Ein Katalysator bedeutet in der Chemie ein Stoff, der eine Reaktion antreibt bzw. die Geschwindigkeit der Reaktion merklich erhöht, aber im Reaktionsprodukt dann nicht weiter auftaucht und als Stoff nicht weiter verbraucht wird. In der Welt der Literatur bzw. im Zusammenspiel von Leben und Literatur sowie empirischer und ästhetischer Subjektivität verhält es sich diesbezüglich komplexer. Es gibt Wahlverwandtschaften und es gibt Katalysatoren, die einen Text antreiben und darin zuweilen als Stoff, Motiv oder Gestalt durchaus wieder auftauchen können. Manche Leserinnen und mancher Leser vom „Zauberberg“ und den „Buddenbrooks“ wußte davon ein Lied zu singen. Und auch das Fräulein Bürstner (F.B.) in „Der Prozess“ (Bürstner – welch schöne Namenswahl mit leicht anzüglichem Subtext) oder Frieda Brandenfeld im „Urteil“, geschrieben in jener legendären Nacht, knapp einen Monat nachdem er Felice Bauer kennenlernte und drei Tage, bevor Kafka den ersten von rund 700 Briefen an Felice Bauer schrieb. Die Sucht nach Surrogaten.
Die unzähligen Briefe zwischen Prag und Berlin, die Felice Bauer und Franz Kafka einander schrieben – diese „Gespensterposten“ –, sind eine Form von Telekommunikation, die genauso ihr Ziel verfehlen kann. Geisterkommunikation. „Und nichts ist trauriger, als einen Brief an eine unsichere Adresse zu schicken, das ist dann ja kein Brief, das ist ein Seufzer.“ (F. Kafka) Niemand gibt die Garantie, daß eine Sendung ihren Empfänger erreichen muß. In vielfacher Hinsicht. Es sind die Gespenster, vor denen sich Kafka zeitlebens fürchtete, und es saugen diese Gespenster den Briefen ihre Kraft aus – die Kraft des Realen. Es entleert sich das reale Gegenüber in den Text, wird konturlos. Wiedergängertum. Aber es konstituieren diese (Leben) raubenden Gespenster etwas anderes: einen Text.
Der Maulwurfstunnel, der von Prag nach Berlin gegraben und der über das Medium des Briefes in Gang gesetzt werden sollte – im September 1912 nahm er seinen Anfang – bedeutete eine Form von bürgerlicher Normalität mit der Aussicht auf Ehe und gemeinsames Leben. So zumindest ließe sich zunächst und auf den ersten Blick eine solche umfassende Korrespondenz lesen und deuten. Denn wozu sonst nehmen zwei Menschen im Jahre 1912 die Mühen der Ferne und des Ausharrens in Kauf? Sicherlich nicht nur, um sich freundliche, anregende, aufregende Briefe zu schreiben, und zumal es sich bei Felice Bauer nicht um eine Frau handelte, die irgendwie im Umkreis der Berliner Literatenbohème wirkte oder gar selber schrieb, so daß sie für Kafka als literarische Gesprächspartnerin von Interesse hätte sein können. Im Gegenteil: Felice Bauer schrieb nicht und sie interessierte sich auch nicht sonderlich für die Prosa Kafkas, besaß keinerlei Gespür für die Kraft dieser Texte. Anders als später Milena Jesenská, die, was das Literarische betraf, ein vollkommen anderes Kaliber als Felice Bauer abgab. (Am 10. August 1896 in Prag geboren, am 17. Mai 1944 von den Deutschen im KZ Ravenbrück ermordet. So nebenbei in den Text-Raum geworfen.) Andererseits sollte man Felice Bauer nicht unterschätzen. Sie war eine emanzipierte und unabhängige Frau, in leitender Stellung tätig. Was mochte sie, neben der gemeinsamen Vorliebe für Palästina, an diesem Mann gereizt haben?
Sich kennenlernen – einander kennenlernen: In der Korrespondenz und im Austausch von Briefen, um immer neue Vorhänge aufzuziehen, hinter denen ein (zuvor unsichtbares) Wesen liegt, das nun in den Blick gerückt wird, um auf diese Weise hinter die Schleier zu blicken. Briefe zu schreiben, fungiert als ein Motor, der das Spiel von Nähe und Distanz als erotische Verlockung und als Attraktion hochtourig aufstachelt. Je länger ich mich in diese Korrespondenz hineindenke, desto mehr Rätsel geben die Briefe auf. Es ist bedauerlich, daß keiner der Briefe von Felice Bauer erhalten blieb bzw. zur Veröffentlichung freigegeben wurde.
