Die Adorno-Leserin, der Adorno-Leser sind in der Welt des zusammenhanglosen Zusammenhangs, der ausgeprägten Immanenz nicht sonders gut angesehen, zuweilen gelten sie als überheblich und arrogant. Manche halten diese seltsamen Wesen, die gerne frech und verwegen im Grandhotel Abgrund residieren, speisen, leben, gar für Adorniten oder Priester des wahren Wortes. Wie dem auch sei: Wir konstatieren den Immanenzzusammenhang als die Hölle der Immanenz. Die Hölle, das sind nicht mehr die anderen („L‘Enfer c‘est les autres), wie es Sartre noch in seinem Stück, „Geschlossene Gesellschaft“ feststellen konnte, in dem er die Hölle der alltäglichen Kommunikation recht realistisch und ohne große Formierung ins Sprachbild preßte, sondern die Hölle ist eigentlich gar nicht mehr sichtbar. Aber es gilt immer noch, was diesen Zusammenhang im feinen Höllenfeuer als Dämmerschleier der Narkolepsie oder des Somnambulen betrifft, der Satz der (ansonsten schrecklichen) Hippie-Mucker-Band The Doors aus dem Song „Five to One“: „No one her gets out alive“. Andererseits paßt dieser Existentialpathos dann auch wieder besser zum popaffinen Sartreleser. Denn es gibt bei Adorno keine Slogans, sondern wie Kompositionen von Musik entwickeln die Sätze seiner Philosophie sich – auch dort, wo sie pointieren – und schälen sich aus dem Sachgehalt heraus. Sie gruppieren sich um ihren Gegenstand, beleuchten und betrachten ihn von einer Perspektive her, die für die meisten zunächst ungewohnt erscheint.
Dieser Umstand ruft von Aggression und Unverständnis bis hin zum Spott der Halbgebildeten alle möglichen Weisen der Aversion hervor. [Zuweilen aber stellen sich die richtigen Reflexe inmitten der falschen Wörter ein.] Interessant wäre es deshalb womöglich – als eine Art Projekt – mit den Mitteln der Qualitativen Sozialforschung eine Adorno-Ablehnungsleser:innen-Typologie zu entwerfen. Dem Bewohner des Grandhotel Abgrund sind seit etwa 30 Jahren die immergleichen Schablonenvorwürfe aus dem Textbausteinekasten bekannt. Sie variieren in ihrer simplen Variante unerheblich, aber auch in ihrer etwas gebildeteren Version kommen sie bloß als eine Art Scrabble aus dem Bastelkasten daher: ach, immer so negativ und nie werden die Potentiale gesehen, die doch nur brach liegen. Dem Negativen ins Gesicht zu schauen, ertragen die Affirmateure und Akklamateure nicht und erstarren wie beim Blick ins Medusengesicht. Mimetisch genommen, zeigt diese Starre im Grunde eine richtige Reaktion auf die Verhältnisse, nur darf man sich in solchen Sichtungen nicht versteinern lassen. Auch die ungehemmte Positivität bedeutet eine Weise der Versteinerung. Adorno schrieb zu diesem Moment von Schock und Besinnung einen sehr treffenden Aphorismus, und zwar lieferte er eine interessante Lesart zu dem Volkslied von den zwei Hasen, die vom Jäger erschossen wurden und sich dann wieder aufrappelten: „Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal“. (Dazu demnächst mehr.)
