Die erste Liebe macht, wenn man dem russischen Dichter Bulat Okudschawa Glauben schenken darf, das Herz mächtig schwach. Sehr erheblich sogar und nicht nur schwach, sondern auch schwer macht diese Liebe das noch biegsame, junge und zarte Herz, so wie es später niemals mehr geschehen wird. Obwohl das andererseits nicht stimmt. Lieben ist immer eruptiv, wild, verwegen, ungebunden, und ich habe schon 50jährige Männer in Gestalt des Narren gesehen. Diese frühe Liebe jedoch ist im Überschwang und in der Trauer etwas Besonderes, etwas Großes, größer als jegliche Sprache, darin die Dichter und Kino sie zu bannen versuchten. So zumindest kommt es jungen Menschen vor, und unter dieser Optik des Unermeßlichen sehen die meisten es in ihrer privatbiographischen Sentimental-journey-Rückschau auch später noch, sofern sie dichterisch halbwegs begabt und mit einer Phantasie ausgestattet sind, die sich nicht bloß aufs Bestehende vereidigt wissen will. Wie das Einmalig-und-Einzigartige heimholen ohne zu kitschen und das Ineffabile wiederholen? Das so simpel Schwierige: den Erinnerungen eine geeignete Form verschaffen. Manchmal bedarf es einer einfachen Wendung, um das Komplizierte zu kanalisieren. Also heißt der Roman von Navid Kermani schlicht und ergreifend: „Große Liebe“. Das paßt vom Ton – insbesondere dieses Adjektiv, das ohne aufsteigernden bestimmten Artikel sein Auskommen hat.
Allerdings erweist sich die Konstruktion des Buches als hochgradig artifiziell, was diesem Roman, wie „Große Liebe“ im Untertitel genannt wird, einen besonderen Dreh versetzt. Im Kontext des autobiographischen Realismus, der seit Jahren und leider ohne eine trickreich ästhetische Brechung in planer Phantasielosigkeit um sich griff, scheint der Erzähler relativ identisch mit diesem Mann und Autor zu sein, der sich Navid Kermani nennt. Doch spielt dieser Bezug im Kontext von Literatur und Liebe andererseits kaum eine Rolle. Es sind die Namen austauschbar, der Autorenname weist auf eine Tendenz – mehr nicht:
„Daß die Literatur ihm erlaubte zu sagen, was er noch sich nie sagen würde, gehört zu seinen Privilegien. Im Roman jedoch, den ich schreibe, wählt er allenfalls aus, wovon er berichtet, und zwar nicht nur nach Kriterien der Literatur, sondern auch nach solchen, die mit der Literatur nichts zu tun haben und deshalb zu ignorieren wären. Vielleicht sollte er die Person wechseln.“ (N. Kermani, Dein Name)
Die erste Eigentümlichkeit von „Große Liebe“ besteht darin, daß der Roman in 100 Tage aufgeteilt ist, die statt der Seitenzählung dem Buch eine Abfolge verleihen. Diese 100 Kapitel stehen für 100 Schreibtage sowie 10 verschiedene Stationen der Liebe und verschaffen den Erinnerungen einen Reflexionsraum, wenn der inzwischen 45jährige auf den 15jährigen Jungen zurückblickt und das, was sich zutrug, zum Sprechen bringt. Aber wie von der ersten Liebe erzählen? Thematisch in diesem Erinnerungsakt ist die Frage nach dem sich wandelnden Ich. Der Erinnerende umkreist, setzt seine Reflexionen, voll Ichgehalt, voll Ichgefühl, um von einem Ich, das schon lange ein anderes ist, „ich“ zu sagen: Ich, der ich einstmals dieser Liebende war, ich schildere das, was sich in einem ausnehmend knappen Zeitraum zutrug, und diesen jungen Menschen, der damals zu sich „ich“ und zu ihr „du“ sagte, meine erste Liebe.
