Von den Büchern, von Wespe und Orchidee – Gilles Deleuze

Es sind zwar diese Sätze von Deleuze und Guattari aus ihrem „Rhizom“ zum millionsten Male zitiert und durchdekliniert, in allen Arten und Popsoundtonlagen, als neue Lebenskunst, als Wortklang in Bars zum Weißwein, um 1993 die hübsche Susanne herumzukriegen, und die Adepten der Postmoderne in den 1990ern, die Deleuze als Mode trugen, weil sie gerade mal die Merve-Bändchen kannten, zitierten es ohne Unterlaß, ohne ansonsten zu bemerken, daß wir bei Deleuze ein strenges und sehr genaues Philosophieren finden und daß diese Sätze nun gerade keine Ausrede fürs wilde Fabulieren und Assoziieren in der Philosophie sind – doch wie dem auch sei, ich mag diesen Ton immer noch, und nach mehreren Stunden Lesearbeit hat es auch etwas Erfrischendes, und es ist immer noch eines der erfrischenden, befreienden Plädoyers für eine erotische, aber nicht freidrehende, für eine freie, aber nicht beliebige, für eine sinnliche, aber nicht vernunftslose Philosophie:

„Findet die Stellen in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt. Wir lesen und schreiben nicht mehr in der herkömmlichen Weise. Es gibt keinen Tod des Buches, sondern eine neue Art des Lesens. In einem Buch gibt‘ s nichts zu verstehen, aber viel, dessen man sich bedienen kann. Ein Buch muß mit etwas anderem ‚Maschine machen‘, es muß ein kleines Werkzeug für ein Außen sein. Keine Repräsentation der Welt, auch keine Welt als Bedeutungsstruktur. Das Buch ist kein Wurzelbaum, sondern Teil eines Rhizoms, Plateau eines Rhizoms für den Leser, zu dem es paßt. Die Kombinationen, Permutationen und Gebrauchsweisen sind dem Buch nie inhärent, sondern hängen von seinen Verbindungen mit diesem oder jenem Außen ab. Ja, nehmt, was ihr wollt! Wir haben nicht vor, eine Schule zu grüpnden; auch Schulen, Sekten, Cliquen, Kirchen, Avantgarden und Arrièregarden sind Bäume, die in ihrer lächerlichen Erhabenheit und durch ihren lächerlichen Sturz alles zermatschen, was sich Wichtiges ereignet.

Zu n, n – 1 schreiben, Schlagworte schreiben: macht Rhizom nicht Wurzeln, pflanzt nichts an! Sät nicht, stecht. Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten! Macht nie Punkte, sondern Linien! Geschwindigkeit verwandelt den Punkt in eine Linie. Seid schnell, auch im Stillstand! Glückslinie, Hüftlinie, Fluchtlinie. Laßt keinen General in euch aufkommen! Macht Karten, keine Fotos oder Zeichnungen? Seid der rosarote Panther und liebt euch wie Wespe und die Orchidee, Katze und der Pavian!“

Philosophie hat – unter anderem – etwas mit Kreativität und Kombination zu tun. Sich eines Textes zu bedienen, bedeutet zudem nicht, ihn in Beliebige und schon gar nicht, ihn ins Prokrustesbett zu quetschen. Der freie Umgang mit dem Fremden ist das am zweitschwierigsten zu Erlernende.

Keine Photographien zu machen, wird mir allerdings schwerfallen, wobei ich nichts gegen Karte und Gebiet und eine Literatur als Landvermessung habe. Und auch das Verstehen von Texten würde ich nicht verabschieden, wenn jemand unter solchem Abschied versteht, daß man Texte nur noch für seine Privatassoziation verwendet, um seine oftmals armen Ideen mit fremden Namen zu augmentieren. Aber es sind ja auch Deleuzes Texte so angelegt, daß man sich nicht nur aus ihnen bedienen kann – wobei es ja vielleicht doch ein Bedienen ist, wenn man nach der Lektüre von Teilen aus seinem Spinoza-Buch einen anderen Blick auf Spinoza plötzlich wirft. Bestäubungsszenarien gleichsam.

