der veränderten sozialen Lage in den meisten europäischen Gesellschaften, muß man hinzufügen) funktioniert der Griff aufs Proletariat als unbewegter Beweger nicht mehr. Dafür kann das stehen, was in linken Kreisen als Triple Oppression bzw. als Mehrfachunterdrückung bezeichnet wird.

Zudem gibt es aber ebenso einen wesentlichen und zentralen neuen Aspekt, der die verschiedenen Subjektpositionen wie Klasse, Geschlecht und sexuelle Orientierung überschreitet:

„Der ökologischen Krise und der von ihr aufgeworfenen ethisch-politischen Herausforderung kommen dabei insoweit eine paradigmatische Rolle zu, als die Ökologie sich von Anfang an systematisch an ausnahmslos alle (…) wendet und darin jedes Partikularinteresse überschreitet.“

Dieses ökologische Szenario verändert den Begriff der Klasse. Denn prinzipiell sind von dieser Krise alle betroffen. Seibert greift in diesem Kontext den Multitude-Ansatz von Michael Hardt und Antonio Negri aus den Büchern „Empire – die neue Weltordung“ und „Multitude – Krieg und Demokratie im Empire“ auf: eine Vielheit unterschiedlicher Akteure, die sich politisch organisieren, treffen und einmischen: Das reicht vom klassischen Arbeiter, über den Flüchtling bis zur LGBT-Bewegung. Einzelne aus verschiedenen Gruppen, die gemeinsam handeln – das also, was die linke Theorie besonders in Italien unter dem Begriff Postoperaismus faßte.

„Deshalb hängt der Neubeginn der Geschichte heute an der Neugründung einer Linken, die sich selbst wieder als Partei eines Anderswerdens der Welt im Ganzen verstehen könnte. Wenn das nicht mehr in der Form einer marxistisch-leninistischen Partei geschehen darf und kann, bleibt die Aufgabe selbst gerade deshalb immer auch eine Formsache, d.h. eine Sache des Wie.“

Wieweit solche Konzepte tatsächlich funktionieren und praktikabel sind, steht dabei auf einem anderen  Blatt: angefangen beim politischen Streit der unterschiedlichen Fraktionen und der Suche nach dem roten Stein der Weisen, den jeder für sich reklamiert.

Bei allen Konflikten und das bezieht auch die Frage nach der ökologischen Krise ein, bleibt die Ausbeutung des Menschen (durch den Menschen) bei Seibert eine zentrale Kategorie und ebenso das, was sich Pauperismus nennt:

„Prekarisiert zu sein heißt, von früh bis spät und überall ‚auf Abruf‘ sein zu müssen und trotzdem jederzeit ‚außer Dienst‘ gestellt und von allen Lebensmitteln abgeschnitten werden zu können. Es heißt darüber noch hinaus (und hier erst zeigen sich die Infamie und Perfidie des Prozesses) im Ganzen der Lebensnöte (…) dem Markt ausgeliefert und im  Falle der ‚Freisetzung‘ auf sein nacktes Leben, d. h. auf ein Nur-noch-am-Leben-sein reduziert zu werden: ein Schicksal, das heute schon Milliarden droht.“

Verkoppelt werden bei Seibert also jene gesellschaftlichen Fragen von Arbeit und Kapital mit den ebenfalls gesellschaftlichen Fragen der Ökologie. Etwas vergröbert kann man sagen, daß die Ausbeutung des Menschen und die Ausbeutung der Erde durch den Menschen in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen und die Struktur des einen die Struktur des anderen bedingt. Diese von Seibert konstatierten Krisen des Kapitalismus faßt er unter die Begriffe Globalisierung, Kybernetisierung und Individualisierung. Sie treiben im Prozeß auf einen Höhepunkt zu, der sich in jener ökologischen Krise manifestiert. Aber in diesem Punkt der Kulmination, so Seibert, liegt zugleich ein Akt der Freiheit und ein möglicher Wendepunkt. Wie schon im Mai 68 oder zur Französischen Revolution bringen Krisen auf Klimax Veränderung, sie zwingen die Menschen zum Handeln. Eine Situation ist derart zugespitzt, daß es so nicht bleiben kann. Seibert fokussiert die Probleme auf ihre politische und philosophische Dimension.

Dabei fährt er einen Schwung an Texten auf, mischt, mixt, kombiniert und erzeugt ein Feuerwerk aus Denker-Stimmen und Theoriebezug: Foucaults Machtkritik, Sartre, Marx, Gramsci, das Kollektiv Tiqqun, Bardiou, Žižek, Hegels Dialektik von Herr und Knecht, Irigary differenztheoretisches Weiblichkeitskonzept, Heideggers Seins- und Ereignisdenken, Deleuzes/Guattaris Deterritorialisierung. Plurales Design – was das Buch ungeheuer spannend und anregend macht. Sie alle sprechen mit- und gegeneinander, fallen sich ins Wort, ergänzen einander. Folie für den sozialen Protest ist der Mai 68 – so wie Seibert überhaupt in sein Buch eine Theorie historischer Daten einflechtet, von 1789 über 1848, 1917 bis eben zum Mai 68. Vermittelt sind diese „Geschichtszeichen“ über den Begriff des Ereignisses, der in den gegenwärtigen philosophischen Debatten der Linken einige Konjunktur hat – übrigens auch konzipiert über das späte Denken Martin Heideggers. Diese historischen Daten als geschichtliche, gesellschaftliche und politische Ereignisse werden dabei auch in bezug auf Heidegger gedacht:

