Sentimental Journey oder:
Die Wiederbelebung der guten alten Debatten
Zu Jürgen Habermas „Theorie des kommunikativen Handelns“ („Die Kritik der instrumentellen Vernunft“, S. 489 – 534)
Grob gesagt und hinreichend verkürzt kann man den Problemzusammenhang, den Habermas bezüglich kritischer (post-)marxistischer Philosophie* der 30er und 40er Jahre des letzten Jahrhunderts in diesem Kapitel aufzeigen will, wie folgt skizzieren: Wollte der marxistische Philosoph Georg Lukács, etwa in seinem Werk „Geschichte und Klassenbewußtsein“**, noch eine Kritik der Verdinglichung unter Weiterentwicklung der Marxschen Kritik des Warenfetischismus und mit Rekurs auf ein historisches Subjekt, nämlich des Proletariats, betreiben, das Möglichkeiten des Eingriffs und der Veränderung bot, so ist dieser Ansatz mit dem Fehlschlagen proletarischer Revolution und den „Integrationsleistungen der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften“ (TdkH, S. 489) verbaut. Auch eine „Anknüpfung an den objektiven Idealismus Hegels“ (S. 489) ist für Adorno problematisch geworden, weil die Bewegung Hegelscher Dialektik am Ende auf Affirmation in der Vermittlung hinausläuft. Diese Vermittlung ist in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft nicht mehr umstandslos zu haben. Es ist eine vorgetäuschte Versöhnung. Überspitzt gesagt, ist, contre Hegel, das Wirkliche lange nicht mehr vernünftig und das Ganze keinesfalls das Wahre. (In seinem Werk „Minima Moralia“ wird Adorno dann den zum geflügelten Wort aufgestiegenen Satz prägen, daß das Ganze das Unwahre sei. Wenn man diesen meinen mehrteiligen Essay zu Habermas bis zum Ende gelesen hat, dann wird man wissen, wie dieser Satz aus dem Denken Adornos heraus zu verstehen ist.)
Kritische Theorie der Adornoschen Prägung steht angesichts dieser gesellschaftlich und philosophisch bedingten Hürden vor einer schwierigen Situation. So kann Kritische Theorie, nach Habermas, ihre Potentiale in einer aporetischen Situation eigentlich nur noch als Aporie zur Entfaltung bringen, da es für die Vernunft in der Geschichte kaum noch Spielräume gibt. Vernunft wird damit zur universal instrumentellen, wenn die Vermittlungsleistungen mißlingen, so daß Vernunft nur noch im bloßen Funktionszusammenhang steht. Die „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno/Horkheimer kann als der Ausdruck dieser philosophischen Aporie, die sich gleichzeitig zu einer gesellschaftlichen transformiert, gewertet werden.
Die historische Situation der 40er Jahre stellte sich für die beiden Exilanten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer wie folgt dar: Einerseits gab es die sowjetische Entwicklung als gigantische Bürokratisierung und Mordmaschine (Brecht tat gut daran in die USA zu emigrieren, und er wußte zum Glück sehr genau, warum er dies tat. Adorno spricht von der Sowjetunion zu recht als gigantischem Arbeitslager), andererseits existierte der Faschismus als (reale) Möglichkeit der kapitalistischen Gesellschaften, auf Krisensituationen zu reagieren (ob diese Faschismustheorie stichhaltig ist, lasse ich einmal dahingestellt). Dazwischen angesiedelt ist der Kapitalismus anglo-amerikanischer Prägung samt seiner Massenkultur, dessen Integrationskraft ohne größere offene Repression das Bewußtsein einer breiten Bevölkerung zu binden vermag. (S. 490) Wieweit letzteres heute nach wie vor aktuell ist, dies mag jeder selbst beurteilen.