Mit dieser Frage nach dem Erzähler und dem sich wandelnden und doch auch in personaler Identität sich durchhaltenden Bewußtsein kommt eine zweite Eigentümlichkeit des Buches zum Zug. Zwischen die Erinnerungen an wildwunde Zeit schiebt sich arabische und persische Liebesmystik. Fürwahr, eine kluge Idee. Zumal es in diesen Aphorismen orientalischer Liebesliteratur um die verdrehte Beschaffenheit eines Liebes-Ichs geht, das sich im schönen, teils projizierenden Wahn entgrenzt, verliert und kein Ich mehr sein will, sich wie von Sinnen und in der übervollen Liebe wie rasend verhält, daß es bei Außenstehend lediglich Unverständnis, Kopfschütteln und im schlimmsten Falle Zorn hervorruft. Diese Mystik kontrastiert jene frühe Liebe in den 80er Jahren der BRD und führt das Erzählen auf eine andere Ebene, die aber gleichwohl doch die unserer Welt ist. Sogar dort noch, wo hunderte von Jahre Abstand zwischen den Zeiten stehen.
Was uns zur dritten Eigentümlichkeit führt. Daß es sich nämlich bei den Regungen jenes unbedarft und zum ersten Mal Liebenden ebenso um eine mythische Erfahrung handelt, nicht anders als die der Sufis, nur welthaltiger, aber in den Entrückungen und auch den Irrungen ähnlich strukturiert. Der Wunsch, vom Ich loszukommen, bestimmt die erste Liebe. Sich im anderen zu verlieren. Ertrunken im Liebesmeer, sich ganz der anderen zu geben – eine Tollerei, die jegliche rationale Anpassung sprengt. Sein Herz zu verschenken, heißt, sich aufzulösen und hinzugeben. Und diese Entrückung, so das Erzähler-Ich, ist ein Zug, der in den darauffolgenden Lieben nie mehr zur Geltung kommt: da wo man sich lange schon gefunden hat, bleibt man, wo man ist und verharrt letztendlich in seiner sich einstellenden Ichwerdung, wenn das Subjekt sich verkapselte. Dies scheint mir die entscheidende Stelle dieses Romans zu sein.
Dieses Motiv eines Mystischen, das sich im Profanen findet, können wir bei Kermani ebenfalls in seiner Auseinandersetzung mit christlicher Kunst verfolgen, wenn er ästhetische Darbietungen in eine religiöse Dimension rückt und zugleich Religiöses mit ästhetischer Erfahrung auflädt.
Der Irrsinn der Liebe bleibt der Irrsinn der Liebe: entrückt und vollständig außer uns. Ein Geheimnis, doch nimmt es im Kopf des Jugendlichen seinen Raum ein, wenn das Bewußtsein wie auch der Körper auf große Entdeckungsfahrt sich begeben wollen.
„Sosehr ihn das Geheimnis beschäftigte, das die Vereinigung zweier Körper ihm war, ahnte er zugleich dessen Bedeutung im Leben und hatte sich vorgenommen, auf eine Verbindung zu warten, die den Namen Liebe verdiente. An die Schönste des Schulhofs dachte er nicht.“
Was zunächst nach einem intentionalen Akt klingt, als ließe sich diese unio mystica zweier Körper – Haut an Geruch an Haar und Flüssigkeiten – irgendwie handhaben, erweist sich im Verlauf als sehr viel komplizierter. Ist es überhaupt eine große Liebe oder nicht vielmehr nur eine Episode? Das sinnierende Ich dehnte sie in den Gedanken – ein ästhetischer Akt oder doch bereits ein mystischer? –, obgleich diese junge Liebe des jungen Mannes vom ersten Kuß bis zum traurig-zornigen Abschied keine Woche währte. Ein Nichts eigentlich. Auch wieder fast mystisch zu nehmen, dieser Aufstieg und Abstieg des Herzens. Hatte er sich das Lächeln der Schönen auf dem Schulhof bloß eingebildet? Nein, da war etwas. Irgendwo in einer Kleinstadt im Westen der BRD.