Solche von Deleuze beschriebenen Szenarien schließen freilich zugleich das Paradox ein, dennoch auf eine bestimmte Weise zu pflanzen, zu säen und zu photographieren. Darin eben liegt zugleich die Freiheit. Zumindest dann, wenn man es klug macht und das Niveau der Theorie nicht unterläuft.

Und auch die von Deleuze beschriebene Verabschiedung jeglicher Ideologien, in die man Literatur zwängt, oder jene Kritik der Indienstnahme  ist heute wieder mehr als aktuell:

„Die Literatur ist eine Verkettung, sie hat nichts mit Ideologie zu tun, es gibt keine und es gab nie Ideologie.“

„Schreiben hat nichts mit Bedeuten zu tun, sondern mit Landvermessen und Kartographiern, auch des gelobten Landes.“

Es sind Erkundungsreisen. Manchmal ins Herz der Finsternis oder in Kriegsgebiete, so wie vor 100 Jahren Ernst Jünger, der „In Stahlgewittern“ reiste.

An 18. Januar hatte Deleuze 95. Geburtstag.

 

Pour Gilles Deleuze – Postskriptum

„Mit Danone kriegen wir sie alle“
(Werbeslogan der 80er Jahre)

Gestern stand in einem Interview der Zeitschrift „Télérama“, das mit dem französischen Herausgeber der Texte von  Gilles Deleuze, David Lapoujade, geführt wurde:

„Natürlich hat sich der Kapitalismus seit zwanzig dreißig Jahren entwickelt, aber ihre [Deleuzes und Felix Guattaris] Reflexion über ‚Kontrollgesellschaften‘ ist aktueller denn je – als hätten sie die Umrisse des heutigen Kapitalismus bereits definiert. Sie haben gesehen, dass wir in eine Gesellschaft eingetreten sind, in der die Indivduen weniger einer permanenten Disziplinierung unterworfen sind. Kontrolliert werden sie eher über das Mittel von Informationen, die sie selber aussenden.“ (Quelle: Perlentaucher)

gilles_deleuze_2_h-672x372Gilles Deleuze, der sich vor 20 Jahren das Leben nahm, indem er am 4. November aus dem Fenster sprang (was heißt überhaupt: sich das Leben zu nehmen? Ist dies nicht eigentlich ein erobernder Akt? Sich das zu holen, was jedem Menschen zusteht: das Leben. Hier aber und in unserem Kontext der Sprache meint es genau das Gegenteil – auch dies ist bezeichnend und nicht ohne Bedeutung), schrieb in dem bis heute hin lesenswerten und nach wie vor aktuellen Aufsatz „Postskriptum über die Kontrollgesellschaft“:

„Die idiotischsten Spiele im Fernsehen sind nicht zuletzt deshalb so erfolgreich, weil sie die Unternehmenssituation adäquat zum Ausdruck bringen.

(…)

In den Disziplinargesellschaften hörte man nie auf anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgend etwas fertig wird: Unternehmen, Weiterbildung Dienstleistung sind metastabile und koexistierende Zustände ein und derselben Modulation, die einem universellen Verzerrer gleicht.

(…)

Zum Zentrum oder zur ‚Seele“ des Unternehmens ist die Dienstleistung des Verkaufs geworden. Man bringt uns bei, daß die Unternehmen eine Seele haben, was wirklich die größte Schreckensmeldung der Welt ist. Marketing heißt jetzt das Instrument der sozialen Kontrolle und formt die schamlose Rasse unserer Herren. Die Kontrolle ist kurzfristig und auf schnellen Umsatz gerichtet, aber auch kontinuierlich und unbegrenzt, während die Disziplin von langer Dauer, unendlich und diskontinuierlich war. Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch.“

Zwang wird schon lange nicht mehr von außen, von einer anonymen oder auch sichtbaren Macht ausgeübt, schon gar nicht von personifizierten Gestalten oder dem zweifachen Körper eines Königs, sondern, ganz im Sinne von Foucaults Konzept einer Biomacht internalisieren wir die Kontrollmechanismen, die sich damit zu einer Disziplinarmacht samt Selbstoptimierung transformiert. Vom Veganer, über den sinnlosen Gesundheitsfetischismus, die Überbehütetheit von Kindern und einem absurden Vernetzungwahn bis hin zum internalisierten Zwang, den wir nicht umhinkommen, uns anzutun, wenn wir noch irgendwie dabeisein und Arbeit haben wollen. Das Unternehmen ist der Ort schlechthin geworden. [Und wie hieß es schon in Fechners/Kempowskis „Tadellöser & Wolff“: „Die Firma, die Firma, die Firma!“]