Wer sich heutzutage in irgend einer Weise denkend und schreibend auf Adorno bezieht, setzt sich häufig dem Vorwurf der Idolatrie oder des Negativdenkens aus, insbesondere von den Hipstern der Neukonservativen Bürgerlichen Revolution, die sich im progressiven Gewand bewegen, aber in ihrer Partialkritik an den Verhältnissen, die doch bloß als Affirmation sich erweist, am liebsten alles so belassen würden, wie es ist. Außer da einige Rädchen und Stellschräublein anders justieren, hier ein paar Frauen an den Universitäten unterbringen oder in den Aufsichtsräten (Rätedemokratie ex negativo) oder hier ein wenig mehr Ökologie, Ganzheitlichkeit samt Fühligkeit ins Denken zu bringen: Es ist der Reformismus von SPD und den Grünen: wir sind in der Berliner Republik angekommen. Die saturierte Neubürgerin, der Neubürger, in den Vorstadt(reihen)häusern, der tolerant ist, solange man seinen heiteren Tanz durchs Leben nicht stört: Denn im Habitus des Lustig-Bürgers sei dies alles, was Adorno an Kritik äußerste, nun so aktuell nicht mehr und überholt und dem Jammersound sei besser mit Ironie oder dem ungehemmten Frohsinn positiven Denkens begegnet. Vielleicht sogar mit Pop. Lediglich wenn dem Kleinbürger in seiner Adorno-Persiflage und Lebens-Satire der Arsch auf Grundeis geht, weil‘s Häusle plötzlich nicht mehr bezahlt werden kann oder’s Geld ein wenig verzockt wurde: Ja, dann …
Eine Lektüre und Interpretation der Texte Adornos betet diese freilich nicht affirmativ herunter, sondern sie setzt sich mit ihnen auseinander. Und das bedeutet zunächst einmal: ihn immanent zu lesen, ihn gleichzeitig zu dekonstruieren, den Gehalt und das Gedachte des Textes auszumachen, auf seine Form und auf die Argumente zu blicken, seine blinden Flecken zu finden – mit anderen Worten: Eine kritische Lektüre in Gang zu bringen. Andererseits gibt es in den verschiedenen Werken Adornos Zusammenhänge, hinter die es sich nicht zurückfallen läßt: Der Wahrheitsgehalt des Kunstwerkes als eines seiner wesentlichen Aspekte ist eine solche unhintergehbare Position in der Ästhetik: nicht mehr das bloß Sinnliche am Kunstwerk, das Gefühlige, der Geschmack oder das schlürfende Genießen, sondern die Reflexion und das Denken samt den Sinnen, die diesem Kunstwerk sich überlassen, bildeten mit einem Male den Bestandteil reflektierter Kunsttheorie.
Eine solche immanente Lektüre Adornos betrieb sein Schüler Alexander Kluge; er tat dies in zahlreichen seiner Bücher, und er schrieb die Kritische Theorie in einer mikroskophaften, mäandernden, das Material zusammentragen Weise fort, wie dies etwa Walter Benjamin in seinem „Passagenwerk“ minuziös sammelnd, exzerpierend und zitierend unternahm: das Paris des 19. Jahrhunderts sollte sich dort als eine Art dialektisches Bild entfalten und im Text zur Erscheinung gebracht werden. Kluge sichtet das Material und er entwickelt es weiter, doch betreibt er diese dialektische Re-Lektüre Benjamins und Adornos niemals affirmativ, aber dennoch an die Tradition dialektischer Kritik anknüpfend: Insbesondere zeigt dies seine Detailversessenheit, wie er das in „Geschichte und Eigensinn“ (zusammen mit Oskar Negt), aber auch in „Chronik der Gefühle“ in einen wuchernden Text bringt.
Adorno treibt in den „Minima Moralia“ ein zutiefst materialistisches Motiv an: Kritik am Subjekt und Kritik am Objekt in einem. Beide sind gleichermaßen versehrt und beschädigt bis ins Mark. Doch es handelt sich bei dieser teils sehr subjektiven Sichtung Adornos nicht um jene sattsam bekannte konservative Kulturkritik, die dem Gestern-war-besser hinterherträumt. Die Kritik Adornos geht aufs ganze, sie will nichts restaurieren. Vor allem ist diese Form, auf Gesellschaft zu reflektieren, keine Kulturkritik – als könne man lediglich ein wenig an den Phänomenen des Überbaus ändern, damit alles wieder gut würde –, sondern Gesellschaftskritik in einem umfassenden, nicht bloß nöhlenden Sinne. Sie verliert, bei aller Detailversessenheit, ebenso das Moment der gesellschaftlichen Konstitution und ihrer Strukturierung, nämlich den Aspekt der Ökonomie, nicht aus den Augen. Die „Minima Moralia“ behalten Teil und Ganzes gleichermaßen im Denken. Was Leben ist, läßt sich erfahren in der Erforschung von dessen entfremdeter Gestalt.
Diese Kritik – teils exaltiert und von äußerster Subjektivität gespeist, teils exakt pointierend – nimmt die Dinge und Gegebenheiten, die ihrem Blick begegnen, ernst und ist damit ein Beispiel auch für gelingende Phänomenologie. Keine zwar mehr des Geistes in einem Hegelschen Sinne, als sei das Ganze noch irgendwie sinnhaft vermittelt, sondern eine solche Phänomenologie der Details, des Konkreten, das sich am Ende der Reflexion als das Abstrakteste erweist; eine Phänomenologie der Regungen und Kleinigkeiten, eine von Alltag sowie Gesellschaft. In dieser Weise der Spiegelung und Brechung im Denken freilich konzipiert sie sich am Ende doch wieder als eine Phänomenologie des Geistes: nämlich eine der gesellschaftlicher Verhältnisse. Mit Kant gesprochen, eine reflektierende Urteilskraft, die zum Besonderen das Allgemeine findet. Aber dieses ist im Befund Adornos derangiert und als Gesellschaftsverhältnis nicht das, was es sein soll. Das Ganze ist das Unwahre, wie es in den „Minima Moralia“ heißt, womit sich der Satz vom richtigen Leben im falschen zuspitzt und eine Wendung jenes Satzes von Hegel ins Katastrophische bedeutet: daß das Wahre das Ganze sei, kann mit guten Gründen eigentlich nur noch von einer Perspektive der Utopie her gedacht werden. Oder vom Blick jüdischer Theologie genommen: Vom Messianischen aus.