„die Dialektik von Praxis und Existenz wird als die Dialektik ihrer Ereignisse zu entfalten sein.“ Und das ist bei Seibert zugleich in eine praktischen Sinne entwickelt , im Ereignisbegriff etwa bei Hardt/Negri. Dort steht er „für die politische Verdichtung verschiedener Werdensprozesse des Lebens, Sprechens, Arbeitens in historisch außerordentlichen Momenten, die deshalb auch die Konvergenzpunkte des Stellungs- wie Bewegungskriegs bilden.“

Seiberts liest diese Theorien nach dem Principle of charity. Er vermeidet es, die Schwächen des Gegners auszuweiden, sondern achtet dessen stärkste Position. Diese wohlwollende Optik erlaubt es ihm, in seinen Theoriekorpus Positionen zu integrieren, die linker Theorie auf den ersten Blick fremd sind. Etwa die Philosophie Heideggers. Was in Frankreich keine großen Nöte bereitet – man denke an Sartre, Lacan, Derrida, Foucault – wirkte für die deutsche Linke, als käme man mit dem Kirchenkreuz auf der Berliner Schloßkuppel oder entweihte Marx-Altäre. Seibert nimmt Heidegger als Gewährsmann für den Nexus von Existenz und Praxis und übersetzt ihn in eine Dialektik des Seins. Er liquidiert, verflüssigt also das sogenannte ontologische Fundament Heideggers. Seinsphilosophie wird von Seibert materialistisch bewegt. Heideggers Fundamentalontologie, das In-der-Welt-sein transformiert sich unter Seiberts Künsten der Dekomposition zu einer Ökologie der Existenz.

Wieweit im Gang der Argumente diese Kombination plausibel erscheint, erforderte eine längere Erläuterung. Methodisch wird sich Seibert an diesem Stellen vermutlich einige Kritik der Peer Groups einhandeln und auch von der Seite der Heidegger-Auslegung her wird es inhaltliche Kritik geben. Hier soll es aber nicht um die Richtigkeit der Argumente gehen, sondern um den Impuls und Impakt, den solches Denken womöglich auszulösen vermag. Seiberts Buch lese ich als gesellschaftskritische Anregung, verschiedene Aspekte – angesiedelt zwischen Praxis und Theorie – perspektivisch in eine neue Konstellation zu bringen. Interessant ist diese Verknüpfung, weil Seibert einen ungewöhnlichen Weg nimmt und seine kritische Relektüre Heideggers zudem von einer explizit linken, ökologischen Perspektive erfolgt und nicht als nationale Blut-und-Boden-Ideologie.

Zentral für Seiberts Projekt einer Ökologie der Existenz ist der im Sinne Heideggers gedeutete Begriff der Freiheit sowie Axel Honneths politisch-sittliche Anerkennungstheorie. Das dritte Kapitel seines Buches trägt den Titel „Kritik der Freiheit“. Es handelt sich dabei weder um eine subjektive noch um eine objektive Freiheit, sondern Freiheit ist, vermittelt durch den sozialen Raum, eine Bestimmung, die dem Menschen vorausgeht. Der mit anderen geteilte Raum bei Heidegger korrespondiert mit dem, was Marx das „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ nennt. Mit Heidegger und Marx versucht Seibert eine existenzökologische Kritik in einem radikalen Sinne. Was bedeutet: Den Problemen in ihrer Komplexität bis an die Wurzel zu folgen und nicht, wie bei der Teilen der Linken beliebt, an der Oberfläche zu verharren und sich darin wie Narziss zu spiegeln. Das setzt einiges an Theorie voraus.

Seibert vermittelt in diesem Buch eine Vielzahl an Perspektiven: ästhetische wie gesellschaftliche: die Situationisten in Frankreich, die Kreativität des Pariser Mai, die Surrealisten. Ein Satz des Dichters André Breton, den Seibert zitiert, bringt das Verhältnis auf den Begriff: „Die Welt verändern, hat Marx gesagt; das Leben ändern, hat Rimbaud gesagt: Diese beiden Losungen sind für uns eine einzige.“ Auch hier also eine Verkoppelung unterschiedlicher Perspektiven.

Allerdings versucht Seibert viele Probleme zu stemmen. Die zentralen Linien zerfasern manchmal. Insofern hätte man sich für dieses ansonsten gelungene Buch zum Schluß eine Engführung der verschiedene Parcours gewünscht. Auch die Frage nach einer „verbindenden Partei“, sozusagen die nach dem sozialen Kitt, der die verschiedenen Linien innerhalb der sozialen Bewegung zusammenhalten könnte, bleibt bei Seibert offen. Man kann das als Mangel lesen oder als Chance fürs Offene begreifen. Daß nämlich im Konkreten der sozialen Kämpfe solche Prozesse und Verbindungen immer wieder neu ausgetragen werden müssen.

[Erwähnen sollte man in diesem Kontext und in der Konstellation Marx – Heidegger auch noch von Heinz Dieter Kittstein das Buch „Mit Marx für Heidegger. Mit Heidegger für Marx“, erschienen im Fink Verlag, 2004. Sehr witzig auch das Cover: Ein Bild von Heidegger  und Marx, im Stil einer Briefmarke, mit 55 Cent zu frankieren.)

