Von der Geburtsstunde der Soziologie läßt sich in bezug auf Max Webers Schriften sicherlich nicht sprechen, trotzdem er der Soziologie eine ganz andere Richtung verpaßte als bisher. Und Weber ist im Sinne all der faktenfummelnden Bindestrichsoziologien, die es heute gibt und die sich bis zur Bedeutungslosigkeit in der quantitativen Sammelwut verstrickten, ebenso wenig ihr Ahnherr – wenngleich Weber in seiner vergleichenden Methode durchaus auch auf der Ebene der Fakten, im Gebiet des Empirischen verschiedene Kulturen in den Blick nahm, um die Gesellschaft der Gegenwart, unsere Moderne des 20. Jahrhunderts in eine Analyse zu bringen. Denn nur vor dem Hintergrund des Fremden tritt die Form der eigenen Gesellschaft sowie deren Ausprägung wesentlich hervor. Fakten und soziale Tatsachen, Handeln, Regeln, Rituale, Beziehungen oder Umstände zu sammeln und in eine Ordnung zu bringen, ist die Aufgabe der Soziologie. Es bleibt allerdings die Frage, ob dieses Geschäft in einer banal-positivistischen Variante der bloßen Verdoppelung oder aber in weiterführender Perspektive betrieben wird.
Max Weber gab jener Wissenschaft mit seinen zahlreichen Aufsätzen eine andere Wendung. Die gesammelten Fakten verdichtete Weber zu den verschiedenen Idealtypen sozialer Ordnung. Bei dieser Idealtypisierung handelt es sich um einen Beherrschungs- und zugleich um einen Verfremdungseffekt des Gesellschaftlichen. Im Idealtypus erscheint die bestehende Ordnung in einem anderen Gewand, transformiert sich. (Nicht immer zum besten, allerdings, wenn dieses Verfahren in unidirektionaler Weise verübt wird.) Materie wird zugänglich gemacht und gerät aufgrund ihrer Transformation in eine Art von Reinheit und dadurch dennoch in eine andere Konstellation: „Je schärfer und eindeutiger konstruiert die Idealtypen sind; je weltfremder sie also, in diesem Sinne sind, desto besser leisten sie ihren Dienst, terminologisch und klassifikatorisch sowohl wie heuristisch.“ (M. Weber, Soziologische Grundbegriffe)
Insbesondere das Moment des Heuristischen scheint mir dabei für eine qualitativ ausgerichtete Sozialforschung von Bedeutung. Das Starre und Schematische der Weberschen Methode ist freilich ihr großer Mangel. Am Modell des Idealtypus läßt sich dennoch eine Analyse gewinnen, die darüber hinausgeht, das, was sowieso schon ist, als das, was ist, genau so festzuhalten wie es ist. Linke Politik, Gesellschaftskritik von links bedarf der Analyse und der Theorie, ansonsten bleibt sie blinde Praxis oder ganz einfach leeres Gestammel oder bloße Bestandsaufnahme dessen, was sowieso der Fall ist. Die meisten scheuen leider die Theorie wie der Hoeneß die Steuerbehörden. Und insofern bleibt ihre Praxis wirkungslos, im reinen Aktionismus oder im pseudolinken Jammersound hängen.
Handeln innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, als Rationalität, der zugleich das Maß des Irrationalen dieser Gesellschaft innewohnt, ist objektiv verstehbar, und es lassen sich die Motive dieses Handelns aufzeigen. Dies ist die Aufgabe einer (qualitativen) Sozialforschung, die sich von der Philosophie als kritischer und den Einzeldisziplinen eben nicht abkoppelt. Und in diesem Sinne ist solche qualitative Sozialforschung – auf eine vermittelnde Weise freilich – ebenso eingreifend konzipiert. Solche Kritik allerdings ist mit dem bloßen Text Max Webers, selbst wenn man ihn nicht in schlechter Hermeneutik so nimmt wie er ist, nicht mehr zu haben. Seine Ordnung ist die bürgerliche des 19. Jahrhunderts – so wie sie ist, in ihrer liberalen Variante. (Liberal war damals übrigens noch kein Schimpfwort. Zu einem solchen haben es die marktliberalen Strömungen des 20. Jhds vom Nationalökononomie-Darwinisten Friedrich August von Hayek bis Friedman und weiter erst gemacht – beide Laufburschen und Büttel des Geldes, nein: des Kapitals. Ökonomie als Ideologie.)