Eine der eigenwilligsten Brautwerbungen verfaßte Kafka Ende August 1913 an den Vater von Felice Bauer, die er in seinem Tagebuch entwirft. Jedoch wurde dieser geplante Brief – wie auch der an Kafkas eigenen Vater – nie abgeschickt, und er stieße kaum auf die Zustimmung von Felices Vater, hätte dieser Brief ihn denn erreicht. Die – vermutlich gewünschte – Reaktion wäre die, daß der Vater sein Placet nicht gäbe. Wir können vermuten, daß es sich hierbei eher um einen Anti-Brief handelte, dessen eigentliches Ziel es war, den Empfänger gar nicht erst zu erreichen. Ein Brief als Selbstbefragung, um sich der eigenen Existenz im Schreiben zu vergewissern, eine Distanz zu erzeugen und von dieser Distanz im Schreiben Rechenschaft abzulegen. Ästhetische Subjektivität und Subjektentgrenzung des werdenden Schriftstellers entstehen im Akt des Briefeschreibens. [Zur ästhetischen Subjektivität im Zusammenhang mit der deutschen Romantik interessant ist Karl Heinz Bohrers Buch Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität.] Das ästhetische Ich löst sich von dem empirischen Ich ab:
„Sie zögern mit der Beantwortung meiner Bitte, das ist ganz verständlich, jeder Vater würde es jedem Bewerber gegenüber tun, das veranlaßt diesen Brief also ganz und gar nicht, äußersten Falls vergrößert es meine Hoffnung auf ruhige Würdigung dieses Briefes. Diesen Brief aber schreibe ich aus Furcht, daß Ihr Zögern oder Ihre Überlegung mehr allgemeine Gründe hat, als daß es, wie es allein notwendig wäre, von jener einzigen Stelle meines ersten Briefes ausgeht, die mich verraten konnte. Es ist dies die Stelle, die von der Unerträglichkeit meines Postens handelt.
Sie werden vielleicht über dieses Wort hinweggehn, aber das sollen Sie nicht, Sie sollen vielmehr ganz genau danach fragen, dann müßte ich Ihnen genau und kurz folgendes antworten. Mein Posten ist mir unerträglich, weil er meinem einzigen Verlangen und meinem einzigen Beruf, das ist der Literatur, widerspricht. Da ich nichts anderes bin als Literatur und nichts anderes sein kann und will, so kann mich mein Posten niemals zu sich reißen, wohl aber kann er mich gänzlich zerrütten. Davon bin ich nicht weit entfernt. Nervöse Zustände schlimmster Art beherrschen mich ohne auszusetzen und dieses Jahr der Sorgen und Quälereien um meine und Ihrer Tochter Zukunft hat meine Widerstandslosigkeit vollständig erwiesen. Sie könnten fragen, warum ich diesen Posten nicht aufgebe und mich – Vermögen besitze ich nicht – nicht von literarischen Arbeiten zu erhalten suche. Darauf kann ich nur die erbärmliche Antwort geben, daß ich nicht die Kraft dazu habe und, soweit ich meine Lage überblicke, eher in diesem Posten zugrunde gehen, aber allerdings rasch zugrunde gehen werde.
Und nun stellen Sie mich Ihrer Tochter gegenüber, diesem gesunden, lustigen, natürlichen, kräftigen Mädchen. Sooft ich es ihr auch in etwa fünfhundert Briefen wiederholte und sooft sie mich mit einem allerdings nicht überzeugend begründeten ‚Nein‘ beruhigte – es bleibt doch wahr, sie muß mit mir unglücklich werden, soweit ich es absehen kann. Ich bin nicht nur durch meine äußerlichen Verhältnisse, sondern noch viel mehr durch mein eigentliches Wesen ein verschlossener, schweigsamer, ungeselliger, unzufriedener Mensch, ohne dies aber für mich als ein Unglück bezeichnen zu können, denn es ist nur der Widerschein meines Zieles. Aus meiner Lebensweise, die ich zu Hause führe, lassen sich doch wenigstens Schlüsse ziehn. Nun, ich lebe in meiner Familie, unter den besten und liebevollsten Menschen, fremder als ein Fremder. Mit meiner Mutter habe ich in den letzten Jahren durchschnittlich nicht zwanzig Worte täglich gesprochen, mit meinem Vater kaum jemals mehr als Grußworte gewechselt. Mit meinen verheirateten Schwestern und den Schwägern spreche ich gar nicht, ohne etwa mit ihnen böse zu sein. Der Grund dessen ist einfach der, daß ich mit ihnen nicht das Allergeringste zu sprechen habe. Alles, was nicht Literatur ist, langweilt mich und ich hasse es, denn es stört mich oder hält mich auf, wenn auch nur vermeintlich. Für Familienleben fehlt mir dabei jeder Sinn, außer der des Beobachters im besten Fall. Verwandtengefühl habe ich keines, in Besuchen sehe ich förmlich gegen mich gerichtete Bosheit.