Thomas Seibert: Zur Ökologie der Existenz. Freiheit, Gleichheit, Umwelt, Laika Verlag 2017, Broschur 472 Seiten, 29 €

 

Ökologische Kommunikation und Alarmismus

Ich halte nicht viel von politischer Betroffenheit ohne Reflexion oder von solchen Welttagen, wie etwa heute, dem Tag des Ozeans. Es gibt derer so viele, daß die Aspekte zerfaselt werden. Weltkindertag, Weltbuchtag, Weltnichtrauchertag, Welttag der Stille, Weltsackkratztag. Doch da mir gerade ein ganz bestimmtes Buch in die Hände geraten ist, von dem Leserin und Leser sogleich erfahren werden, zunächst assoziativ einige Sätze zum Ozean, aus dem, so die Meinung eines antiken Philosophen, alles Leben kommt. Nun aber sprudelt da heraus unser täglich Energie in Potenz.

Ich möchte in diesem Rahmen gar nicht so sehr moralisieren oder im Detail anklagen, da die Angelegenheit über den individuellen Kontext eines Konzerns wie BP hinausreicht und ein grundsätzliches Problem der Art und Weise unserer Ökonomie umfaßt. Wo kapitalistisch gewirtschaftet wird, da fallen nun einmal monetäre oder soziale Späne. Menschenmüll, Tiermüll, Meeresmüll, Strandmüll. Es möge da keiner klagen. (Diese promethischen Überhebungen kann man in bezug auf das Verhältnis zur Natur bei Günther Anders oder Hans Jonas nachlesen, wenngleich letzterer sich in Ethik verzettelt.) Doch halte ich es im Hinblick auf die gesellschaftlichen Bezüge und Möglichkeiten von Darstellung sowie Repräsentation – über was nämlich wie kommuniziert wird – für sehr interessant und bezeichnend, daß jenes austretende Öl im Golf von Mexiko, was man mit Fug und Recht als die schwerwiegendste Umweltkatastrophe seit Tschernobyl bezeichnen kann, kaum eine Reaktion und keinerlei Protest hervorruft. Ein Tiefsee-Bohrloch, aus dem seit über einem Monat Öl austritt. Es gibt die übliche Bilder von verklebten Vögeln, toten Fischen, um ihre wirtschaftliche Existenz gebrachte Menschen. (Andererseits ließen sich die Bilder von Verzweifelten und ökonomisch Deprivierten aus Afrika, Asien, Südamerika zu jedem Tag, zu jeder Sekunde kommunizieren. Wie sagte es Karl Valentin: Schön, daß in die Zeitung immer genau das hineinpaßt, was sich in der Welt ereignet.) Solches (Bild-)Material hätte vor zwanzig Jahren eine Kampagne ausgelöst. Für das Entsetzen reichte in jener guten alten Zeit ein Öltanker, der zerbrach, oder ein notabgeschaltetes Atomkraftwerk aus. Als Shell die „Brent Spar“ versenkte, wurde zu einem massiven Tankboykott an Shellstationen aufgerufen. (Den Sinn einer solchen Aktion, die damals breite Resonanz fand, kann man lange diskutieren, da das Grundsätzliche, sprich gesellschaftlich Allgemeine, ausgeblendet wurde zugunsten des unmittelbaren Effekts.) Zumindest jedoch wurde in einer bestimmten gesellschaftlichen Phase der BRD ökologisch kommuniziert. Es hat sich heute die Kommunikation verschoben. Lassen wir nun aber den Soziologen Niklas Luhmann sprechen:

„Als Zwischenergebnis halten wir fest, so verwirrend es klingen mag: Die Gesellschaft kann sich ökologisch nur selbst gefährden. Damit ist nicht nur gemeint, daß sie selbst die Umwelt so verändert, daß dies für die Fortsetzung gesellschaftlicher Reproduktion auf heutigem evolutionärem Niveau Folgen hat. Entscheidend ist vor allem, daß die Gesellschaft Kommunikation nur durch Kommunikation gefährden kann, (Herv. Bersarin)wenn man von dem immer noch unwahrscheinlichen Fall einer radikalen Auslöschung menschlichen Lebens einmal absieht. Auch Zusammenhänge zwischen ihren eigenen Operationen und Umweltveränderungen als Problem für weitere Operationen müssen irgendwie und irgendwo thematisiert werden, und sei es nur anhand der Folgen, um im Kontext der gesellschaftlichen Kommunikation Resonanz zu finden. Damit wird es zur Schlüsselfrage, wie denn die Verarbeitung der Gesellschaft für Umweltinformationen strukturiert ist.“ (Hinweis: Mit Umwelt ist hier und bei Luhmann überhaupt nicht die bloß ökologische, sondern eine systemtheoretische, kybernetisch konnotierte System/Umwelt-Differenz gemeint.)

Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, S. 68

Harald Welzers „Klimakriege“ (3. Teil)

Warum wir das, wogegen wir vor 20 Jahren
protestiert haben, mittlerweile normal finden

„Aus der Völkermordforschung wissen wir, wie schnell
die Lösung sozialer Fragen in radikale Definitionen
und tödliche Handlungen übergehen kann,
und so etwas abzuwenden, wird eine Probe darauf sein,
ob Gesellschaften aus der Geschichte lernen können oder nicht.“

Harald Welzer

IV Shifting baselines

Woher kommt diese „Apokalypseblindheit“? Weshalb wissen wir in unserer westlichen Moderne (oder Spätmoderne, Transmoderne, Postmoderne?), die wir eigentlich über das Potential kritischer Reflexion verfügen, die Zeichen der Zeit nicht nur nicht zu deuten, sondern wollen sie gar nicht erst bemerken? Wollen wir das nicht sehen, was momentan vor sich geht; können wir das womöglich gar nicht sehen? Vom Standpunkt des Futurum exactum betrachtet, (Welzer widmet ihm ein kleines Kapitel), den wir als denkende Wesen einnehmen können – und auch die Option des Möglichkeitssinns steht uns zu Gebote, um erweiterte Perspektiven zu gewinnen – sollten wir darüber nachdenken, ob wir eine Welt in diesem Lichte wirklich wollen. Vielleicht können dieser Blick vom Futurum exactum her und der Möglichkeitssinn Mittel abgeben, unsere Referenzrahmen zu überprüfen und zu hinterfragen. Es erfordert dies freilich einen Raum und Resonanzboden für Reflexion sowie einen öffentlichen Diskurs. Diesen könnten die Medien zwar liefern, doch scheint ihnen nicht viel daran gelegen. Ich rede hier nicht einmal vom Privatfernsehen oder den öffentlich-rechtliche Medien, dem „Spiegel“ (dem Sturmgeschütz der Akklamation) und ihren bewußt eingesetzten Narkoseprogrammen. Hier ist nichts zu erwarten. Aber wenn nicht einmal mehr Zeitungen wie die „Zeit“ oder Tageszeitungen wie die „Süddeutsche“ oder die „Berliner Zeitung“ einen leisen warnenden Ton anstimmen können, dann liegt etwas im argen. Ach, so schlimm wird es schon nicht kommen, so hört man allenthalben sagen. Na, mal sehen. Eine Wette möchte ich darauf nicht eingehen. „Du mußt Dein Leben ändern“, wie das neue Buch von Sloterdijk heißt? Möglicherweise nein, sondern: „Du mußt nur die Laufrichtung ändern!“vielleicht eher und mit Kafka ganz pessimistisch in den Raum gesprochen. Doch hierzu zum Ende hin mehr.

Wann eigentlich beginnen soziale Katastrophen? Welzer beschreibt in Anlehnung an Jared Diamonds „Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“, jedoch mit ganz anderer Zielrichtung, die soziale Katastrophe auf der Osterinsel und wie es möglich ist, daß eine Kultur Dinge veranstaltet, die bis zur Selbstpreisgabe desaströs sind, ohne daß in der Gesellschaft ein Bewußtsein darüber herrscht oder sich Widerstand regt. Wenn im öffentlichen Diskurs bemerkt wird, daß Dinge sich geändert haben und schwerwiegende Folgen sich einstellen werden bzw. bereits eingestellt haben, ist es meist zu spät.

„Die soziale Katastrophe der Osterinsel beginnt nicht, wenn der letzte Baum gefällt wird, sowenig wie der Holocaust mit der Installierung der ersten Gaskammer in Auschwitz anfängt. Soziale Katastrophen beginnen dort, wo falsche Entscheidungsrichtungen eingeschlagen werden – also dort, wo Distinktions- und Statusregeln auf den Osterinseln den Verbrauch von Holz für die Skulpturenproduktion fordern oder dort, wo wissenschaftlich begründete Annahmen über die Ungleichheit von Menschen in Deutschland den Rang von Gesetzen und Verordnungen erhalten.“

Genau dieser Aspekt ist es, den Welzer auf den Punkt bringt und wo er, vollkommen richtig, insistiert: Wir müssen einen (sozialen) Blick entwickeln für solche Angelegenheiten, und wir benötigen ein Sensorium für soziale Katastrophen. Es ist hierbei eine ganze Gesellschaft gefordert. Dies kann man vollkommen neutral festhalten, ohne in Alarmismus und Angstkommunikation zu verfallen.

Bei solchem Wandel in den Werthaltungen und solcher Veränderung von Normen innerhalb einer Gesellschaft handelt es sich um sozialpsycholgische Mechanismen, für die Welzer den Begriff der „shifting baselines“ verwendet, welchen er der Umweltpsychologie entnimmt (S. 214). Menschen halten immer jenen Zustand ihrer Umwelt für den „natürlichen“, der mit ihrem Lebens- und Erfahrungshorizont zusammenfällt (S. 214), und Menschen verändern sich mit mit ihrer Umwelt in ihren Wahrnehmungen und Werten gleitend, ohne daß sie dies jedoch selber bemerken (S. 16). Shifting baselines sind insofern auch dafür verantwortlich, was wir für normal halten und was nicht (S. 217). Man denke etwa an die Systeme der Überwachung: Die Generation, welche in diesem Jahrzehnt Kind ist, wird Videokameras, Gentests und biometrische Daten für ein normales Prozedere halten, und die Abfrage persönlichster Daten ist für diese Generation selbstverständlich. Wissen und Wahrnehmen hängen auf das engste zusammen:

„Denn Einmaligkeitsereignisse werden in der Regel gerade deshalb nicht wahrgenommen, weil sie neu sind, man also das, was geschieht, mit den verfügbaren Referenzrahmen zu erfassen versucht, obwohl es sich um ein präzedenzloses Geschehen handelt, das selbst erst eine Referenz für spätere vergleichbare Ereignisse liefert.“ (S. 219)

Hierin eben liegt eine Erklärung dafür, warum wir nicht wissen, daß wir nichts wissen; wir schauen mit unserem uns zur Verfügung stehenden Blick und sehen ohne zu sehen. (Ein ganz aktuelles Beispiel für ein Sehen ohne zu sehen, sind die gegenwärtigen Umwälzungen und die Weltwirtschaftskrise. Bei einigen scheint noch rein gar nichts angekommen zu sein.)