Verhängnisvoll für kritisches Denken ist dabei, so Habermas, der undurchdringliche Totalitätszusammenhang, den die kapitalistischen Gesellschaften seit den 20er Jahren des letzten Jhds erzeugten. Die wissenschaftlich-technischen Produktivkräfte, aus denen nach Marx noch ein subjektives Potential zur Veränderung hätte erwachsen können, verschmelzen derart mit den Produktionsverhältnisssen und büßen ihre systemsprengende Kraft ein, so daß sich diese bis ins Detail durchrationalisierte Welt zu einer vollständigen Totalität zusammenzieht. (S. 491) Für diesen Zustand gebrauchen Adorno/Horkheimer den Begriff des universellen Verblendungszusammenhangs. (Unter diesen fallen jedoch nicht nur die Verdinglichungstendenz durch die Wissenschaften, sondern genauso die Mechanismen der das Bewußtsein komplett besetzenden „Kulturindustrie“. Den Geburtstag einer bekannten Ente feierten ja kürzlich sogar einige Feuilletons. Zur Kulturindustrie aber später mehr.) Diese wissenschaftlich-technischen Produktivkräfte werden von der Kritischen Theorie, sei dies nun Adorno, Marcuse oder mit Abstrichen auch Bloch, als Positivismus zusammengefaßt bzw. als „positivistisch verengtes Wissenschaftsverständnis“ (S. 491) bezeichnet. Aus dieser affirmativen Tendenz der Wissenschaft ist Adornos vehemente Kritik am Positivismus zu verstehen, die ihren Höhepunkt dann im „Positivismusstreit in der deutschen Soziologie“ fand. Hierzu empfehle ich sehr den gleichnamigen Luchterhand-Band, der allerdings vergriffen ist. Das Buch zeigt sehr genau die Positionen der Kombattaten anhand ihrer Texte, die man dann freilich lesen muß, was nicht immer ganz leicht ist.
Ja, es sind dies alles alte Dinge und Diskussionen, die weit weit in der Vergangenheit liegen und jetzt ein wenig herüberwehen. Etwas sentimental: All die hitzigen Diskussionen in den Seminaren und Arbeitsgruppen. All die Gespräche mit einer hübschen, damals jungen mehr als blonden Frau zu den späten Abend- und in die Nachtstunden hinein, welche zum Morgen wurden und die im Bordeaux-Wein-Suff inmitten des Qualms der Zigaretten endeten, denn damals waren Rauchen und Trinken noch nicht so schädlich wie heute. Und vor allem gab es noch keine auf Effizienz getrimmten Studiengänge, sondern ich hatte das Glück zu weitgehend autonomer Bildung, wo es auch möglich war, sich das eine oder das andere Mal auf theoretische Abwege zu begeben.
Angesichts heutiger Verhältnisse sind diese Aspekte Kritischen Denkens bzw. des (Post-)Marxismus keineswegs veraltet. Schon gar nicht ist es das Denken Adornos, wie man es uns aus bestimmten Kreisen immer wieder einmal weißmachen will: daß man mit Hegel, Marx, Adorno philosophisch nicht mehr weiterkäme. Solche Annahmen sind bereits der Ausdruck verdinglichten, instrumentellen Denkens in der Philosophie: als ob die Texte Aristoteles‘, Kants, Hegels veralten könnten und nun nicht mehr gültig seien.*** Hierin, in der Entschärfung des kritischen Gehalts der Adornoschen Theorie liegt ja auch einer der ganz großen Vorwürfe gegen Habermas: daß er nämlich mit seinem Denken sowie seiner sprach- und kommunikationstheoretischen Wendung der Kritischen Theorie ihren endgültigen Todesstoß verpaßte. Allerdings bin ich hier mittlerweile milder gestimmt als früher und würde Habermas nun gegen eine Extremform dieser Kritik in Schutz nehmen wollen.
Doch zu Habermas‘ Paradigmenwechsel innerhalb der Kritischen Theorie und zu der Kritik daran später mehr. Zunächst möchte ich fortfahren und die Ausführungen Habermas‘ darlegen. Um an der Theorie der Verdinglichung trotzdem festhalten zu können, ohne aber weiterhin auf die Hegelschen oder Lukácsschen Prämissen zurückgreifen zu können, müssen andere Theorie-Konzepte gefunden werden, sind doch die Subjekte ohne Widerstand leisten zu können (oder zu wollen) in „den Sog der gesellschaftlichen Rationalisierung hineingerissen worden“ (S. 492) Hierfür gilt es nach Adorno Erklärungen zu finden. Detailliert werden diese in der „Dialektik der Aufklärung“ gegeben, insbesondere in den Kapiteln „Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung“ und in „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“. Bereits diese Titel sprechen für sich. Die spezifischen Gedankengänge dieser Kapitel lasse ich hier jedoch außen vor.
