Wozu Kunst? (5) – Noch einmal: Hegel

„Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt. Es ist die gewöhnlichste Selbsttäuschung wie Täuschung anderer, beim Erkennen etwas als bekannt vorauszusetzen und es sich ebenso gefallen zu lassen; mit allem Hin- und Herreden kommt solches Wissen, ohne zu wissen wie ihm geschieht, nicht von der Stelle.“

(G.W.F. Hegel, Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes“)

Der Philosophie, speziell der Ästhetik kann das Ende der Kunst und die Frage nach ihrem Wozu nicht äußerlich bleiben. Hegels „Vorlesungen über die Ästhetik“ kreisen an mindestens zwei Stellen um dieses Ende, wenngleich sie nicht direkt davon sprechen, denn Hegel sagt nicht: die Kunst ist nun zum Ende gekommen. Diese Rede vom Ende der Kunst kreidete, seinerzeit in Berlin, mancher Hegel an: er verkünde in seinen Vorlesungen das Ende der Kunst und spaziere danach von der Humboldt-Universität her einmal quer über die Straße, um in die Oper oder ins Theater zu gehen.

Hegels „Vorlesungen über die Ästhetik“ sind als Reaktion auf die Strömungen seiner Zeit zu begreifen, insbesondere auf die Philosophie der Romantik, welche jedoch zu Hegels Zeit noch nicht unter diesem Begriff firmierte, erst mit Heines „Die romantische Schule“ (sowie dem Aufsatz „Protestantismus und Romantik“ von Echtersmeyer/Ruge) kam diese Bezeichnung in den Sprachgebrauch. Hegels Kritik galt einer in sich kreisenden Subjektivität, die in unendlicher Reflexion und im unendlichen Poetisieren den Bezug zum Objekt verloren hat.

„Mit den Ausbildungsarten der Komödie sind wir jetzt an das wirkliche Ende unserer wissenschaftlichen Erörterung angelangt. Wir begannen mit der symbolischen Kunst, in welcher die Subjektivität sich als Inhalt und Form zu finden und objektiv zu werden ringt; wir schritten zur klassischen Plastik fort, die das für sich klar gewordene Substantielle in lebendiger Individualität vor sich hinstellt, und endeten in der romantischen Kunst des Gemüts und der Innigkeit mit der frei in sich selbst sich geistig bewegenden absoluten Subjektivität, die, in sich befriedigt, sich nicht mehr mit dem Objektiven und Besonderen einigt und sich das Negative dieser Auflösung in dem Humor der Komik zum Bewußtsein bringt. Doch auf diesem Gipfel führt die Komödie zugleich zur Auflösung der Kunst überhaupt. Der Zweck aller Kunst ist die durch den Geist hervorgebrachte Identität, in welcher das Ewige, Göttliche, an und für sich Wahre in realer Erscheinung und Gestalt für unsere äußere Anschauung, für Gemüt und Vorstellung geoffenbart wird. Stellt nun aber die Komödie diese Einheit nur in ihrer Selbstzerstörung dar, indem das Absolute, das sich zur Realität hervorbringen will, diese Verwirklichung selber durch die im Elemente der Wirklichkeit jetzt für sich frei gewordenen und nur auf das Zufällige und Subjektive gerichteten Interessen zernichtet sieht, so tritt die Gegenwart und Wirksamkeit des Absoluten nicht mehr in positiver Einigung mit den Charakteren und Zwecken des realen Daseins hervor, sondern macht sich nur in der negativen Form geltend, daß alles ihm nicht Entsprechende sich aufhebt und nur die Subjektivität als solche sich zugleich in dieser Auflösung als ihrer selbst gewiß und in sich gesichert zeigt.“ (G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 572 f., Fft/M 1986)

Diese Aspekte der Selbstzerstörung und der Entzweiung im Detail auf Becketts „Endspiel“ und geschichtsphilosophisch auf Adornos Beckett-Aufsatz anzuwenden, gibt eine Aufgabe für sich ab. Vielleicht kann ich diesen Bezug vornehmen, wenn ich zur Lektüre von Adornos Beckett-Essay komme.