Die 80er Jahre – sie standen im Zeichen des Anti-Atomprotests, der Friedensbewegung, der posthippiesk verzottelten Kleidung des Alternativ-Milieus. Gewaltfreiheit oder nicht – dem Protagonisten wird später eine Verhaftung einiges an Ärger, aber eben auch ein Fünkchen Szeneruhm einbringen. Wir, die wir an verschiedenen Orten irgendwie mit dazwischen hingen, kennen die Szenen sowie die fragwürdige Art, sich zu kleiden: Birkenstockpantoffeln, auf die der Erzähler mächtig stolz ist und die ihn zwei Monate Taschengeld kosteten. [Aber sind Sneakers nicht ebenso zweifelhaft?] Die gymnasiale Oberstufe mit ihren Ritualen – die einen durften bereits in die Raucherzone, an ihren Zigaretten hängen, während dem 15jährige dort der Zutritt verboten war. Sie, jene Frau, die zwar ein paar Jahre älter, aber eigentlich noch ein Mädchen war, bleibt namenlos. Sie ist die Schöne mit der Lücke zwischen den Zähnen. Wie sich Details einprägen können, die über 30 Jahre zurückliegen! Eine Falte inmitten der Schönheit, die nie mehr aus dem Kopf geht. Die Form der Brüste, das Schamhaar, das damals noch überall schön und wild wucherte, selbst unter den Achseln, wie der Erzähler konstatiert.
Gebrochen und von den 80ern hinein in die Gegenwart versetzt werden diese liebesmystischen Aufzeichnungen durch den 15-Jährigen Sohn des Erzählers – dem ersten Leser der „Großen Liebe“, der dieses Manuskript mit großem Interesse aufnimmt, obgleich er sich nicht viel anmerken läßt, in seinen Bemerkungen eher cool, und das Lesen von Büchern nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen des Jungen gehört. Dennoch: er liest das Werk vom Anfang bis zum Ende. Der Sohn ist Korrektiv und der Bezug zur anderen Welt. Doch gleichzeitig spielt sich in diesem Sohn ähnliches ab wie bei dem damals 15-Jährigen Erzähler. Es existieren Kontinuitäten – durch die Zeiten hindurch, im 12. Jahrhundert, im Jahre 1984 und in der Gegenwart, die die Zahl 2014 trägt. Trotz aller medialen Vermittlungen, denen die Liebe unterliegt und über die Kermani ebenfalls schreibt. Ist dieses Gefühle echt und in uns, kommt aus dem Bauch, wie es in der Redewendung heißt, oder sedimentiert sich in den Körpern bereits das in Fernsehen und Film medial verbreitete Stereotyp? Der erste Kuß war niemals der erste Kuß, sondern schlicht konnotiert von Storys und Mythen. Gleichsam die Verdinglichungsthese. Aber der Erzähler dieser Liebe versucht, aus den Mustern und den kollektiven Mythen, die wir uns erzählen, den individuellen Erfahrungskern herauszuschälen:
„Sie küßten nicht, sie wurden geküßt. So empfanden sie es beide und sprachen auch darüber. Mit ihnen geschah etwas, in einem Augenblick dasselbe, darin sahen sie das Wunder, das man freilich in Fernsehfilmen ebenfalls sieht. Und doch müßt ich lügen, sollt ich anders es umschreiben, ob ich auch die Möglichkeit einräume, daß ihrer beider Eindruck vom Fernsehen mit erzeugt wurde. Aber ist es nicht ebenso umgekehrt? Was wir als trivial wahrnehmen, weil es industriell kopiert wird – reflektiert es nicht eine Grunderfahrung, die die meisten Jugendlichen gemacht? Und könnte, weiter gefragt, die Trivialität jener Fernsehfilme (und Romane und Blockbuster et cetera) nicht gerade dadurch entstehen, daß sie das Spezifische, aber auch die Stereotypen der jugendlichen Verliebtheit, um das Realisten wie Ibn Arabi sehr genau wußten, plump verallgemeinern und auf das erwachsene Erleben ausdehnen?“