Tja – die immer gleiche Klage, die immer selben Sätze, die Wiederkehr des Immergleichen im Theorem. T(h)eorema oder die Geometrie der Warenbeziehungen. Wie es so ist, wenn die immer selbe Scheiße unter dem identitären Bann die immerselbe Scheiße bleibt. So wie sie ist und der Betrieb von uns allen es verlangt, den wir mit unserem Wirken, unserem Tun und Texten, dem Schreiben am Dampfen halten. Aber nein, es dampft nichts mehr: wir sind inzwischen im digitalen Zeitalter. Schauen wir mal, wann Sascha Lobo das postdigitale ausruft. Nein keine Klage: Anklage!

Auch die Differenzspiele taugen allenfalls in ihrer Glasperlenform. Kunst etwa, die einmal als widerständig sich konzipierte, ist Teil des Betriebes. Selbst dort, wo sie als hermetisch sich erweist, ist ihre Kritik, ihre Opposition, ihr kalter Blick auf die Struktur häufig bereits vom System integriert und eingekauft, wenn nicht einkalkuliert. Kein Ort – nirgends. Allenfalls die Fluchtorte der Ästhetik oder in den winzigen Lücken und Falten bleiben Reste. Im stillen Winkel, weit ab von den Großstädten, den Theatern, den Museen. Vielleicht doch die Uckermark? Nur bitte ohne dieses dumm Deutschtümelnde.

La vie/la vide

Salute Gille Deleuze!

Selbstoptimierung und die Übertünchung der inneren Leere des Subjekts. Mit einem Blick auf Gilles Deleuzes Aufsatz „Postskriptum über die Kontrollgesellschaft“

Erfindet Euch nicht ständig neu und selbst, sondern verweigert Euch! Inszeniert ein No-Theater. Sich selbst zu schaffen und kreativ zu sein, dient in den meisten Fällen lediglich einer Optimierung des Selbst im Hinblick auf die Welt der Arbeit, um in der Verwertungslogik verfügbar und fungibel zu sein.

Deleuze schreibt in jenem Text:

„Zum Zentrum oder zur ‚Seele“ des Unternehmens ist die Dienstleistung des Verkaufs geworden. Man bringt uns bei, daß die Unternehmen eine Seele haben, was wirklich die größte Schreckensmeldung der Welt ist. Marketing heißt jetzt das Instrument der sozialen Kontrolle und formt die schamlose Rasse unserer Herren. Die Kontrolle ist kurzfristig  und auf schnellen Umsatz gerichtet, aber auch kontinuierlich und unbegrenzt, während die Disziplin von langer Dauer, unendlich und diskontinuierlich war. Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch.“

Man schuf, seit den 90ern, eine schöne neue Arbeitswelt: Kicker und Orangensaftmaschinen standen einst nur in den Werbeagenturen oder den ersten aufkeimenden größer werdenden IT-Buden herum – nirgends sonst. Dann verbreitete es sich. Es wurde die Mitternachtspizza von El Cheffe bestellt, damit auch spät abends noch gearbeitet würde. Diese Pizza war kultisch-ritueller Höhepunkt verlogener Arbeitszeit. Das Ritual wurde als witzig angesehen. Arbeit individualisierte sich; sie sollte das Ich treffen und vereinnahmen. Es wollte der Chef kein Feind mehr sein, sondern er spendierte eine kleine Prämienleistung, eine ultra-eventmäßige Weihnachtsfeier, wo man sich mit Gocha-Pistolen beschießt, aus denen Farbkugeln treffen oder verfehlen. Ich sehe Ende der 90er Jahre noch jene Mittdreizigjährigen, nicht mehr ganz jungen Männer und Frauen vor mir, die milde lächeln: „Hach, wozu brauchen wir denn einen Betriebsrat? Das ist doch sowas von old school!“