Man muß es Hegels Ästhetik hoch anrechnen, Kunst als ein geschichtliches Phänomen und als etwas Prozeßhaftes zur Darstellung gebracht zu haben. Davon ist Kants „Kritik der Urteilskraft“, die freilich keine reine Ästhetik ist, weit entfernt. Die Notwendigkeit, im Rahmen meiner Essays noch einmal auf Hegel zurückzukommen, ergibt sich insbesondere aus jener Sicht auf die Kunst, welche als Apotheose derselben auftritt und die bei Hegel in die Kritik genommen wird. Der Bezug zum Heute liegt nahe, wenn die Strategen des Marketing und die der Komplexitätsreduktion ein Abaton schaffen wollen. Hier wäre die Hegelsche Ästhetik zu rehabilitieren. Andererseits sollte das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden, indem wir dem bloßen Bildersturm huldigen. Hegels Kritik der Kunst bildet keine spätmoderne Perspektive und läßt sich damit nicht ohne weiteres ins Hier und Jetzt transformieren. Aber es wird in Hegels Text doch eine Bewegung des Denkens sichtbar, die über die Arbeit des Begriffes einer Hypostase von Kunst und (unreflektierter) Ästhetik ihre Grenze aufzeigt. Auch Hegels Text arbeitete gegen die Hypertrophie der Kunst an, wenngleich aus einer anderen Motivation heraus, im Grunde deshalb, weil eine Gestalt des Geistes alt geworden ist. In Hegels Text ist die äußerste Negativität und der Bruch bereits eingeschrieben – und mehr noch: sie sind konstitutiv und wurden in keiner Philosophie zuvor derart konsequent in den Blick genommen. Dem Negativen ins Angesicht zu schauen, bei ihm zu verweilen, so Hegel in der „Phänomenologie des Geistes“ (S. 36). Allerdings kann die Kunst in Hegels Text diese Darstellung des Negativen nicht leisten, was eben mit Hegels Konzept von Schönheit zusammenhängt. Zu untersuchen wäre, wieweit, sozusagen gegengelesen, über den Begriff des Symbolischen oder durch die symbolische Kunstform hindurch dennoch so etwas wie Negativität ins Kunstwerk gelangt.

Ironisch äußert sich diese Haltung der Apotheose der Kunst etwa bei Jonathan Meese, wenn er eine Diktatur der Kunst ausruft und mit dem alten Traum eines Teils der Avantgarden – nämlich die Souveränität der Kunst zu inthronisieren, die Differenz von Leben und Kunst aufzuheben – bewußt spielt bzw. dieses schillernde Moment ins Spiel bring, wo man nicht genau weiß, ob dies nun Ernst oder doch nur ein böser oder schlichtweg blöder Spaß ist.

Vollkommen unironisch zeigt sich diese Apotheose beim Verkaufsinteresse des Galeristen oder des Intendanten, der seine Kunst als Ware auf dem Markt feilbieten muß.

Um jedoch auf die Zeit Hegels zurückzukommen, so muß im Rahmen des deutschen Idealismus an dieser Stelle Schellings Identitätsphilosophie und insbesondere sein „System des transzendentalen Idealismus“ genannt werden, welches – unter anderem – als Folie für Hegels Ästhetik diente. Der Begriff der intellektuellen Anschauung, für Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ ein Widerspruch in sich, den Menschen vollkommen unmöglich und versperrt, feiert bei Schelling seinen Triumph. In Schellings „System des transzendentalen Idealismus“ stellt die Kunst die höchste Weise der Philosophie dar, in der das Absolute angeschaut werden kann. So schreibt Schelling:

„Wenn die ästhetische Anschauung nur die objektiv gewordene transzendentale ist, so versteht sich von selbst, daß die Kunst das einzig wahre und ewige Organon zugleich und Dokument der Philosophie sei, welches immer und fortwährend auf neue beurkundet, was die Philosophie äußerlich nicht darstellen kann, nämlich das Bewußtlose im Handeln und Produzieren, und seine ursprüngliche Identität mit dem Bewußten. Die Kunst ist eben deswegen dem Philosophen das Hächste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln ebenso wie im Denken ewig sich fliehen muß.“ (F.W.J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, S. 297, Hamburg, 1962)

Diese Bewegung der Philosophie, welche die Kunst als letztes Stadium setzt, gerät in Hegels Text in die Kritik. Insbesondere in der „Phänomenologie des Geistes“ polemisiert Hegel gegen Schelling, wenn er formuliert, daß das Absolute nicht aus der Pistole geschossen käme. Schellings „System des transzendentalen Idealismus“ ist ein System von Setzungen, denen aber die Vermittlung, das heißt das Durchdringen von Begriff und Sache fehlt. Allerdings muß Schellings Text einer immanenten Kritik unterzogen werden, und in die säkulare Sphäre gewendet, berührt er sich an einigen Stellen nicht unwesentlich mit der Ästhetik Adornos.

Schellings Text wird in seiner Feier der Kunst aber von einem „blinden Fleck“ getragen, denn was in seinem „System“ nicht in den Blick gerät, ist dieses umgreifende Moment der Philosophie: die Sichtung, welche er in bezug auf die Kunst vornimmt, kann von der Kunst nicht ausgesprochen, sondern allenfalls gezeigt werden. Ob eine solche Versinnlichung der Ideen aber zureichend ist und seinen Platz vor dem Begriff haben kann, muß selbst innerhalb Schellings Referenzsystem fraglich erscheinen. Es bleibt vielmehr der Philosophie, genauer der Philosophie der Kunst bzw. der Ästhetik vorbehalten, diese „Offenbarung“ der Kunst (Schelling, S. 286) diskursiv darzulegen. Die Gleichwertigkeit von Kunst und Philosophie, daß sich jene beiden Pole in einem komplementären Verhältnis befinden und unabdingbar aufeinander verwiesen sind, wird erst bei Adorno in seiner Ästhetik und in der „Negativen Dialektik“ zur Darstellung gebracht und gelangt dort in die umfassende Bestimmung.