Eine Ehe könnte mich nicht verändern, ebenso wie mich mein Posten nicht verändern kann.“
Eine ungeheuerliche Selbstanklage und Abweisung, Kafka konstruiert Verwerfung auf Verwerfung, Aporie auf Aporie und allesamt sind sie am Ende (auch objektiv) wahr. „… in Besuchen sehe ich förmlich gegen mich gerichtete Bosheit“ ist allerdings eine der schönsten Sentenzen mit fast Berhardschem Format. Und es verhält sich ja auch in genau dieser Weise: Wozu Besuche, wenn man auch alleine schreiben kann? Wie schon in jenem Brief an Felice, wo sich Kafka als jener schreibende Kellerbewohner in die Schrift-Szene setzt, graviert sich hier eine Existenz als Literatur ins Tagebuch. Nein, nicht dort hinein im Grunde, sondern in eine Schrift, einen universalen, literarischen Text, der „Franz Kafka“ heißt. Empirisches und ästhetisches Ich klaffen auseinander, teilen sich. Es geht um die Veränderung der Existenzweise: die Lebensexistenz im bürgerlichen Habitus, zwischen Ehe und Arbeit, kann nicht zur Literatur führen. Hier, in dieser von Kafka angekündigten Existenzweise der Schreibzustände – unter anderem auch der des Kellerbewohners – gelingt es, daß Literatur und Leben eine wundervolle Melange bilden, daß ein Mensch in den Text tritt, für den Text entflammt, in den Text eintritt, wie der Mann vorm Gesetz es nicht wagte, als ihm die Möglichkeit offenstand, durch diese eine Tür, die nur für jenen einen Mann bestimmt war, hindurchzugehen. In die Schrift, ins Gesetz einzutreten.
Es gibt eine Erzählung bzw. ein Märchen aus China von einem Maler, der jahrelang an jenem einen Bild, jenem absoluten Werk malte und feilte und der über dieser Arbeit alt wird. Als er glaubte, daß dieses Gemälde nun vollendet sei, lud er sich seine sämtlichen, ihm noch verbliebenen Freunde ein. Die Freunde gruppierten sich in der Nähe des letzten Bildes, das dieser Maler in jahrzehntelanger Arbeit schuf, sie plauderten und tranken, standen um das Gemälde herum und betrachteten es. Darauf war ein lieblicher Park zu sehen, darin ein schmaler Weg entlangführe, um den herum Wiesen wuchsen. Der Weg führte eine geschwungene Anhöhe sanft hinauf und dort oben, am Ende des Weges stand ein Haus. Als die Freunde sich wieder dem Maler zuwandten, war der Mann nicht mehr da. Und wie die Freunde wieder ins Bild sahen, ging darin der Maler den Weg entlang, die Anhöhe hinauf, hin zu jenem Haus. Er öffnet die Tür, dreht sich noch einmal langsam um, lächelt, winkt ein letztes Mal in seinem Leben den Menschen zu, die ihn liebten, verschwindet in dem Haus und schloß die gemalte Tür hinter sich.
Dieses Changieren zwischen Nähe und Ferne, dem Wunsch nach leiblicher Nähe und nach der äußersten Distanz im Schreiben bestimmte das Denken und Handeln Kafkas im Umgang mit Felice Bauer bis zum Bruch ihrer Beziehung im Jahre 1917.
Klaus Theweleit schreibt in „Orpheus und Eurydike“: „Mit Unrecht haben die Herausgeber der ‚Briefe‘ Erich Heller und Jürgen Born, diese als Kafkas ‚Minnelieder‘ bezeichnet: die Briefe an Felice Bauer sind eins der aufschlußreichsten Bücher, die Schriftsteller über das Schreiben hinterlassen haben (nicht über die ‚Liebe‘). (…) War je ein einziger Brief davon wirklich an Felice Bauer adressiert?“ Letzteres wird sicherlich der Fall gewesen sein, denn niemand schreibt ins Leere für einen Menschen, für den man nicht entflammt oder den man nicht in irgend einer Weise reizvoll, bezaubernd oder interessant findet. Dennoch gingen diese Briefe auf ihre Weise ins Leere, konstituieren einen Schreibprozeß und verweisen auf eine Form von ästhetischer Subjektivität, die Kafka im Zuge seines Schreibens immer weiter entfaltete, bis hin zur Vollendung.
Motivationen und Motive für das Schreiben von Briefen an einen Menschen lassen sich schwierig ergründen. Erst recht nicht ex post facto. Die Leere des Gesichts der F.B., von dem Kafka schriebt, bleibt eines jener Rätselbilder. Ob Kafka „eine Frau als Anschreib-Pol“ (Theweleit) benutzte, ist Spekulation, mag allenfalls Theweleits teils sehr bemüht und konstruiert wirkende, wenngleich nicht unoriginellen Thesen tragen. Interessant scheinen sie mir lediglich in dem Punkt, wo es nicht mehr um das in Biographie verortete Wesen Frank Kafka, sondern einzig um den Text „Franz Kafka“ geht. Inwiefern sich ein Leben in der reinen literarischen Form durchstreicht und sich zur ästhetischen Subjektivität transformiert.