Subjektiv gefaßt, könnte man sagen: die Welt der Arbeit habe sich verbessert: Arbeit ist insofern kreativer geworden, als in ihr nicht mehr der monotone Rhythmus vorherrscht, sondern ein Teil des Ichs sich einbringen kann, der sich in der Arbeit verwirklicht sieht. Aber dieses Konzept übertüncht bloß den Charakter der Arbeit samt der Leere; es ist Bestandteil, um die Reflexions- und Bewußtlosigkeit aufzusteigeren. Man kann mit Adornos Befund aus der „Dialektik der Aufklärung“ (geschrieben Anfang der 40er im Exil, publiziert 1947) immer noch festhalten: Die Freizeit gleicht sich dem Rhythmus der Arbeit an und zugleich die Arbeit dem System der Freizeit, so sei ergänzt

Wer in sich nichts hat, der arbeitet eben. Und zu Hause wird dann etwas Pseudo-Zen-Mäßiges, etwas Kreatives oder Yoga getrieben, Seneca für Gestreßte, damit diese innere Leere nicht zum Bewußtsein kommt. Innerhalb des funktionalisierten Om-om und im Gleichklang des asketischen weißen Zimmers bleibt kein Raum mehr: Selbstmord des (kritischen) Bewußtseins ließe sich dieser Zustand der Pseudo-Verwirklichung nennen. Die große Mode: Philosophie, Kunst, Kreativität als Ratgeber des Selbst, um die Strategien der Optimierung zu liefern.

„Never give up!“ lautet die Parole des gestählten Arbeiters, ohne das einer das zugäbe; und selbst dem Ausbruch aus dieser Immanenz des subtilen Terrors der Arbeitswelt haftet noch der Warencharakter an, wenn solcher Ausbruch als Ratgeber auftritt. Man mag diesen Mechanismen religiöser Verklärung der Arbeit mit dem Film „Frohes Schaffen – ein Film zur Senkung der Arbeitsmoral“ von Konstantin Faigle entgegentreten.

Allerdings scheint mir diese Sicht als Konsequenz zu weich, und sie dockt teils bloß an den üblichen Harmlosigkeiten an. Im Grunde müßte man den Menschen, insbesondere in den angestellten Kreativberufen ihre Werkzeuge zur Sabotage an die Hand geben, sofern man es könnte, sofern es solche Werkzeuge noch gäbe. Doch wie, wenn sich der Arbeiter mit seinem Aggressor identifiziert und die Logik des Systems kaum noch zum Bewußtsein gelangt? Von der Disziplinar-  zur Kontrollgesellschaft wie es Deleuze in seinem Text formuliert. Die Menschen überwachen und regulieren sich selbst, es bedarf kaum noch der Beobachtung oder gar der Maßregelung von außen. Internalisierung nennt das die kritische Sozialpsychologie. „Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen“, so schreibt Deleuze. Auf diese Weise organisiert Arbeit die Subjekte – im Grunde und überspitzt formuliert, erfolgt diese Organisation  in einer Art Perversion jenes Satzes des frühen Marx aus der „Deutschen Ideologie“: einer sei morgens Fischer, abends Kritiker: eben: nach seinen Bedürfnissen tätig. Die Trennung von Individual- und Gesellschaftsinteresse ist in einer Art (negativer) Utopie der universalisierten Kreativ-Arbeit aufgehoben. Allenfalls in ihren inneren Widersprüchen mag eine solche „illusorische Gemeinschaftlichkeit“ am Ende doch scheitern. Spätestens nach dem ersten Burn out, denn Krankheitsversager und Minderleister sind das einzige, was die Welt der Arbeit um keinen Preis duldet. Allenfalls beim freizeitlichen Crossfit-Bootcamp-Training darf man kurz zusammensacken, um am nächsten oder zumindest doch am übernächsten Tag freilich wieder gestählt zu sein. Ein gesunder Körper bedeutet leider noch nicht: Reflektierter sowie kritisch arbeitender Geist.