Insgesamt kann man sämtliche Kapitel der „Dialektik der Aufklärung“ (im Folgenden als DA gekürzt) als den Versuch bezeichnen, einen Ansatz auszubreiten, um über die Bedingungen der Möglichkeit von Verdinglichung unter (spät-)kapitalistischen Bedingungen zu reflektieren, die sich wuchernd ausbreitet und die in alle Daseinsbereiche, noch in die subjektivste Regung menschlicher Gesellschaft eindringt. Dadurch wird Verdinglichung der (philosophischen, aber auch der alltäglichen) (Selbst-)Reflexion immer unzugänglicher. Vor allem stehen Adorno/Horkheimer, im Rahmen der Marxistischen Theorie, vor der Situation, daß sie das Ausbleiben der proletarischen Revolution und überhaupt eines geschichtlichen Kollektivsubjektes Proletariat, das die Verhältnisse aufhebt, nicht nur erklären müssen, sondern in ihrer Theorie ohne diese Komponente auskommen müssen. Dabei geht es ihnen um eine (auch sozialpsychologische) Erklärung dafür, warum die entwickelten kapitalistischen Gesellschaften stabil bleiben, anstatt an ihren immanenten Widersprüchen zu kollabieren oder zu implodieren:
„Die Theorie soll erklären, warum der Kapitalismus gleichzeitig die Produktivkräfte steigert und die Kräfte des subjektiven Widerstands stillstellt. Lukács hatte die Gültigkeit einer Logik unterstellt, derzufolge der Prozeß der Verdinglichung des Bewußtseins zur Selbstaufhebung im proletarischen Klassenbewußtsein führen mußte.“ (S. 497)
Dieser dialektische Weg der Selbstaufhebung im besseren (Klassen-)Bewußtsein ist verbaut. Mittels einiger Umwege über Adornos „Negative Dialektik“ und über die Positivismus- bzw. Wissenschaftskritik Horkheimers in seinem Aufsatz „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“ versucht Habermas nun, die Aporien aufzuzeigen, in die Kritische Theorie gerät, wenn sie einzig noch unter dem Diktat instrumenteller Vernunft reflektieren kann, ohne daß es eine Möglichkeit des Auswegs gäbe. Auf die Hegelsche dialektische (und idealistische) Figur der Aufhebung und die (dialektische) Bewegungen innerhalb einer holistischen Philosophie können beide – als Begründungsfigur ihrer Theorie – aus den oben genannten Gründen nicht mehr zählen. Der absolute Weltgeist, die Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem oder – materialsitisch gewendet – das historische Subjekt Proletariat sind abhanden gekommen. Das Bewußtsein des Arbeiters hat dem des Kapitalisten nichts mehr voraus, im Gegenteil. Das Kapitel in der DA über die Kulturindustrie zeigt deutlich auf, weshalb dies so ist.
Objektive Vernunft in der Geschichte ist also problematisch geworden; was übrig bleibt, ist die subjektive, so Habermas. Insofern ist der Satz, daß das Ganze das Wahre ist, nicht mehr umstandslos zu haben. Dieser Einschnitt mag bereits philosophiegeschichtlich dadurch angedeutet sein, wenn man feststellen muß, daß eigentlich Hegel der letzte große Systemdenker in der Philosophie war. Kurz danach und mit dem Ende der Goethezeit zerfiel die Philosophie in ihre Einzeldisziplinen, da gab es Logiker, Metaphysiker, Ontologen, Ethiker, ästhetische Theoretiker und vieles mehr, jedoch alles ohne das geistige Band einer ordnenden, übergeordneten Systemphilosophie, und mit der Ausdifferenzierung der Naturwissenschaften und insbesondere der Soziologie als eigenständige Gattung, die auf Philosophie nur noch am Rande angewiesen sind, vollzog sich der Bruch vollständig. Keiner mochte mehr so recht die Magd der Philosophie sein, und kaum einer wagte noch Philosophie als System zu konstruieren.