Kann man dieses Verhalten als moralischen Vorwurf an die Subjekte und die Diskurse herantragen? Man kann diese Dinge zunächst einmal nur konstatieren und muß sich überlegen, was dies als Konsequenz bedeutet. Welzer zitiert hinsichtlich dieser Problematik den Soziologen Norbert Elias, welcher es als „eine der schwierigsten Aufgabe der Sozialwissenschaften bezeichnet, die Struktur des Nichtwissens zu rekonstruieren, die zu anderen Zeiten vorgelegen hat.“ (S. 220) Ich halte diese Rekonstruktion (nicht nur in bezug auf die anderen, vergangenen Zeiten, sondern auch hinsichtlich der unseren Zeit) für extrem wichtig, um dadurch ein Begreifen dessen, was gegenwärtig geschieht, vermittels Analogieschluß zu forcieren und den blinden Fleck sichtbar zu machen. Foucaultsches und Luhmannsches Instrumentarium schadet dabei als Rüstzeug und als Zusatz zu dem bereits verwendeten Mitteln keineswegs. Man müßte nur (insbesondere bei Luhmann) die Perspektive ein wenig variieren.

Welzer zeigt anhand des Ausgrenzungs- und Verfolgungsprozesses der Juden im nationalsozialistischen Deutschland (Welzer hat zu diesem Feld umfangreiche Forschung geleistet) und an anderen Beispielen ausführlich, wie Mechanismen der Wahrnehmung und Interpretation von sozialen Tatsachen funktionieren und die Beteiligen dabei nicht einmal merken, was vor sich geht. Diskursive Moralphilosphie, in solcher Perspektive, kann nur scheitern und appelliert ins Nichts hinein, was schon Schopenhauer wußte. Aber auch individualistische, auf moralischer Intuition oder die Kraft des Subjekts beruhende Positionen werden es schwer haben, ein Korrektiv abzugeben. Insofern stellt Welzer fest:

Angesichts des Phänomens der gleitenden Referenzpunkte wird man sich auch angesichts ganz anderer Problem- und Veränderungslagen nicht der Illusion hingeben wollen, ihre moralischen Überzeugungen würden Menschen schon an irgendeiner Stelle eines gegenmenschlichen Prozesses innehalten und zum Besseren zurückkehren lassen. Das geschieht oft selbst dann nicht, wenn dieser Prozess selbstzerstörerisch zu werden droht.“ (S. 230 f.)

Für eine Moralphilosophie sind dies allerdings düstere Aussichten. Es haben sich die Ethik und die Philosophie überhaupt diesen Einsichten jedoch zu stellen. Allein schon aus dem Grund, daß unsere Zukunft und die Art und Weise, wie wir und nachfolgende Generationen zukünftig leben wollen, davon abhängt. Hier ist das Projekt der Aufklärung absolut weiterzutreiben. Welzer insistiert darauf, und sein Buch ist hierzu ein gewichtiger Beitrag.

V. Ökologische Kommunikation

Die ökologischen Probleme sind nicht neu: Bereits in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts mit dem Bericht des „Club of Rome zur Lage der Menschheit“, den „Grenzen des Wachstums“ gab es erste Warnungen und Hinweise (S. 110). Daß die sozialen Folgen der ökologischen Probleme bis heute kaum oder zu wenig diskutiert werden, steht in krassem Gegensatz zum Alter der ökologischen Debatte, so Welzer. Und dies ist richtig: Selbst in den frühen 80er Jahren auf dem Höhepunkt der Ökologiebewegung in der BRD bis hin zu Tschernobyl wurde zwar sehr viel über die Probleme und ihre Folgen gesprochen, doch weder in der internen Debatte der verschiedenen Gruppierungen und Strömungen, noch in jenem medialen Grunddiskurs, der etwa Begriffe wie Smog und Waldsterben ubiquitär machte, tauchten die sozialen Folgen richtig auf.

Mit Luhmann könnte man hier natürlich (systemtheoretisch) einwenden, daß ein System eben nur das kommunizieren kann, was es aufgrund seiner Differenzierung zur Umwelt und seiner systemimmanenten Binnenunterscheidung kommunizieren kann. Alles andere wäre eine Überforderung des entsprechenden Systems. So wird, vereinfacht gesagt, niemand vom System des Rechts Kunstwerke erwarten und vice versa. Doch ist es nur bedingt hilfreich, wenn es um Lösungen geht, ex negativo zu argumentieren, was nicht geht. Wenngleich die Luhmannsche Position schon eine erste Erklärung darüber abgeben mag, warum bestimmte Themen eben nicht kommuniziert werden können. Hier gilt es, Dinge fruchtbar zu machen.