Eine Philosophie, die nicht das Moment des Ästhetischen in sich trägt, ist keine. Freilich erschöpft sich Philosophie nicht im Ästhetischen als leerem Ästhetizismus, und schon gar nicht ist die Philosophie als Dichtung zu begreifen, wie man zum Beginn von Adornos Kierkegaard-Buches lesen kann. Darin opponiert Adorno dem Text Derridas, wenngleich sein Verfahren in der Lektüre Kierkegaards Derrida in manchem nicht unähnlich ist. Zugleich gibt es bei Adorno allerdings über das exzeptionelle Moment des Ästhetischen eine große Nähe zu einem frühen Text Hegels: Jene höchste Funktion der Kunst, die als höchster Akt der Vernunft auf den Plan tritt, wurde von Hegel, Hölderlin und Schelling seinerzeit im Tübinger Stift im Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus von 1797 formuliert:

„… daß der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist, und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind – Der Philosoph muß eben so viel ästhetische Kraft besitzen, als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsere BuchstabenPhilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie.“ (in: Mythologie der Vernunft, S. 12, hg. v. Ch. Jamme und H. Schneider, Fft/M 1984)

Insbesondere sei für eine Ästhetik der Begriff der Kraft betont, und ebenfalls schließt sich hier die Wendung von einer „neuen Mythologie“ an (dazu Manfred Frank, Kaltes Herz. Unendliche Fahrt. Neue Mythologie. Motiv-Untersuchungen zur Pathogenese der Moderne), welche zu schaffen sei – ein zentraler Topos der Romantik, den man in eine  reaktionäre Richtung hin lesen kann, was dann in Unfug wie Botho Strauß‘ „Anschwellender Bocksgesang“ mündet. Aber genauso läßt sich dies in eine emanzipatorische Richtung hin ausformulieren. Paradigmatisch und als pars pro toto nur dies: „Ein neues Lied, ein besseres Lied,/O Freunde, will ich Euch dichten!/Wir wollen hier auf Erden schon/Das Himmelreich errichten.“, so Heine in „Deutschland. Ein Wintermärchen“. Freilich ist die Ironie und das Bewußtsein der Krisenhaftigkeit diesen Zeilen durch den Kontext bereits eingeschrieben.

Am konsequentesten und in einer ganz emphatischen Weise, beschritt jenen Weg, die Vernunft ästhetisch werden zu lassen, Hölderlin in seiner Dichtung, Philosophie und Dichtung durchdringen sich. Und die stärkste und reflektierteste Transformation widerfuhr diesem „Programm“ später durch Hegel. Überspitzt formuliert, kann man jenes Systemprogramm gar als Vorläufertext zur Postmoderne bezeichnen: die ästhetisch sich transformierende Vernunft ist, wie man sieht kein bloß postmodernes Phänomen der gemütlichen 80er Jahre des 20. Jhds gewesen, sondern in der Geschichte der Philosophie immer einmal wieder virulent geworden.

Auch Adorno rekurriert, allerdings implizit, auf diesen frühen Text, umschifft dabei jedoch die Klippen idealistischer Philosophie und einer postmodernen ästhetischen Vernunft. So erfährt die (Kunst-)Philosophie dieses Systemprogramms, aber auch Schellings „System des transzendentalen Idealismus“ in bezug auf die Kunst durch Adorno eine empfindliche Modifikation. Adorno greift Aspekte der Philosophie Schellings zwar auf, etwa die besondere Rolle der Kunst als Ort von Freiheit und Unfreiheit zugleich. Die Identitätsphilosophie ist jedoch unter den Bedingungen der Spätmoderne nicht zu halten. Bei Adorno tritt die bestimmte Negation als Motor des Denkens an und treibt die Arbeit des Begriffes voran. Im Hinblick auf das Moment des Dialektischen und des analysierenden Denkens steht Adorno sehr viel mehr in der Tradition Hegels, freilich sind die Bezüge zu Schelling nicht gering anzusetzen.

Ein weiteres Motiv, das Adorno von Schelling aufgreift, ist jenes Verhältnis von Kunst und Philosophie: beide bedürfen einander als verschiedene Weisen von Reflexion und als widerständischer Part. Dabei kommt der Kunst – einerseits – jenes deiktische Moment zu, während die Philosophie etwas ausspricht bzw. diskursiv zur Darstellung bringt, was sich ihr in den Formen ihrer Fixierung zugleich entzieht und – Proteus gleich – immer wieder wandelt. Diesen Metamorphosen läßt sich im Rahmen des philosophischen Denkens gleichsam durch Begriffe als Konstellationen begegnen, wie Adorno dies im Rahmen erkenntnistheoretischer Reflexion in der „Negativen Dialektik“ darlegt, sowie vermittels der Mimesis und durch ein ästhetisches Verhalten, welches man als eine ästhetische und vielleicht sogar aisthetische Offenheit bezeichnen kann.