Insbesondere dem bei Hegel thematisierten Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem mußte Adorno kritisch zu Leibe rücken (er tut dies insbesondere in seiner „Negativen Dialektik“), um eine Rettung des Besonderen bzw. des Nichtidentischen, also den Teilen, die nicht in der bloßen dialektischen Vermittlungsbewegung aufgehen, vorzunehmen. Wesentlicher Kritikpunkt dabei ist, daß innerhalb dieser dialektischen Bewegung bei Hegel eine Subsumption stattfindet, die bereits Ausdruck verdinglichten Denkens ist. (S. 500) Habermas schreibt hier, und dieser von ihm aufgeführte Punkt ist ganz zentral für die weitere Adorno-Kritik und die Auseinandersetzung mit der Philosophie Adornos in den 80er Jahren:
„Die dialektische Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem bleib, nach Hegels eigenen Begriffen, metaphysisch, weil sie dem Nichtidentischen am Besonderen sein Recht nicht läßt. (…) Allein, wie soll sich die Idee der Versöhnung, in deren Licht Adorno die Verfehlungen der idealistischen Dialektik doch nur sichtbar machen kann, explizieren lassen, wenn sich die Negative Dialektik als der einzig mögliche, eben diskursiv nicht begehbare Weg der Rekonstruktion (Hervorhebung von Bersarin) anbietet? An dieser Schwierigkeit, über ihre eigenen normativen Grundlagen Rechenschaft zu geben, hat die Kritische Theorie von Anbeginn laboriert; seitdem Horkheimer und Adorno Anfang der 40er Jahre die Wendung zur Kritik der instrumentellen Vernunft vollzogen haben, macht sie sich drastisch bemerkbar.“ (S. 500)
Die Arbeiten von Albrecht Wellmer, Herbert Schnädelbach, Martin Seel, Anke Thyen und teils auch Rüdiger Bubner sowie Karl Heinz Bohrer (diese beiden im Hinblick auf das Ästhetische bei Adorno) und in den 70er Jahren bereits Peter Bürger, um nur einige wenige, ganz unterschiedliche Autoren zu nennen, beschäftigten sich damit, diese Rekonstruktionen vorzunehmen sowie Strategien der Diskursivierung aufzuzeigen und Formen einer erweiterten (durchaus diskursiven) Rationalität herauszuarbeiten, die in der „Negativen Dialektik“ steckt. Das große Projekt der 80er Jahre in bezug auf Adorno war es, das Nichtidentische in unterschiedlichsten Konstellationen nun zum Sprechen zu bringen und beredt werden zu lassen, und zudem mit der Ästhetischen Theorie Adornos zu vermitteln bzw. im Sinne eines erweiterten Rationalitätsbegriffs auch der ästhetischen Rationalität einen Platz zu verschaffen. Die großen Debatten der Ästhetik sind auch heute noch ohne die Philosophie Adornos eigentlich gar nicht denkbar. Freilich haben sich einige Bedingungen geändert.
Habermas hat hier mit seiner Adorno-Kritik Entwicklungen und Denken angestoßen. Dies muß man anerkennen, bei allem Vorbehalt, den man ansonsten gegen sein Projekt einer sprachphilosophisch bzw. kommunikationstheoretisch gewendeten kritischen Theorie, die die Aporien vermeiden will, vorbringen mag.
Im 2. Teil dieses Essays werde ich genauer auf diese Aporien, in die sich nach Habermas die Kritische Theorie Adornos zu verstricken scheint, eingehen und die Lösungen, die Habermas anbietet, aufzeigen.
* Ich nenne in diesem Essay aus Gründen der Vereinfachung lediglich Adorno und teils auch Horkheimer als Vertreter der Kritischen Theorie. Daß hierzu eine Vielzahl an Personen (etwa W. Benjamin) in dieser Zeit der 30er und 40er Jahre aus dem Umkreis des ehemaligen Institus für Sozialforschung in Frankfurt/M zählte, unterschlage ich hier. Die Geschichte Kritischer Theorie bzw. der Frankfurter Schule ist in dem guten, instruktiven Buch von Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule, nachzulesen.
** Etwas simplifiziert, aber doch sehr pointiert kann man, wie Herbert Schnädelbach es tat, sagen, daß die drei großen philosophischen Werke der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, nämlich Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“ (1921), Georg Lukács‘ „Geschichte und Klassenbewußtsein“ (1923) und Heideggers „Sein und Zeit“ (1927) die drei großen Richtungen der Philosophie in Deutschland vorgaben. Diese Dreiteilung setzte sich, mit der bekannten 12-jährigen Unterbrechung (die sich für Heidegger allerdings nicht so sehr ergab) in den 50er Jahren fort.
*** Einer der Hegelkongresse der 80er hieß „Kant oder Hegel?“. Allein diese völlig bekloppte Titelfindung ist Ausdruck eines vollständig undialektischen und damit instrumentellen Denkens. Na ja,eine Platte von Marius Müller-Westernhagen hieß damals ja auch „Sekt oder Selters“