Steile Thesen lassen sich über diese Region aufstellen: Der Elsaß ist Deutschland, bloß mit dem Unterschied, daß er nicht zu Deutschland gehört. Seine Bewohner könnten Deutsche sein, obwohl sie es nicht sind. Der Elsaß ist so unfranzösisch, daß er im Grunde eine autonome Region abgeben müßte. Der Elsaß stellt sich derart spießig dar, daß er natürlich zu Frankreich gehört, denn wer meint, der Franzose oder die Französin an sich seien per se unkonventionell, der irrt. Der Kleinbürger ist, nach Region genommen, auf seine Weise spießig – mit Heidegger gesprochen handelt es sich, in Anklang in die Jemeinigkeit aus „Sein und Zeit“, um die Je-Spießigkeit. Wer die alemannische Spießigkeit lesen möchte, der mag einen Blick in Heideggers Text „Warum bleiben wir in der Provinz?“ werfen. Es mangelt Heidegger, wie Adorno zu recht feststellte, vollständig an der für die Moderne nötigen Urbanität. Man lese die „Feldwege“. Ich selber bin, Gott sei es gelobt und gepriesen, nicht spießig, da ich mich für das Nichts, für die Unentschiedenheit für den Deus absconditus entschieden habe, und stehe insofern als gutes (transzendentales) Bewußtsein, als Hegelscher Geist außen vor (und doch mittendrin, denn in Hegels Denken gibt es kein Draußen). Und weil ich es mit der Bartlebyschen Methode des „I would prefer not to.“ halte, kann ich mich sogar als den großen Verweigerer bezeichnen. Wie hieß es einst in der DDR? Keiner schweigt so schön wie Stephan Hermlin.
Der Elsaß ist, wie die meisten ländlichen Regionen, bodenständig. Manche nennen diese Verwurzelungen und Kultivierungen des Regionalen „Tradition“, andere „Heimat“. Dies läßt sich in den verschiedensten Weisen ausspielen – im Guten wie im Schlechten. An diesen Begriffen mag als Rettung gegen die Zumutungen einer Moderne etwas dran sein, wenn sie frei vom Ressentiment und von jenem Geist der Rache sind, den bereits Nietzsche im „Zarathustra“ als das große Übel und das eigentlich zu Überwindende charakterisierte. Dabei sind in der sprachlichen Darstellung dieser Phänomene Heimat und Tradition die Grenze zum Gesinnungskitsch und zu blubbernder Sprache, zum (unfreiwillig) Komischen sowie zum gelungenen poetischen Versuch, das Spezifische in der Sprache zu bewältigen und einen adäquaten und ganz neuen Ausdruck zu finden, teils fließend. Die Nähe Handkes und Heideggers, die ich freilich beide auf ihre Weise durchaus schätze – ich perhorresziere Heideggers nicht vollständig, er ist ja nur ein Nazi – müßte untersucht werden. Das Ringen um den Ausdruck, die Dingontologie: es changieren diese Aspekte bei Handke und Heidegger zwischen dem Dichterischen und dem Gestanzten. Handkes drei Versuche rechne ich zu den großen Texten der Gegenwartsliteratur.
Und in einem guten Sinne geben solche Begriffe wie „Heimat“ und „Tradition“ bzw. die regionalen Spezifika ein Korrektiv ab gegen jenes urbane Einerlei, daß sich vor allem in der Architektur manifestiert: In den Städtezentren vermag man anhand des Baustils neuer Funktions-Gebäude und der dort siedelnden Einheitsgeschäfte – teils – kaum noch den Unterschied wahrzunehmen, ob sich der Reisende nun in Hamburg, Düsseldorf, Berlin, Stuttgart oder München befindet. Lediglich dort, wo historischer Stadtkern vorhanden ist, existieren Differenzierungen. Dabei ist dem Reisenden jedoch nicht immer ganz klar, was echt und was simuliert ist. In Straßburgs Zentrum, rund um das Münster herum, vermag ich nicht zu sagen, ob es sich bei diesem Fachwerk um Rekonstruktionen handelt oder ob diese Straßen- und Gassenzüge eine ursprüngliche Altstadt darstellen. Doch zu den Spezifika schreibe ich später mehr.