„Die Werke sprechen wie Feen in Märchen: du willst das Unbedingte, es soll dir werden, doch unkenntlich. Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hat sie es nicht; die Erkenntnis, welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables. Kunstwerke sind, durch die Freiheit des Subjekts in ihnen, weniger subjektiv als die diskursive Erkenntnis.“ (Adorno, ÄT, S. 191)

Die Kunst, in der Moderne auf ihrem höchsten Punkt und im Zenit stehend, ist zugleich die, welche ihren Sturz vor Augen hat.

Da eine emphatisch verstandene Kunst in ihren avanciertesten Werke ihr Ende zugleich selbstreflexiv in den Blick nimmt – das Paradigma für solches Verfahren, für die Reflexion auf das Ende hin, gibt der Text Becketts ab – und damit auch das „Altern der Moderne“ einen Aspekt der Ästhetik Adornos darstellt, läßt sich seine Ästhetik als Form des Widerstands fassen, welche nicht die affirmative Menschheitsbeglückungs- und Komplexitätsentlastungsmaschine qua Kunst anwirft, um den Zumutungen der Moderne auszuweichen oder um die Motivation zum Mittun an die Hand zu geben, sondern um dem Negativen ins Angesicht zu blicken, bis es vergeht. Im Gegenteil: Kunst bringt diese Dialektik der Moderne, ihre Zweischneidigkeit über das Formgesetz im Kunstwerk, nicht jedoch übers Engagement oder die Parteinahme, in den Blick. Hier mag insbesondere Adornos Essay zu Eichendorff (Zum Gedächtnis Eichendorffs, in: Noten zur Literatur. Dieser Buchtitel stammt, genial gefaßt, von Peter Suhrkamp) von Bedeutung sein, einem Dichter, den man nur schwer wird als progressiv bezeichnen können – sein „Schloß Dürande“ verklärt das Ancien Régime unverhohlen. Aber Adorno schlägt aus der Dichtung Eichendorfs die Funken und zudem eine Theorie der Sprache heraus. Hier erst kommt die Sprachphilosophie (wie auch im Text Benjamins) zu sich selbst und genügt ihrem eigenen Anspruch.

„Aber die allegorische Intention wird in Eichendorffs eigener Dichtung getragen nicht sowohl von der Natur, der er sie an jener Stelle zuschreibt, als von seiner Sprache in ihrer Bedeutungsferne. Sie ahmt Rauschen und einsame Natur nach. Damit drückt sie eine Entfremdung aus, die kein Gedanke sondern nur noch der reine Laut überbrückt. Doch auch das Entgegengesetzte. Die erkalteten Dinge werden durch die Ähnlichkeit ihres Namens mit ihnen selber heimgeholt, und der Zug der Sprache erweckt jene Ähnlichkeit. Ein Potential des jungen Goethe, der nächtigen Landschaft von ‚Willkommen und Abschied’‘ wird bei Eichendorff zum Formgesetz: das der Sprache als zweiter Natur, in der die vergegenständlichte, dem Subjekt verlorene diesem wiederkehrt als beseelte. (Adorno, Zum Gedächtnis Eichendorffs, in: N.z.L., S. 84)

Was in der Dichtung Eichendorffs aufscheint und über die Sprache ein Moment des Unverstellten evoziert, jene „Versöhnung mit den Dingen durch die Sprache“ (S. 84), destruiert sich mit der heraufziehenden ästhetischen Moderne, wird aber vermittels der ästhetischen Kritik dennoch eingeholt, ohne dabei ins Affirmative oder das hoheitsvoll Salbadernde abzugleiten: „An dem avancierten Bewußtsein wäre es, das Verhältnis zum Vergangenen zu korrigieren, nicht indem der Bruch beschönigt wird, sondern indem man dem Vergänglichen am Vergangenen das Gegenwärtige abzwingt und keine Tradition unterstellt.“ (S. 70)

Über diesen Text Adornos und auch vermittels einiger weiterer Essays aus den „Noten zur Literatur“ zeigt es sich aber, daß das avancierteste ästhetische Material, entgegen der Kritik des ansonsten hoch geschätzten Peter Bürger, durchaus plural verfaßt ist. Diese Dialektik des „Alterns der Moderne“ nehme ich jedoch demnächst einer gesonderten Lektüre in den Blick.

Wozu Kunst? (4) – Interludium, die Tonspur zum Sonntag

 „Baudelaire hat nicht wie Gautier Gefallen an seiner Zeit gefunden, noch sich wie Leconte de Lisle um sie betrügen können. Ihm stand der humanitäre Idealismus eines Lamartine oder Hugo nicht zu Gebote, und es war ihm nicht wie Verlaine gegeben, sich in Devotion zu flüchten. Weil er keine Überzeugung zu eigen hatte, nahm er selbst immer neue Gestalten an. Flaneur, Apache, Dandy und Lumpensammler waren für ihn ebenso viele Rollen. Denn der moderne Heros ist nicht Held – er ist Heldendarsteller. Die heroische Moderne erweist sich als ein Trauerspiel, in dem die Heldenrolle verfügbar ist.“

 (Walter Benjamin, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, in: GS I 2, S. 600)

Zuweilen weiß man nicht zu schreiben, kommt nicht weiter. Nun ist dieser Text in Serie keine Seminararbeit, die der Pflicht gemäß irgendwo an einem Ort abgeliefert werden oder die ankommen muß, wenn wir die Frage nach dem Wozu der Kunst oder die nach ihrem Ende stellen. Nichts muß ankommen oder seinen Bestimmungsort erreichen. Nicht einmal ein Brief, wie schon Derrida gegen die Einsicht Lacans im Seminar zu Poes entwendetem Brief wußte.