Die Folie für Adornos Philosophie bilden die Konzentrations- und Vernichtungslager: das, was Dan Diner den Zivilisationsbruch nach Auschwitz nannte. Für viele heute ist dieses Phänomen weit weg. Für zahlreiche Familien, deren Mitglieder in den Lagern zum Rauch wurden oder die mit letzter Mühe entkamen, sind diese Erfahrungen auch in der zweiten, dritten, vierten Generation noch sehr nahe. Diese Erfahrung des absoluten Schocks, des Unsagbaren, des absoluten Bruchs und der Zerstörung jeglichen Sinnzusammenhangs spiegelt die gesamte Philosophie Adornos ab dem Jahre 1939 wider, bis hinein in sein grandioses Spätwerk, die „Ästhetische Theorie“ –viel zitiert, wenig gelesen. Die Wahrheit des Kunstwerkes ist darin durch und durch geschichtlich, an einen Zeitkern gebunden, und die Kunst und mit ihr die ästhetische sowie die gesellschaftskritische Theorie von diesen Zivilisationsbruch durchdrungen. Dieses Moment der Katastrophenerfahrung sollte in der Philosophie Adornos beständig mitgedacht werden. Das sinnliche und das denkerische Sensorium Adornos ist, was diese Phänomene anbelangt, sehr sensibel und ausgeprägt.
Die 153 Aphorismen der „Minima Moralia“ werfen ihr Augenmerk auf so unterschiedliche Dinge wie das Schenken, Wohnungseinrichtung (mithin: das bürgerliche oder kleinbürgerliche Interieur), Sprache, die Ehe, Takt, Gastlichkeit, Utopie, Liebe, Kindheit, Gebrauchsgegenstände wie Kühlschränke samt deren Türen, das kumpelhafte Geduze in der Arbeitswelt, das Schreiben. Adorno exponiert dieses Besondere, das Detail, er vergrößert die Kleinigkeit und legt sie unters Brennglas. Das, was als Gegenstand des Gebrauchs und zugleich in seiner Überhöhung warenmäßig als Fetisch fungiert, wird von Adorno entmystifiziert. Wenn unzählige Menschen auf einer Smartphone-Tastatur in der S-Bahn herumklimpern, wäre für Adorno dieser eigentümliche Solipsismus sicherlich nicht ein erweitertes und genial-neues Kommunikationsverhalten, als das es viele unkritisch-euphemistisch betrachten und benutzen, in dem Menschen in Sekundenschnelle Verbindungen zum Entferntesten erzeugen können, sondern zugleich das Einerlei des bloßen Zeitvertreibs. Dennoch würde sich Adorno wohl dem Smartphone nicht verschließen. Adorno Philosophie beruht nicht auf Technikfeindschaft und sie verachtet ebenso wenig die Genüsse und die Sinnesfreunden, wie dies eine bestimmte Weise des asketischen Marxismus/Linksseins oder des Protestantismus gerne betreibt: je sackleiniger desto besser, je uneleganter desto politischer, je weniger die Sinne verfeinernd Speisen, Getränke, Gespräche, Frauen oder Männer genießend, desto politischer. Je spartanischer, desto ehrlicher. Ganz im Gegenteil geht es darum, den Gebrauchswert gegenüber dem Tauschwert zu seinem Recht zu verhelfen.
„In der Erinnerung der Emigration schmeckt jeder deutsche Rehbraten, als wäre er vom Freischütz erlegt worden.“
Auch diese Fähigkeit zum Genuß hielt man Adorno zeitlebens vor, und er hielt an ihr Zeit seines Lebens zum Glück fest.
„Die entfesselte Technik eliminiert den Luxus, aber nicht, indem sie das Privileg zum Menschenrecht erklärt, sondern indem sie bei allgemeiner Hebung des Standards die Möglichkeit der Erfüllung abschneidet.“
In der nächsten Woche geht es weiter in der Lektüre. Wohin uns dieser Weg treibt, bleibt ungewiß, vielleicht ein wenig auch in die Richtung hin zu Georg Lukács. [Nein, dies ist nicht der Regisseur von „Star Wars“, werte Kinogeherinnen, werter Kinogeher!]