Body Count

Es bewegen sich zur Dämmerung hin die verschwitzten Leiber mit erhöhter Geschwindigkeit rund um die Hamburger Außenalster. Es ist Samstagabend, es ist an ein friedliches Spazierengehen nicht zu denken, weil es im Zweisekundentakt an mir vorbeikeucht, röchelt, stöhnt und schwitzt. Humankapital stählt sich die Körper, fitnessisiert sich; die Selbstdisziplin, die Selbstkontrolle ist den Subjekten bzw. dem, was davon als kapitalisierter Körper im Hinblick auf die Arbeitswelt noch übrig blieb, so in Fleisch, Blut, Poren übergegangen, daß es keiner äußeren Disziplinarmacht mehr bedarf. Die Kontrollgesellschaften, so schreibt es Deleuze, lösten die Disziplinargesellschaften ab.

„In den Disziplinargesellschaften [über den Plural kann man streiten, ich halte ihn für unangemessen, Hinw. Bersarin] hört man nie auf anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgend etwas fertig wird: das Unternehmen, Weiterbildung, Dienstleistung sind metastabile und koexistierende Zustände ein und derselben Modulation, die einem universellen Verzehrer gleicht.

[…]

Viele junge Leute verlangen seltsamerweise, ‚motiviert‘ zu werden, sie verlangen nach neuen Ausbildungs-Workshops und nach permanenter Weiterbildung; an ihnen ist zu entdecken, wozu man sie einsetzt, wie ihre Vorgänger nicht ohne Mühe die Zweckbestimmungen der Disziplinierung entdeckt haben. Die Windungen einer Schlange sind noch viel komplizierter als die Gänge eines Maulwurfsbaus.“
(Gilles Deleuze, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften)

Es wird gelaufen, der gute Körper ist kulturelles Kapital, er dient der Funktion. Funktion und Form des Körpers müssen, nicht anders als beim guten Design, einander bedingen. Priorität besitzt der gestählte, der trainierte Crossfitbootcamp-Körper, der jeder Anforderung gewachsen sich zeigt. Im gesunden Körper wohnte früher ein gesunder Geist. So sagte man. Für die heutige Zeit ziehe ich dies stark in Zweifel. Aber im Rahmen der puren Sinnlichkeit mag ich diesen Anblick durchaus: Die straffen, unter dem engen modischen Sportdress hervorwölbenden Brüste, den Hintern formschön, als joggten und trainierten sie ein Leben lang, die hauteng anliegende Jogginghose, schlanke Fesseln, trainierte Arme. Und es laufen fast nur blonde Frauen im Sekundentakt. Da vergesse ich sogar die Kritische Theorie Adornos und die Kritik von Deleuze. Auch Männer hecheln, aber auf die achte ich nicht. Sie fallen nicht in mein Beuteschema. Mein Altherrenblick auf die Ärsche und Brüste stimmt mich mit der Welt versöhnlich. Ich blicke auf die Körper, fixiere die sekundären Merkmale des Geschlechts, zähle ab, setzte Werte, stelle Hierarchien auf, vergleiche.

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Sport dient nur noch sekundär der Gesundheit sowie der Steigerung des Denkens, sondern er wird benutzt, um sich selbst in der Arbeitswelt doppelt zu optimieren: ähnlich wie asiatische Philosophie oder dergleichen Meditationstechniken. Es geht nicht mehr um die Sache oder darum, sich im Zen in etwas zu versenken, sondern um die Funktionsleistung. Sich zu versenken, bleibt allenfalls Nebeneffekt. Die Frage, wie in einer verdinglichten und zugerichteten Welt zu leben sei, ist kaum noch zu beantworten. Sich den Widersprüchen zu stellen und diese dann auch auszuhalten, vermag kaum einer. Insofern laufen die Menschen in Horden in geschmackvoller, enganliegender Sportkleidung um die Außenalster und verderben mir die Bildwelt. Es gibt auf „Proteus Image“ weitere Photographien von der Alster.

Die Tonspur zum Sonntag – Gilles Deleuze, Félix Guattari, Jürgen Habermas, Kant und Liebficken

Für eine Ökonomie des Widerstands. Penetration und Revolution als prärationaler Diskurs 

Also, das hat was.