„Es ist gütig von Ihnen, mein hochverehrter Freund, mein zweijähriges Stillschweigen zu übersehen und so an mich zu schreiben. Es ist mehr als gütig, Ihre Besorgnis um mich, Ihrer Befremdung über die geistige Starrnis, in der in Ihnen zu versinken scheine, den Ausdruck der Leichtigkeit und des Scherzes zu geben, den nur große Menschen, die von der Gefährlichkeit des Lebens durchdrungen und dennoch nicht entmutigt sind, in ihrer Gewalt zu haben.“

Wir folgen bloß einem inneren Zwang. Das Schweigen läßt sich nicht schreiben oder sammeln. „On. Say on. Be said on. Somehow on. Till nohow on. Said nohow on.
(…)
All of old. Nothing else ever. Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“ (Samuel Beckett, Worstward Ho)

Es gibt ein literarisches Dokument, fast ließe sich sagen ein Gründungsdokument der klassischen Moderne, das bündelt dieses Schweigen und die Dekomposition, die Entleerung des Selbst, früh schon. Hugo von Hofmannsthal schrieb diesen Text: Es ist ein Prosastück mit dem Titel „Ein Brief“, 1902 veröffentlicht, bekannt auch unter dem Titel Chandos-Brief (an Francis Bacon). Es handelt sich um ein Entschuldigungsschreiben wegen des gänzlichen Verzichts auf literarische Betätigung an jenen Francis Bacon, verfaßt von Philipp Lord Chandos. Ein eigenwilliger Zwang zur Beichte manifestiert sich in diesem Brief, ein strömender, aber kein eruptiver oder unkontrollierter Ausfluß:

„Mein Inneres aber muß ich Ihnen darlegen, eine Sonderbarkeit, eine Unart, wenn Sie so wollen eine Krankheit meines Geistes, wenn Sie begreifen sollen, daß mich ein ebensolcher brückenloser Abgrund von den scheinbar vor mir liegenden literarischen Arbeiten trennt als von denen, die hinter mir sind und die ich, so fremd sprechen sie mich an, mein Eigentum zu nennen zögere.“ (H. v. Hofmannsthal, Gesammelte Werke, Erzählungen, S. 462, Fft/M 1979)

Es deutet sich eine Zeitenwende an. Kongenial bringt Hofmannsthals Text diesen Umbruch zum Ausdruck, aber das Fin de siècle wird in diesem Brief ins frühe 17. Jahrhundert verlegt, also an das Ende der Renaissance, was einen Umstand abgibt, der für die Lektüre des Textes nicht zu unterschlagen ist. Objektives gerät in diesem Brief zum Problem des Subjekts, weil schmerzhaft die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt erfahren wird, mit Hegel gesprochen: das zerrissene und das „unglückliche Bewußtsein“ als Signum der Moderne. Diese Erkenntnis frißt zwar das Denken sowie das Verhältnis von Denken und Sache an, aber nicht die diesen Sachverhalt darstellende Sprache des Briefes, welche nicht verstummt bzw. aphasisch gerät, sondern vielmehr das Schweigen in die Darstellung bringt. Denn geradezu antiperformativ reagiert der Text auf diese Fragmentierung des Subjekts. Die Form stellt sich als das Gegenteil des Ausgesagten dar.

„Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.“ Das Subjekt fragmentiert sich, Band und Kontinuum zerreißen. Dichtung und Sprache des Protagonisten mißraten in diesem Zustand. Es stellt sich beim Schreiber jenes Unbehagen ein, etwas auszusprechen oder ein allgemeines Thema zu besprechen und Begriffe zu gebrauchen wie Geist, Seele oder Körper, und auch über die gesellschaftlichen Angelegenheiten fällt ein Urteil schwerer und schwerer, bis es nicht mehr möglich ist. Die Position des Nominalismus ist derart radikal gewendet, daß es der Sprache selbst, der Sprache des Briefeschreibers an den Kragen geht. Im gleichen Zuge jedoch erzählt er virtuos und in einem Spiegelspiel davon. Dennoch: das Begehren des Schreibers läuft ins Leere, es regrediert in die Erinnerung.

