Es sind zwar diese Sätze von Deleuze und Guattari aus ihrem „Rhizom“ zum millionsten Male zitiert und durchdekliniert, in allen Arten und Popsoundtonlagen, als neue Lebenskunst, als Wortklang in Bars zum Weißwein, um 1993 die hübsche Susanne herumzukriegen, und die Adepten der Postmoderne in den 1990ern, die Deleuze als Mode trugen, weil sie gerade mal die Merve-Bändchen kannten, zitierten es ohne Unterlaß, ohne ansonsten zu bemerken, daß wir bei Deleuze ein strenges und sehr genaues Philosophieren finden und daß diese Sätze nun gerade keine Ausrede fürs wilde Fabulieren und Assoziieren in der Philosophie sind – doch wie dem auch sei, ich mag diesen Ton immer noch, und nach mehreren Stunden Lesearbeit hat es auch etwas Erfrischendes, und es ist immer noch eines der erfrischenden, befreienden Plädoyers für eine erotische, aber nicht freidrehende, für eine freie, aber nicht beliebige, für eine sinnliche, aber nicht vernunftslose Philosophie:
„Findet die Stellen in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt. Wir lesen und schreiben nicht mehr in der herkömmlichen Weise. Es gibt keinen Tod des Buches, sondern eine neue Art des Lesens. In einem Buch gibt‘ s nichts zu verstehen, aber viel, dessen man sich bedienen kann. Ein Buch muß mit etwas anderem ‚Maschine machen‘, es muß ein kleines Werkzeug für ein Außen sein. Keine Repräsentation der Welt, auch keine Welt als Bedeutungsstruktur. Das Buch ist kein Wurzelbaum, sondern Teil eines Rhizoms, Plateau eines Rhizoms für den Leser, zu dem es paßt. Die Kombinationen, Permutationen und Gebrauchsweisen sind dem Buch nie inhärent, sondern hängen von seinen Verbindungen mit diesem oder jenem Außen ab. Ja, nehmt, was ihr wollt! Wir haben nicht vor, eine Schule zu grüpnden; auch Schulen, Sekten, Cliquen, Kirchen, Avantgarden und Arrièregarden sind Bäume, die in ihrer lächerlichen Erhabenheit und durch ihren lächerlichen Sturz alles zermatschen, was sich Wichtiges ereignet.
Zu n, n – 1 schreiben, Schlagworte schreiben: macht Rhizom nicht Wurzeln, pflanzt nichts an! Sät nicht, stecht. Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten! Macht nie Punkte, sondern Linien! Geschwindigkeit verwandelt den Punkt in eine Linie. Seid schnell, auch im Stillstand! Glückslinie, Hüftlinie, Fluchtlinie. Laßt keinen General in euch aufkommen! Macht Karten, keine Fotos oder Zeichnungen? Seid der rosarote Panther und liebt euch wie Wespe und die Orchidee, Katze und der Pavian!“
Philosophie hat – unter anderem – etwas mit Kreativität und Kombination zu tun. Sich eines Textes zu bedienen, bedeutet zudem nicht, ihn in Beliebige und schon gar nicht, ihn ins Prokrustesbett zu quetschen. Der freie Umgang mit dem Fremden ist das am zweitschwierigsten zu Erlernende.
Keine Photographien zu machen, wird mir allerdings schwerfallen, wobei ich nichts gegen Karte und Gebiet und eine Literatur als Landvermessung habe. Und auch das Verstehen von Texten würde ich nicht verabschieden, wenn jemand unter solchem Abschied versteht, daß man Texte nur noch für seine Privatassoziation verwendet, um seine oftmals armen Ideen mit fremden Namen zu augmentieren. Aber es sind ja auch Deleuzes Texte so angelegt, daß man sich nicht nur aus ihnen bedienen kann – wobei es ja vielleicht doch ein Bedienen ist, wenn man nach der Lektüre von Teilen aus seinem Spinoza-Buch einen anderen Blick auf Spinoza plötzlich wirft. Bestäubungsszenarien gleichsam.
Solche von Deleuze beschriebenen Szenarien schließen freilich zugleich das Paradox ein, dennoch auf eine bestimmte Weise zu pflanzen, zu säen und zu photographieren. Darin eben liegt zugleich die Freiheit. Zumindest dann, wenn man es klug macht und das Niveau der Theorie nicht unterläuft.
Und auch die von Deleuze beschriebene Verabschiedung jeglicher Ideologien, in die man Literatur zwängt, oder jene Kritik der Indienstnahme ist heute wieder mehr als aktuell:
„Die Literatur ist eine Verkettung, sie hat nichts mit Ideologie zu tun, es gibt keine und es gab nie Ideologie.“
„Schreiben hat nichts mit Bedeuten zu tun, sondern mit Landvermessen und Kartographiern, auch des gelobten Landes.“
Es sind Erkundungsreisen. Manchmal ins Herz der Finsternis oder in Kriegsgebiete, so wie vor 100 Jahren Ernst Jünger, der „In Stahlgewittern“ reiste.
An 18. Januar hatte Deleuze 95. Geburtstag.