Über die idealtypische Konstruktion gelingt es Weber, eine Kette von soziologischen Grundbegriffen aufzuziehen: Vom Sinnbegriff über den des sozialen Handelns bis hin zu den Begriffen von Ordnung sowie den verschiedenen Herrschaftstypen. Worin Webers Ansatz schult: sich einem Forschungsfeld in einer bestimmten begrifflichen und strukturierenden Ordnung zu nähern. Das kann man allerdings – nebenbei geschrieben – noch viel besser bei Marx in seinem „Kapital“ lernen: wie der Funktionszusammenhang einer Gesellschaft bis ins Innerste aufgebaut ist, und zwar – anders als bei Weber – anhand der dialektischen Begriffsentwicklung, immanent aus der Sache heraus, anstatt daß vom abstrakten Ordnungsschemata her gesichtet wird. Webers „Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ liefert eine verkürzte Variante, wie Kapitalismus zu analysieren ist und was seine Prinzipien sind, auf denen er gründet, gleichsam eine Fußnote zum Text von Marx
Interessant am Webers Schriften mag zudem erscheinen, daß es zwar eine Flut von Texten gibt, jedoch nichts, was man im klassischen Sinne als sein Hauptwerk bezeichnen kann. Der fulminante Band „Wirtschaft und Gesellschaft“ besteht aus verschiedenen gesammelten Aufsätzen. Weber schrieb besessen Aufsätze – ein Werk im Fragment.
Tragender Aspekt in Webers Werk und Wirken ist seine Auseinandersetzung mit der okzidentalen Moderne: dem „Stahlgehäuse des Kapitalismus“, der „Entzauberung der Welt“ sowie die westliche moderne Rationalität, die auf eine solche der Zwecke hinausläuft und auf der die kapitalistische Gesellschaft fußt. Weshalb konnte gerade diese Form von Gesellschaft alle übrigen Formationen und Varianten überwuchern und bezwingen? In diesem Sinne scheint mir Max Webers Reise in die USA im Jahre 1904 bedeutsam – jenes Land, das die Moderne in nuce verkörpert und das 20. Jahrhundert wie kein anderes in seiner technischen, politischen, industriellen und kulturellen Entwicklung bestimmen sollte. Jenes Land, in dem der Kapitalismus für das 20. Jahrhundert in seiner härtesten und brutalsten Ausprägung angelegt ist. Ausführlich schildert Lawrence A. Scaff in seinem Buch „Max Weber in Amerika“ die Reise von Max und Marianne Weber durch die USA. (Eine Besprechung gibt es hier in der FAZ.)
Ein ungeheuer instruktives Buch, so zum Beispiel wenn die Webers die Schlachthöfe Chicagos besuchen, das Phantasmagorische der Stadt, seiner Bevölkerung und insbesondere die Massen der Arbeiter wahrnehmen. (Unvorstellbar immer noch, wie diese Masse der Arbeiter auf Dauer ruhig gestellt wurde, ohne das Haus samt Fundament in Stücke zu hauen und sich nicht nur den Kuchen, sondern sogleich die gesamte verdammte Bäckerei zu nehmen. Insofern ist es im Sinne Michel Foucaults durchaus angebracht, ebenso einen soziologischen Blick auf die Mechanismen der Macht zu werfen, die das Handeln noch bis ins Denken und in die Regungen der Körper hinein besetzen.)
Weiter geht die Reise der Webers nach St. Lous zum „Congress of Arts and Sciences“ am 19. September 1904, dabei fällt Webers Blick ebenso auf den Rassismus der USA, als er deren Süden bereist. Im 2 Teil widmet sich das Buch dann der Weber-Rezeption in den USA. Es ist als Überblick also unbedingt zu empfehlen – zumal es, was für viele ein Lese-Kriterium abgibt, sehr lebendig erzählt ist.
Max Weber ist einer der Theoretiker der Moderne, der ihre Ausprägungen von Rationalität, Herrschaft und Handlung in den Blick nahm und der die Komplexität derselben eben nicht in jener holistischen Theorie zu fassen vermochte, sondern in Ansätzen und Aufsätzen fragmentarisch umkreiste: eine Moderne, die mit dem Ersten Weltkrieg die Ordnung der Welt massiv änderte, mikrologisch bis ins Detail hinein umpolte. Eine Moderne, die unter dem Titel des Kapitalismus unsere Lebens- und Systemwelten noch heute bestimmt. Max Weber erlebte diese Wucherungen – bis hinein in den Stalinismus und Auschwitz als Zivilisationsbruch sowie der Bedrohung durch die Atombombe – nicht mehr. Er verstarb 1920 an der Spanischen Grippe. Seine Texte, insbesondere die in „Wirtschaft und Gesellschaft“ entfalten Sichtungen und Aspekte, geben deskriptiv darüber Aufschluß, wie es in der Kältekammer der Moderne zugeht, sie kreisen darum, wie sich jenes Stahlgehäuse konstituierte und auf welche Weise seine Begrifflichkeiten in der Praxis wirken.
[Im Zusammenhang mit jener Pandemie, die als Spanische Grippe zwischen den Jahren 1918 und 1920 weltweit rund 50 Millionen Todesopfern forderte, sei auf eine Darstellung von Wilfried Witte verwiesen: „Tollkirschen und Quarantäne. Die Geschichte der Spanischen Grippe“. Ein Buch, in dem Soziologie, Sozial- und Medizin- und Kulturgeschichte sowie Politik sich durchdringen und das eine ungewöhnliche Sicht auf diese Pandemie liefert.]