„Und aus dem Sallust floß in jenen glücklichen, belebten Tagen wie durch nie verstopfte Röhren die Erkenntnis der Form in mich herüber, jener tiefen, wahren, inneren Form, die jenseits des Geheges der rhetorischen Kunststücke erst geahnt werden kann, die, von welcher man nicht mehr sagen kann, daß sie das Stoffliche anordne, denn sie durchdringt es, sie hebt es auf und schafft Dichtung und Wahrheit zugleich, ein Widerspiel ewiger Kräfte, ein Ding, herrlich wie Musik und Algebra. Dies war mein Lieblingsplan.“ (S. 462)

„Glückliche Tage“, denn dieses Konzept von Einheit geht nimmer. Es ist ein Zeitalter abgelebt, jener Geist der Goethezeit, jenes Weimar als die Vormoderne (allerdings: für Hegel gehörte das, was wir gewöhnlich klassisch nennen, zur romantischen Kunst) oder: Weimar und vor allem Jena als die heraufziehende Moderne, wie die Romantik eines Novalis oder Schlegel, aber auch die Dichtung Hölderlins wohl wußten. Der Prozeß der Kunst spurt nun anders. Den Regelpoetiken widerfuhr schon mit Dubos und überhaupt den Franzosen, aber auch über Lessing und die (bürgerliche) Kategorie des Geschmacks eine Antwort. Im Fin de siècle, im Symbolismus und im Naturalismus gelangt zum schockhaften Bewußtsein, was bei Baudelaire als erstem modernem Dichter bereits in Klarheit zum Ausdruck kam. Es hat Gründe, daß gerade Paris die Stadt der Moderne ist, welche Moderne sowie die Antike auf eine Weise verbindet, daß darin die Querelle des Anciens et des Modernes eine völlig andere Richtung erhält. Odysseus als Flaneur:

„Durch die alten Vorstädte streifend, wo an baufälligen Fassaden die Jalousinnen hängen, hinter denen die Unzucht sich versteckt, beliebt es mir, wenn grausam die Sonne mit doppelt heißen Strahlen auf Stadt und Felder, Dächer und Saaten scheint, allein mein wunderliches Fechthandwerk zu üben, in allen Winkeln nach Reimen witternd, über Worte stolpernd wie über Pflastersteine und bisweilen auf lang verträumte Verse stoßend.“ (Baudelaire, Die Sonne, in: Die Blumen des Bösen, München 1986, S. 177)

Der Dichter ist es, so Foucault in „Die Ordnung der Dinge“, welcher „unterhalb der genannten und täglich vorhergesehenen Unterschiede die verborgenen Verwandtschaften der Dinge und ihre verstreuten Ähnlichkeiten wiederfindet“ (S. 81) Allerdings sind dies Ähnlichkeiten, welche disparat sein können wie Regenschirme und Nähmaschinen auf jenem Operationstisch – Lautréamont in den Plural gebracht.

„Ich habe mehr Erinnerungen, als wäre ich tausend Jahre alt.“ (Baudelaire, S. 155) Die Erinnerung birgt das Tote, das Vergangene, als Schacht und als Pyramide. Die Antike erscheint dem Flaneur in den Straßen nicht nur im flüchtigen Blick auf die Karyatiden über den Hauseingängen. Der Flaneur hat das abgelebte Momente in sich aufgesogen; er korrespondiert als Figur des Draußen – Schwellenkunde oder von Schwelle zu Schwelle. „Im Flaneur begibt sich die Intelligenz auf den Markt. Wie sie meint, um ihn anzusehen und in Wahrheit doch schon, um einen Käufer zu finden.“ (Benjamin, GS V 1, S. 54)Und um es weiter über den Text Benjamins zu schreiben, der Flaneur korrespondiert mit dem Lumpensammler, welcher in den Vorstädten die abgelebten Dinge, die Nicht-Waren, die vernutzten Dinge wieder in Waren verwandelt, den Werbung tragenden und Waren anpreisenden Sandwich-Man, die Hure, „die Verkäuferin und Ware in einem ist“ (Benjamin, GS V 1., S. 55), den Zerüttungen, wenn man es vom Heute her sehen möchte: der Flaschensammler, den es in den 90er Jahren noch nicht in diesem Ausmaße gab, den die Regierung Kohl nicht hervorzubringen wagte. Dazu gaben sich einige Jahre später dann willige Büttel her. Diese Dinge gilt es einzufangen, mit Benjamin gesprochen, die dialektischen Bilder zu erzeugen und die Phantasmagorien freizulegen. Zu Baudelaires Zeiten war die Photographie nicht ausgeprägt genug und konnte von ihrer technischen Seite her dem Flaneur nicht beistehen, um die transformierende Fixierung zu leisten. Es bestanden Grenze des Ausdrucks. Das Wesen der Photographie zeichnet sich jedoch in Wortskizzen vor und antizipiert sich in „A une passante“, jenem zentralen Gedicht von Baudelaire: dieser Blitz und der Augenblick, der sekundenhafte Blick, aufgefangen in jener Menge, die strömt. Dies darzustellen, bedarf eines zur Sprache hinzutretenden Mediums: die mémoire involontaire freizulegen, stellt ein Tun dar, das jedoch intentionslos nur erfolgen kann und sich an keine Ökonomie andocken läßt, da das Wesen der mémoire involontaire eine bewußte Bewußtlosigkeit ist – Würfelwurf und Zufall.