Was die ökologische Debatte betrifft, sei nur auf seine Arbeit „Ökologische Kommunikation“ von 1986 hingewiesen. Ich wäre gerne noch intensiv darauf eingegangen, doch kann hier nicht der Raum dafür sein. Lesenswert ist dieses Buch jedoch, wenngleich es nicht unumstritten ist und problematische Punkte enthält. Ein Zusammen- und Gegenlesen mit Welzer wäre aber spannend. (Eine Luhmann dekonstruierende und gegen den Strich verfahrende Lektüre allemal.) Und es wäre für die hier skizzierten Probleme womöglich eine Ergänzung um Luhmann sinnvoll, wenngleich dies nicht unbedingt im Theorieansatz Welzers gegründet liegt und Luhmannsches Theoriedesign dem Denken Welzers eher entgegensteht: Sind es doch für Welzer nicht Strukturen und Diskurse, sondern es muß aus jener Welt der Strukturen zurückgefunden werden zu Strategien, mit denen „soziale Wesen“, mithin Subjekte, versuchen ihr Dasein zu bewältigen. (S. 44) Hier gilt es nach Welzer, die Potentiale des Subjekts zu entfalten. (Inwieweit in solchem Ansatz auch Probleme liegen, kann ich hier nicht weiter behandeln; dies ist ein Aspekt für sich, der unter dem Titel „Subjektphilosophie“ besprochen werden müßte; es wird aber in diesem Jahr Aufsätze zur Postmoderne und zum Poststrukturalismus geben, zumal anläßlich des 25. Todestages von Michel Foucault in diesem Jahr. Dieser darf nicht unkommentiert bleiben.)

Ich halte, um es kurz zu fassen, diesen teils sehr subjektzentrierten Ansatz Welzers, wenn man ihn verabsolutiert und als Königsweg begehen möchte, für eine Verknappung, denn es beraubt sich eine umfassende Theorie doch durch das Abschneiden der strukturellen und diskurstheoretischen Elemente ihres besten Instrumentariums zur Analyse, wenn es darum geht Zusammenhänge erst einmal deskriptiv zu erfassen oder gar Erklärungen dafür zu finden, warum bestimmte Themen von bestimmten gesellschaftlichen Subsystemen wie Recht oder Wirtschaft eben nicht oder erst unter bestimmten Bedingungen kommuniziert werden können. Hier bietet die Systemtheorie durchaus Erklärungen an, ohne daß man beim Nachdenken darüber sogleich zum Strukturfunktionalist werden müßte.

VI. Ausblicke

Vielfach wirft „Klimakriege“ bezüglich seiner Themen die Netze sehr weit aus. So werden Themenfelder wie der Nationalsozialismus und (islamischer) Terrorismus unter dem Kapitel „Veränderte Menschen“ sehr ausführlich behandelt, um die hier wirkenden Mechanismen der Verschiebung von Wahrnehmung und Interpretation der sozialen Realität aufzuzeigen. Dies geschieht, um die oben skizzierte Theorie der „shifting baselines“ und deren Implikationen zu verdeutlichen und so bei (möglichen) Zukunftsszenarien Handlungsmuster zu antizipieren. Welche Optionen würden gewählt, wie sehen Möglichkeiten des politischen Handelns aus, wenn der Westen einem noch mehr ansteigenden, unaufhaltsamen Strom von Umweltflüchlingen ausgesetzt sein wird und der Druck an den Außengrenzen der EU zunehmend steigt? Noch mögen wir es als unmenschlich empfinden, Flüchtlinge in kaum schwimmtauglichen Beförderungsmitteln im Meer einfach ertrinken zu lassen, anstatt sie zu retten (obwohl dieses Ertrinkenlassen schon vielfach geschieht); noch erscheint es uns als absurd und dem europäischen aufgeklärten Geist widersprechend, daß Patrouillenboote der Grenztruppen auf Flüchtlingsboote schießen, um sie zur Umkehr zu bewegen, und bewußt den Tod von Menschen in Kauf nehmen. Bei einem veränderten Referenzrahmen jedoch, wenn der Druck im Kessel steigt, erscheinen solche Lösungen gar nicht mehr so abwegig. Schnell setzt die Gewöhnung und Erleichterung über diese endlich ergriffenen Maßnahmen ein. Und es werden sich ausreichend Journalisten sowie Intellektuelle finden, die dieses Vorgehen nicht mehr nur beschweigen, sondern explizit gutheißen werden.

 Natürlich sind diese Annahmen erst einmal spekulativer Natur, und der wohlmeinend Abwägende, für den Ruhe die erste Bürgerpflicht und Tugend ist, wird entgegnen, daß diese Szenarien und die daraus resultierenden Handlungsfolgen nicht zu beweisen seien und der Hypothesencharakter des Konstruktes (und auch des Buches von Welzer) doch sehr stark sei. Es werde hier zudem sehr Unverbundenes und Disparates wie der Genozid in Ruanda und der Holocuast zusammengebracht mit der Wahrnehmung von Südkalifornischen Fischern bezüglich der Überfischung des Pazifiks. Es mögen diese von Welzer geschilderten Zukunftsaussichten so sein oder auch nicht, wir wissen es eben nicht, was in der Zukunft geschieht, das ist vollkommen richtig. (Korrekt muß man sagen: die möglichen Aussichten, denn Welzer antizipiert nichts und stellt nichts als soziale Tatsache dar, was nur spekulativer Natur ist.) Daß aber Menschen auf Freiheitsrechte verzichten zugunsten von Sicherheit, kann man bereits an der gegenwärtigen Debatte über die Gesetze zur Bekämpfung von Terrorismus ablesen.