Eine Grunderfahrung, die industriell reproduziert wird, die aber dennoch in ihrer Besonderheit unauslöschlich ins Dasein ragt. Wie aber erleben wir diese Erfahrung, wenn wir mitten darin sind, und wie schreiben wir darüber? Dieses Gleiten lotet Kermanis Prosa aus, und wenn er sich dieser ersten Liebe annähert, so ist dieser Akt des literarischen Schreibens selber bereits eine Art mystischer Meditation: das zu finden, zu beschwören vielleicht und darin sich zu versenken, was wir die Vergangenheit heißen. Aber nicht nur das, sondern Kermani schafft es, die Unruhe, die den jungen Menschen befällt, in der Weise zu erzählen, daß die Erinnerung an jene Zeit ausnehmend lebendig wird: wenn der junge Mann versuchte, die Schönste des Schulhofes an einem bestimmten Ort, wo sie zu einer bestimmten Pausenzeit auftaucht – in dieser Erzählung ist es die Raucherecke –, abzupassen, um wie durch Zufall wieder mit ihr zusammenzutreffen. „Größer hatte er nie wieder geliebt.“ Was freilich nicht stimmt. Das Spiel der Intensität schuldet sich wesentlich der ästhetizistischen Verzückung. Über diese Prozesse legt der Roman Rechenschaft ab.
Nein, ein literarisch avancierter Roman ist „Große Liebe“ nicht, er verfährt kleinteilig, berichtend von dem, was einst war, Erinnerungen ausgrabend, wie man alte Photographien aus der Schulzeit oder das Poesiealbum vom Dachboden hervorkramt, in der Technik des Erzählens zwar angenehm gebrochen, weil Kermani die Ebene der arabisch-persischen Liebesmystik einwob und immer wieder das sublime, verwirrte, aufgelöste, sich findende Ich, das der Erzähler vor langer Zeit einmal war, zum Klingen bringt, aber im Ton des Textes liegen diese Reflexionen häufig nahe am Kitsch.
Vielleicht jedoch macht diese Schwäche des Buches – eine Schwäche, wie wir sie dergleichen in der Liebe finden – gerade dessen Stärke aus: das im Wortsinne radikal Einfache, das ins Eine Zusammengezogene des mystisch sich versenkenden Bewußtseins bedarf einer ins Religiöse ausschreitenden Sprache, die das Profane transzendiert. Dies zumindest vergaßen manche der gegenwärtig geschriebenen Texte, die diese Angelegenheit Boy-meets-girl uns schildern. Der Erzähler, der sich Navid Kermani nennt, greift auf diese Jahrhunderte alte Motiv wieder zurück und aktiviert es für die Literatur. (Mit böser Zunge könnte man hier freilich ebenfalls von einer Mosebachisierung der Liebe sprechen.) Ich selber bin in meiner Lektüre unentschlossen und habe mit diesem Verzückungston meine Probleme: Als das Beten noch geholfen hat, mochte dieses Mittel taugen. Obwohl auch dort und seit der Prosa Kleists und Büchners es mit dem Glauben seine besondere Bewandtnis besitzt.
Doch wie es in der Liebe nun einmal ist, im Hier-und-jetzt oder vor 800 Jahren in den orientalischen oder antiken Reichen: Sie bleibt naiv und unbefangen; es schert sie der Kitsch wenig, denn sie selber – sie fühlt sich echt und einzigartig auf dieser einen Welt. Insbesondere diese erste schön, meist traurige Liebe, die das Herz zu herrlich wildwund perforiert. In der Regel wächst sich das aber wieder raus. Liebe als Passion. Zur literarischen Codierung von Intimität.
Navid Kermani, Große Liebe, Hanser Verlag, 224 Seiten, 18,90 EUR, ISBN 978-3-446-24474-0