„Mir erschien damals in einer Art von andauernder Trunkenheit das ganze Dasein als eine große Einheit: geistige und körperliche Welt schien mir keinen Gegensatz zu bilden, ebensowenig höfisches und tierisches Wesen, Kunst und Unkunst, Einsamkeit und Gesellschaft; in allem fühlte ich Natur, in den Verirrungen des Wahnsinns ebensowohl wie in den äußeren Verfeinerungen eines spanischen Zeremoniells; …“ (Hofmannsthal, S. 464)

Das Konzept von Einheit ist der Moderne abhanden gekommen, Hegel wußte und begriff dies als erster, nahm diesen Riß in der heraufziehenden Moderne wahr und brachte den Bruch in die Philosophie, anders als die Romantik freilich mit dem Begehren, ihn auch zu heilen – „die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug“. Und dieser Verlust, der sich dann als bloße Individualität und als Subjektivität geben muß, zieht sich bis in die Fähigkeit hinein, alltägliche Kommunikation zu führen oder Werke zu schaffen. Kein Begriff und schon gar nicht der Begriff des Begriffs, als Zusammenhang, ist noch vorhanden; dort, wo Hegel auf die vermittelnde Instanz des Begriffs oder eines Allgemeinen setzte, blieb eine Leerstelle. Eine „Furie des Verschwindens“ treibt sich um, konsequente Logik des Nominalismus, die sich einzig in die Logik des Bildes transformieren kann, Metamorphosen und Bewegungen, Beschleunigungen innerhalb der Kunst, so daß neben der Photographie das bewegte Bild des Kinos nicht mehr fern scheint.

Alltägliches und soziale Bezüge lösen sich auf. Hofmannsthals Brief gleicht einem Delirium. Was bleibt, ist die grauenvolle Nähe des unscheinbaren, nebensächlichen Details, als unmittelbares Zoom. Die vergrößerte Kleinigkeit bedarf in der Kunst einer anderen Einstellung: extreme close-up, italian shot:

„Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.“ (Hofmannsthal, S. 466)

Diese Aufspaltung als System der Zertrümmerung bis ins kleinste hinein funktioniert als Mise en abyme. Aufschreibsysteme und Optik. Was aber als Signum der Moderne bleibt, ist der Gunfight vereinzelter Subjekte, der Kampf in der Zerrissenheit und die Windungen. „No One Here Gets Out Alive“, so wird dies dann als Song und Slogan etwa 66 Jahre später lauten, im Sinne eines herabgesunkenen und zum schlechten Allgemeinen gehörendes Kulturgut, welches unter dem Titel „Pop“ firmiert.

„Best worse no farther. Nohow less. Nohow worse. Nowhow naught, Nohow on.
Said nohow on“

(Samuel Beckett, Worstward Ho)

Hier aber nun die Tonspur zum Sonntag:

Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert

Über diese Sätze wäre einmal nachzudenken, um sie, in Vermittlung mit der Literatur, der Ästhetik, in eine philosophische Theorie des Bürgers zu überführen: 

„Flaubert ist dagegen voll von Widersprüchen, und seine widerspruchsvolle Beziehung zur Romantik entspricht einem ebenso widerspruchsvollen Verhältnis zum Bürgertum. Sein Haß gegen den Bourgeois ist, wie oft bemerkt wurde, die Quelle seiner Inspiration und der Ursprung seines Naturalismus. Er läßt das bürgerliche Prinzip in seinem Verfolgungswahn zu einer metaphysischen Substanz werden, zu einer Art von ‚Ding an sich‘, das unergründlich, unerschöpflich ist. ‚Der Bourgeois ist für mich etwas Undefinierbares‘, schreibt er an einen Freund – ein Wort, in dem neben dem Begriff des Unbestimmten auch der des Unendlichen mitklingt. Die Entdeckung, daß die Bourgeoisie selber romantisch, ja gewissermaßen das romantische Element schlechthin geworden ist, daß die Verse der Romantiker von niemandem mit so viel Gefühl deklamiert werden wie von ihr, und daß die Emma Bovarys die letzten Repräsentanten des romantischen Lebensideals sind, hat viel dazu beigetragen, Flaubert von seinem Romantizismus abzubringen. Flaubert ist aber im tiefsten Wesen selber ein Bourgeois, und er weiß es.“ (Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, S. 829 f.) 

Bohrer hat ja ein seinem Buch zur Romantik ganz zu recht die These formuliert, daß mit der Romantik der eigentliche Beginn der (literarischen) Moderne ansetzt, nicht unbedingt manifest, aber doch in Latenz. Auch gesellschaftlich, in der fortschreitenden Emanzipation des Bürgertums als treibende geschichtliche Kraft, kann die Moderne im 19. Jahrhundert beginnen. Die technischen Einschnitte, welche ja auch für die Kunst außerordentliche Bedeutung haben, man denke an die Bilder Blechens und Turners, stellen etwas Ungeheures dar und erzeugen Potenzierungen.  