Solches läßt sich zunächst einmal ganz neutral konstatieren. Denn daß ein Staat Maßnahmen gegen terroristische Bedrohungen trifft, ist legitim, da es die Pflicht eines Staates ist, seine Bürger gegen Terrorismus zu schützen (siehe Teil 1 dieses Essays, am 30.3.). Zu Fragen bleibt aber dabei, was solche Maßnahmen für die Formen sozialen Zusammenlebens und für die Art, wie Gesellschaften Dinge zukünftig wahrnehmen und bewerten, bedeuten.

Es sollte nicht zu viel Vertrauen in die Stabilität von Werten sowie in Normalitäts- und Zivilisierungsstandards gelegt werden (S. 239). Denn mit der Zuspitzung von Problemlagen geht meist ein schleichender Wandel dieser Werte und der Gewichtung von Werten einher. Bestes Beispiel ist hier der Umgang mit persönlichen Daten, mithin das Recht auf informationelle Selbstbestimmung: Brach bereits Jahre vor der Volkszählung von 1987, die im Vergleich zum Umgang mit Daten in der heutigen Zeit harmlos zu nennen ist, noch ein Sturm der allgemeinen Entrüstung auch bei denjenigen aus, die nicht unbedingt „links“ zu nennen sind, so bleibt in unserer Zeit eine Reaktion aus angesichts des heutigen Umgangs mit persönlichen Daten im Zeitalter des Internet und der verstärkten Überwachung. (Siehe hierzu etwa die Ausführungen Welzers S. 234 – 238.) Anhand solcher Beispiele zeigt Welzer sehr gut auf, wie die Theorie der „shifting baselines“ funktioniert. Wir glauben, ganz dieselben geblieben zu sein und dennoch haben sich unser Referenzrahmen und unsere Wertmaßstäbe unmerklich ein Stück verschoben.

So kann man abschließend festhalten, daß dieses Buch viel erreichen möchte und zugleich mit der Adlerperspektive über die Dinge gleitet. Insofern ist es ein wissenschaftliches Buch, welches sich nicht nur an das wissenschaftlich gebildete Fachpublikum, sondern an eine breitere Allgemeinheit wendet. Verstehen kann dieses Buch beim Lesen jeder. Es wird nicht mit Begriffen herumgeschwurbelt und epigonaler Diskursklamauk betrieben (nichts gegen Derrida, Foucault, Deleuze, Barthe: dies ist eine ganz andere Liga als jene nachbetenden Signifikantenreiter. Hier weiß ich mich gewiß mit meinem Blogkollegen Hartmut einig, dem ich manche Anregungen aus seinem Blog „Kritik und Kunst“ verdanke.)

Klimawandel beschränkt sich nach Welzer nicht nur auf das Absterben von Wäldern (und damit einhergehender Bodenerosion), das Abschmelzen von Gletschern und auf andere meteorologische Phänomene, sondern es entwickeln sich daraus ganz eminente politische und soziale Folgen, die mit dem bloßen Blick auf diese klimatischen Ursachen noch lange nicht hinreichend erfaßt sind. (S. 110) Dies stellt Welzer vollkommen richtig heraus. Die Auseinandersetzung mit dem sozialen Folgen und eine politische Debatte stehen hier noch aus. Ich hatte dies im zweiten Teil des Essay bereits angesprochen. Ein sehr wichtiger Punkt stellt für mich dar, daß Welzer diese Probleme nicht individualisiert, wie dies von Politikern einer bestimmen Provenienz gerne getan wird. Es reicht nicht aus, auf bestimmte Produkte oder weite Flugreisen zu verzichten. Dies dient lediglich der Selbstberuhigung und ist naiv, wenn solches Verhalten nicht zugleich mit einer Reflexion auf umfassende Mechanismen begleitet ist. (Insofern ist eben kein Mensch von der Philosophie entbunden, sondern vielmehr zu ihr verpflichtet.)

Bei den im Buch angesprochenen Problemen geht es Welzer zudem nicht um monokausale Erklärungen für die neuen Klimakriege, da „Gewaltkonflikte (…) immer ein Produkt mehrerer paralleler und ungleichzeitiger Entwicklungen (sind)“ (S. 111). Das Niveau der Theorie muß hinreichend komplex sein, um das Feld zu erfassen.

Das Buch entwirft, dies muß man ganz hart sagen, Katastrophenszenarien, von denen man sich wünscht, daß sie nicht eintreffen mögen, so Welzer. Doch steht es zu vermuten an, daß diese Szenarien eintreffen werden, wenn der Schlaf der Vernunft anhält. Die Folgen des Klimawandels „werden nicht nur die Welt verändern und andere Verhältnisse etablieren, als man bislang kannte, sie werden auch das Ende der Aufklärung und ihrer Vorstellung von Freiheit sein. Aber es gibt Bücher, die schreibt man in der Hoffnung, dass man Unrecht hat.“ (S. 17, Hervorh. von bersarin.)