Und in Anbetracht all der Jahrestage, der Regungen, der Biographien, der Mutmaßungen (vom Alkohol her und über die Schlagworte komme ich da schon ziemlich in die Uwe Johnson-Regionen und auch von meiner schwarzen Lederjacke samt den rappelkurzen Haaren her geht das sowieso gut), im Blick auf all diese Subjektdiskurse als Fragment, der romantisch-schwarzen Wiedergänger, die nichts als langweilige Phantome sind, und des Gespenstertums der geschriebenen sowie der ungeschriebenen Briefe, im Namen des Gesetzes des Begehrens (J. Lacan) grub ich aus einem anderen Blog ein wunderbares Musikstück aus. Es ist im Grunde die musikalische Untermalung jener Passagen aus dem kleinen Büchlein „Rhizom“ von Gilles Deleuze und Felix Guattari aus dem Merve Verlag, der früher so arrogant-elitär sich gab, wie ich Ende der 80er durch meine Ray Ban-Sonnenbrille schaute, wenn es sommerte und Lichter flir(r)ten:

„Zu n, n – 1 schreiben, Schlagworte schreiben: macht Rhizom, nicht Wurzeln, pflanzt nichts an! Sät nicht, stecht! Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten! Macht nie Punkte, sondern Linien! Geschwindigkeit verwandelt den Punkt in eine Linie! Seid schnell, auch im Stillstand! Glückslinie, Hüftlinie, Fluchtlinie. Laßt keinen General in euch aufkommen! Macht Karten, keine Photos oder Zeichnungen! Seid der rosarote Panther, und liebt euch wie Wespe und Orchidee, Katze und Pavian.“

Man muß die Unmittelbarkeit mit dem Äußersten an Reflexion paaren, und als Quintessenz stimmte dem sogar der kritischte Theoretiker aller Kritischen Theorie  ohne Vorbehalt und Kritik zu. Und diese Paarung des Disparaten geht dann so:

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Ich denke, dieses Stück vereint – neben dem entgrenzenden, antiödipalen Deleuze-Bezug – über den Passus „Ein gutes Gespräch ist kaum zu ersetzen“ musikästhetisch Habermas‘ „Theorie des kommunikativen Handelns“ (vulgo: Liebficken. Ficken für vier. Du auf dem Rücken, ich über Dir) mit Kants „Kritik der praktischen Vernunft“: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Ach ja, da schwelgen und schwellen wir als „transzendental-empirische Doublette“ (Foucault). In diesem Zwischenraum, sozusagen der Arschfalte zwischen Astrophysik und Handlungsoption, konstituiert sich das Erhabene – als philosophischer Terminus technicus für Eingeweihte. Darauf kann ich mich ungehemmt asperger-syndromisch einigen. Nun aber naht der Herbst. Und auch die neue Woche auf Ihrem Lieblingsblog Aisthesis, wie immer und gewohnt mit vielen tollen Texten, Lektüren und Photographien. Bleiben Sie dem Blog gewogen, liebe Leserinnen und Leser.

Ihr Nikolai E. Bersarin

Prälude und kurzer Auftakt zu all den Verfransungen

(Nennen wir es einfach Rhizomisierung des Denkens
in den Blog-Welten)

Demnächst (wohl am Sonntag) wird hier ein mehrteiliger Text zu Hegel und Derrida, zum sogenannten Poststrukturalismus und seinem Verhältnis zur Dialektik Hegelscher Prägung erscheinen. Das ganze ist noch nicht durchkonzipiert, aber ein Eröffnungstext ist halbwegs geschrieben, einige Ideen und Ansätze sind auch vorhanden, was der Sache ja nicht abträglich sein muß. Ein Movens, ja ein Grund der Motivation mag zudem sein, daß ich es so sehr liebe, unfertige, halb nur zu Ende gedachte Projekte zu machen, vor allem: sie mit großer Geste anzukündigen, dann liegenzulassen, gar fallenzulassen, Umwege werden gegangen. Halten wir einmal kurz fest, um eine Übersicht zu den laufenden Verfahren zu bekommen, welche Projekte hier im Blog angerissen wurden:

Die Lektüre von Habermas‘ Adorno-Kritik aus der „Theorie des Kommunikativen Handelns“ habe ich beiseite gelegt, es stehen noch Lesungen zu Adornos „Meditationen zur Metaphysik“ aus, gleichfalls harrt die „Misreading-Nietzsche“-Serie in der Schleife, dann gibt es natürlich noch die angefangene Serie zur Postmoderne, vor allem aber die Passagen zu Walter Benjamin hin müssen dieses Jahr ausführlich begangen werden, eine Lektüre zum „Dialektischen Bild“ soll gegeben werden, und einige andere Texte zu Benjamin auch. Eine Besprechung von Adornos „Vorlesungen über Ästhetik“ hätte schon lange erscheinen sollen. So liegt vieles in der Planung und geht durcheinander. Teils finden sich Zusammenhänge und Tunnel zwischen den Themen, manches ist unvermittelt und steht solitär da. Wie Hartmut es auf Kritik und Kunst so treffend über das Bloggen schrieb:

„So ist das mit dem Bloggen: Kurze Wirklichkeits- und Möglichkeitsspitzen sind möglich, aber für eine stringente, langatmige Auseinandersetzung fehlen uns Zeit und Geld (will sagen: Wir müssen schließlich arbeiten, können ja das Jobben nicht unterbrechen) – was ich weder vorwurfsvoll noch selbstmitleidig noch als Ausrede meine, ich stelle einfach einen Sachverhalt fest.

(…)

Ich bin dennoch dankbar für die Bloggosphäe. Nirgends sonst habe ich in den letzten jahren soviel dazu gelernt. Bersarin schreibt über Benjamin? Der Abend ist gerettet, ich blättere und lese in alten Auszeichnungen. Mo schreibt phantastische Beiträge zur Autismuskritik? Schnell nochmal zum Börner/Plog greifen… undundund, ob wir über adstar oder Metalust reden…. Ich kann nur nicht alles abarbeiten, was ich abarbeiten müsste.“

Genau so verhält es sich, darin ist womöglich der Blog dem Essay verwandt, und es bietet sich eine Lektüre von Adornos  Aufsatz „Der Essay als Form“ an, um einen Blick zu bekommen für die Projekte unsystematisch-systematischen Schreibens: wie nämlich eine Form von dialektischer Philosophie aussehen kann, die zudem eloquent auftritt.

In der Welt der Blogs (und überhaupt im Internet) spiegelt oder verwirklicht sich in einer Spielart auch das von Gilles Deleuze und Felix Guattari konzipierte Rhizom als eine Form des Denkens und als Modus des Philosophierens: „In einem Rhizom gibt es keine Punkte oder Positionen wie etwa in einer Struktur, einem Baum oder einer Wurzel.“ (G. Deleuze/F. Guattari, Rhizom, S. 14, Merve Verlag, Berlin 1977) Es gibt, Linien, Bewegung und Vielheit, aber keinen Ausgangspunkt, von dem aus die Verwurzelung beginnt, aus eins wird eben nicht zwei und dann Vielheit. In diesem Sinne gibt es keinen Ursprung. (Dazu demnächst mehr bei der Lektüre von Derridas Différance.)

Dieser Zusammenhang zwischen dem Internet sowie dem Rhizom ist sicherlich nicht originell und bereits vielfach geäußert. Trotzdem: Man kann sich, so auch in diesem Blog, in die verschiedenen – mal zusammenhängenden, mal disparaten – Themen einlesen, hineinklicken, indem man dem Link folgt, und man kann neue Verweise entdecken: Eine andere Form von Zusammenhang und Struktur als beim Buch läßt sich erzeugen, indem der lineare Fluß des Buches gebrochen wird. Ich will nicht behaupten, daß hier alles mit allem zusammenhängt – solche Sätze laufen auf Trivialität hinaus –, aber es herrscht doch eine bestimmte Linie vor, die Themen und Felder umkreist.

Solches Rhizomartige ist nicht neu; es gab diese komprimierten, auf ein Projekt bezogenen Verästelungen und Konstellation (den Begriff hier auch im astronomischen Sinne genommen) etwa 1999/2000 bei „Null“ von Thomas Hettche und Jana Hensel.

Das sei als eine Art Gebrauchsanweisung für den Umgang mit all den in diesem Blog verhandelten Projekten verstanden: Es herrscht hier gewissermaßen ein zusammenhangloser Zusammenhang. Aber sicherlich ist dieser Verweis auf Deleuze/Guattari auch eine kleine Ausrede, um das Sich-Verzetteln zu kaschieren.