Das bürgerliche Prinzip als metaphysische Substanz: dies ist wirklich gut gedacht und gut formuliert. Aber dieses Ding an sich läßt sich, ganz anders als das Kantische (1), durchaus in sich selbst bestimmen; im 20. Jahrhundert betreibt dies dezidiert Benjamin in seinem Passagenwerk und damit zusammenhängend in seinen Studien zu Baudelaire und dem Paris des Second Empire (2). Ein Paris der Moderne, ein Paris des Bürgers, aber auch eines mit seinem menschlichen Kehricht wird aufgetan als (nicht nur höllischer) Ursprungsort und mit Verlängerungen in das Jetzt hinein. Adorno kritisierte diesen Materialismus Benjamins in seinen Briefen an Benjamin scharf. Er sah diese Zusammenschlüsse von Gesellschaftlichem und Ästhetischem, die Benjamin in seinem Baudelaire-Buch tätigte, als zu kurz gegriffen an; gewissermaßen ein (brechtscher) Vulgärmaterialismus. (Davon wäre jedoch ein andermal zu handeln.)

Spannend zum Schluß bleibt zu lesen, ob es der Verfolgungswahn Flauberts oder der des bürgerlichen Prinzips selber ist. Die letztere Lesart bleibt mir die sympathischere. 

Und so möchten wir abschließend, gleichsam in einer Übersprungshandlung (Behaviour out of context), aber doch geprägt von der ersten Lesart, zu Sartre überleiten und mit ihm und seinen Ausführungen zu Flaubert beschließen: 

„… was kann man heute von einem Menschen wissen? Eine Antwort auf diese Frage schien mir nur durch die Untersuchung eines konkreten Falles möglich: Was wissen wir – zum Beispiel – von Gustave Flaubert? Diese Frage beantworten heißt, die Informationen, die wir über ihn haben, zu totalisieren. Nichts beweist zunächst, ob eine solche Totalisierung möglich und ob die Wahrheit einer Person nicht plural ist; (…) Laufen wir nicht Gefahr, auf Schichten heterogener und unreduzierbarer Bedeutungen zu stoßen? Dieses Buch versucht zu beweisen, daß die Unreduzierbarkeit nur scheinbar ist und daß jede Information in ihrem Kontext zum Teil eines Ganzen wird, das nicht aufhört, sich hervorzubringen, und zugleich seine eigentliche Homogenität mit allen andern Teilen offenbart. 

Ein Mensch ist nämlich niemals ein Individuum; man sollte ihn besser ein einzelnes Allgemeines nennen: von seiner Epoche totalisiert und eben dadurch allgemein geworden, retotalisiert er sie, indem er sich in ihr als Einzelheit wiederhervorbringt. Da er durch die einzelne Allgemeinheit der menschlichen Geschichte allgemein und durch die allgemeinmachende Einzelheit seiner Entwürfe einzeln ist, muß er zugleich von beiden Enden her untersucht werden.“ (Jean-Paul Sartre, Der Idiot der Familie, S. 7)

Flaubert ist sicherlich eine schillernde Figur in bezug auf das Bürgertum, und wer es hierzu dann ein wenig gallig-heiter möchte, der lese als Quintessenz „Bouvard und Pécuchet“. Sehr dicht sind wir hier schon an Beckett dran. Dieser Roman begibt sich in die Abgründe nicht nur der Gelehrsamkeit: einen Bildungsroman mit umgekehrten Vorzeichen schrieb Flaubert und konzipierte einen gedoppelten Odysseus, der von seiner Reise an (fast) genau dieselbe Stelle zurückkehrt – erfahrungslos, angereichert mit Ballast und Scheitern. Zudem fragmentiert und mitten im Geschehen interruptierend. Zum schöner Scheitern, zum gelingenden Scheitern eines Beckett ist es da wie gesagt nicht mehr weit, Scheitern als Chance, um mit Schlingensief zu sprechen, Scheitern als ästhetische-moralische Kategorie, Scheitern als Aufgabe des Bürgertums:

 „All of old. Nothing else ever. Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“ (Samuel Beckett, Worstward Ho)
____________

(1) Die Dialektik von der Grenze, die unüberbrückbar gesetzt wird, und der These, daß eine Grenze zu setzten bereits deren Überschreitung intendiert, soll beiseite gestellt werden. Auch die Gedanken Adornos in seinen „Meditationen zur Metaphysik“, daß, gegen Hegel gewendet, dieses Ding an sich als rettender Block in bestimmtem Sinne aufrechtzuerhalten sei. Obwohl allerdings diese Angelegenheit sehr gut in den philosophischen Teil einer Theorie der Bürgerlichkeit hineinpaßte.

(2) Ich möchte hier der Gerechtigkeit halber auch noch Siegfried Kracauers soziologisch-biographisches Buch „Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit“ nennen. Die Biographie als bürgerliche Kunstform des 20. Jahrhunderts.