Es wird Kriege gegeben haben: Es bleibt zu fragen, wie dieser Punkt aussieht, von dem aus wir, nachdem diese Kriege (vielleicht) einmal zu Ende sind, sagen werden, daß es Kriege gegeben hat, falls es sich nicht um zukünftige Kriege handelt, die, wie heute schon im Kongo, von verschiedenen Kriegsindustrien auf Dauer gestellt sind, um mit ihnen beständige Profite zu erzeugen.

Welzer hat jedoch mit seinem Buch eine Spur gelegt, der es zu folgen, und einen Rahmen gesetzt, den es mit der detaillierten Forschung auszufüllen gilt. Was nun ansteht, das ist die Kärnerarbeit der Geisteswissenschaften wie der Soziologie, der Politikwissenschaften und der Philosophie (aber auch der Jurisprudenz und der Rechtsphilosophie/-theorie) und den Naturwissenschaften, auf diese Anforderungen zu reagieren und konkrete Theorien auszuarbeiten. Wir werden uns der Fragen stellen müssen, wie eine Gesellschaft aussehen wird und aussehen kann, die etwa mit massiven zunehmenden weltweiten Flüchtlingsströmen umgehen muß.

Doch diese Theorien werden allesamt nichts nützen, wenn es damit einhergehend nicht auch eine Politik gibt, die dafür sorgt und es für absolut notwendig und dringlich erachtet, daß die Erkenntnisse aus solchen Theorien zugleich umgesetzt werden müssen. Denn es genügt nicht, um hier Marx‘ 11. Feuerbachthese anzuzitiern, die Welt bloß zu interpretieren und in der Theorie die Problematik zu durchdringen, sondern diese Welt muß zugleich verändert werden. Es gilt, Praktiken zu entwickeln, ohne dabei aber die Möglichkeiten von Politik (utopistisch im schlechten Sinne) zu überfordern, denn leider ist der gleichzeitig auch ideologisch gebrauchte Satz nicht vollkommen falsch, daß Politik die Kunst des Möglichen sei, was aber nicht bedeutet, dabei den Möglichkeitssinn auszuschalten. Es geht also um ein Konzept der kleinen Schritte. (Hoffen wir nur, daß für diese noch die Zeit reicht.) Wie Veränderungen trotzdem möglich sein können, wenngleich nur langsam, hat die Entwicklung hinsichtlich des ökologischen Bewußtseins gezeigt. Heute haben auch die Parteien, die früher nicht gerade als Vorreiter ökologischer Themen bekannt waren, ökologische Themen im Programm. Diese sind, bei aller Oberflächlichkeit, doch Bestandteil des gesellschaftlichen Diskurses geworden. Dies hat jedoch eine lange Zeit gebraucht.

Daß sich Politik mittelfristig ändert, läßt sich für Welzer etwa über eine „Erhöhung der Kommunikations- und Teilhabechancen“ an Debatten und und Entscheidungen über zukunftsrelevante Fragen innerhalb einer Gesellschaft erreichen (S. 270). Denn eine Gesellschaft, „die größere Teilhabe und höheres Engagement erlaubt, ist besser in der Lage, dringende Probleme zu lösen, als eine, die ihre Mitglieder gleichgültig läßt.“ (S. 271) Es wird hier eine dritte Moderne gefordert, die bewußt die Strategie einer reflexiven Moderne einschlägt. Inwieweit dieses Konzept aber tragen mag und nicht bloß frommer Wunsch bleibt, dies sieht auch Welzer. Insofern gibt es noch ein zweites Kapitel „Was man tun kann und was nicht II“, das ein eher düsteres Szenario hinsichtlich der Zukunft bereithält. Der Hoffnungsraum ist hier klein wie die durch Hartz IV zugewiesenen Wohnungen.

So möchte ich zum Schluß die letzten Sätze dieses instruktiven und mehr als wichtigen Buches, das ich jedem zum Lesen empfehlen möchte, zitieren:

„Auch auf diese Weise lässt sich der Prozess der Globalisierung beschreiben ­– als ein sich beschleunigender Vorgang sozialer Entropie, der die Kulturen auflöst und am Ende, wenn es schlecht ausgeht, nur noch die Unterschiedslosigkeit bloßen Überlebenswillens zurücklässt. Das allerdings wäre die Apotheose jener Gewalt, zu deren Abschaffung die Aufklärung und mit ihr die westliche Kultur den Schlüssel gefunden zu haben glaubte. Aber von der neuzeitlichen Sklavenarbeit und der gnadenlosen Ausbeutung der Kolonien bis zur frühindustriellen Zerstörung der Lebensgrundlagen von Menschen, die mit diesem Programm nicht das Geringste zu tun hatten, schreibt die Geschichte des freien, demokratischen, aufgeklärten Westens eben doch seine Gegengeschichte der Unfreiheit, Unterdrückung und Gegenaufklärung. Aus dieser Dialektik, das zeigt die Zukunft der Klimafolgen, wird die Aufklärung sich nicht entlassen können. Sie wird an ihr scheitern.“ (S. 278)

Es ist dies eine bittere Aussicht. Doch werden wir uns ihr irgendwie stellen und uns vor allem aber zu ihr verhalten müssen.