Trotz mannigfaltiger Kritik, die man an dem Buch „Rhizom“ und generell am Denken von Gilles Deleuze und Félix Guattari üben kann, ist „Rhizom“ doch lesenswert. Man muß allerdings einen gewissen Pathos des Buches, der teils romantische, teils nietzscheanische Züge trägt, übergehen, wenn man es denn kann. Vielleicht liest sich dieses kleine Buch gerade deshalb in jenen jugendbewegten wilden Jahren so gut. Es besitzt eine Fahrt, die man im akademischen philosophischen Diskurs vielfach vermißte, es setzte die Phantasie frei, bricht aus den Bahnen des Üblichen aus, ist, ganz mimetisch, selber eine solche Art von Landkarte und Rhizom, wie es sie „beschreibt“ und damit selbstreferenziell und eine Form der Autopoesis, es spiegelt eine Form des antidialektischen Poststrukturalismus in nuce wider. (Der Gegenpart eines sozusagen dialektischen Poststrukturalismus ist sicher Jacques Derrida.) Diese Aspekte, die Faszination hervorrufen, täuschen einen jedoch zugleich über die Schwächen des Buches hinweg. Dem analytischen Denker wird das Buch sowieso ein Greul sein. Zitieren wir aber zum Abschluß trotz alledem, ohne Kommentar und Kritik ein paar verstreute Passagen:

„Ein Buch hat weder Subjekt noch Objekt, es ist aus den verschiedensten Materialien gemacht, aus ganz unterschiedlichen Daten und Geschwindigkeiten. Sobald man das Buch einem Subjekt zuschreibt, vernachlässigt man die Arbeit der Materialien und die Äußerlichkeit ihrer Beziehungen. (…)

Die Literatur ist eine Verkettung, sie hat nichts mit Ideologie zu tun, es gibt keine und gab nie Ideologie. (…)

Schreiben hat nichts mit Bedeuten zu tun, sondern mit Landvermessen und Kartographieren, auch des gelobten Landes. (…)

Jedesmal, wenn segmentäre Linien in eine Fluchtlinie explodieren, gibt es Bruch im Rhizom, aber die Fluchtlinie ist selbst Teil des Rhizoms. Diese Linien verweisen ununterbrochen aufeinander. Deshalb kann man nie von einem Dualismus oder einer Dichotomie ausgehen, auch nicht in der rudimentären Form von Gut und Böse. Man vollzieht einen Bruch, zieht eine Fluchtlinie; man riskiert aber immer, auch hier auf Organisationen zu stoßen, die das ganze erneut schichten, auf Formationen, die die Macht einem Signifikanten zurückgeben, und auf Zuordnungen, die ein Subjekt wiederherstellen – alles, was man will, vom Wiederaufleben des Ödipus bis zu faschistischen Verhärtungen. (…)

Michel Foucault antwortete auf die Frage, was für ihn ein Buch sei: eine Werkzeugkiste. (…) Es gibt keinen Tod des Buches, sondern eine neue Art zu lesen. In einem Buch gibt‘s nichts zu verstehen, aber viel dessen man sich bedienen kann. (…)

Zu n, n -1 schreiben, Schlagworte schreiben: macht Rhizom, nicht Wurzeln, pflanzt nichts an! Sät nicht, stecht! Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten! Macht nie Punkte, sondern Linien! Geschwindigkeit verwandelt den Punkt in eine Linie! Seid schnell, auch im Stillstand! Glückslinie, Hüftlinie, Fluchtlinie. Laßt keinen General in euch aufkommen! Macht Karten, keine Photos oder Zeichnungen! Seid der rosarote Panther, und liebt euch wie Wespe und Orchidee, Katze und Pavian.“

Ob all dies seine Richtigkeit hat, lasse ich dahingestellt. Teils ist das Konzept überfrachtet oder spitzt schlagwortartig zu. Aber trotzdem war es interessant, in dieses kleine Buch von Deleuze/Guattari nach Jahren einmal wieder hineinzulesen, als kleines Dokument des Poststrukturalismus sozusagen, wo die Grenze zwischen Philosophie und Literatur verschwimmt, durchlässig wird, und als nützliche Ausrede für mein Verzetteln und Verzweigen.