Zumindest jedoch ist der Elsaß eine Region, die insofern etwas Besonderes ist, als daß dort nicht nur verschiedene Sprachräume aufeinander treffen und sich vermischen, sondern auch die nationalen Grenzen variierten, was sich bereits an den Namen von Ortschaften ablesen läßt. Es stellt sich die immer wieder absurde Frage: Wo und an welcher Stelle ist eine Grenze, eine Markierung zu setzen, und warum ist sie gerade dort zu setzen? Eine „natürliche“ Markierung zumindest ist der Rhein: Rechtsrheinisch der Schwarzwald, linksrheinisch die Region Alsace, die sich in die Départements Bas-Rhin und Haut-Rhin unterteilt. Westlich begrenzen die Vogesen den Elsaß. Wer gerne spaziert, wandert oder gar bergwandert, der ist in den Vogesen gut aufgehoben. Ich selber bin nicht nur bequem, sondern ganz benjamin-mimetisch den Strapazen eines Aufstiegs bei Hitze und ohne Training nicht gewachsen und habe auch keine Lust dazu. Warum wandern (ich meine nicht spazierengehen), wenn man auch ins Restaurant gehen kann? Während der Elsaß zumindest am Wochenende doch gut von den Deutschen frequentiert wird, schien mir das in den Vogesen ein wenig anders. Hier hielten sich überwiegend die Franzosen auf.
Was im Elsaß auffällt ist, daß die meisten Franzosen dort mühelos Deutsch können. Wer kein Französisch spricht, der kommt trotzdem gut durch diese Landschaft. Das ist ganz anders als in anderen Regionen von Frankreich. Wer zu den mürrischen, störrischen Bretonen fährt und des Französischen nicht mächtig ist, der wird noch unhöflicher behandelt als die in der Bretagne urlaubenden Franzosen. Die bretonischen Eingeborenen behandeln selbst ihre Landsleute wie lästige Anwesende, denen gleich zum Beginn klargemacht wird, daß sie möglichst bald und schnell wieder fort sollen. In dem Ort Le Conquet durften meine Freundin und ich im Jahre 2004 beobachten, wie ein bretonischer Wirt den schweren Eisenfuß eines Tisches, welchen er umzustellen beliebte, der Frau eines Ehepaares mit Kindern auf den Fuß knallte. Als diese auf Französisch Aua schrie, schaute der Wirt kurz und ging ohne ein Wort zu sagen weiter. Wer andererseits die Asterix-Comics gelesen hat, der kann diese Region gut einordnen.
Mir hat die Bretagne dennoch gut gefallen, denn als Deutscher Besatzungsoffizier habe ich in Frankreich wenig Probleme, ich verhalte mich meist jüngermäßig und ästhetisiere. Meine Freundin wollte nach der Bretagne niemals mehr in diese Region fahren. Lediglich Brest hat sie fasziniert, und ich muß sagen, daß ich die Faszination für diese Stadt teile. Sie ist, das sei erwähnt, durch den Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört und von den Alliierten zerbombt worden, weil sich dort die Häfen für die Deutsche U-Bootflotte sowie die Marinebasen befanden. Bei Wikipedia heißt es: „macht Brest heute eher den Eindruck einer weitgehend gesichtslosen Planstadt mit Betonbauten.“ Dies ist architektonisch großer Blödsinn, denn wer die Architektur der 50er, 60er Jahre schätzt, der wird in Brest fündig. Diese Stadt ist architektonisch und von ihrem Flair her ein Ort, der dazu einlädt, länger zu verweilen, genauer hinzusehen.
Aber zurück zum Elsaß. Man spricht Deutsch. Es schadet freilich nicht, Französisch zu reden, auch wenn einem die Einheimischen dort ihr Deutsch aufdrängen. Lediglich bei den Verhandlungen mit unserer Vermieterin war ich froh, daß diese Deutsch konnte, denn so gut ist mein Französisch nicht, als daß ich Details der Wohnungswirtschaft und Appartementwirtschaft kenne. Wir wohnten in Obernai. Dieser Ort liegt etwa 30 km südwestlich von Straßburg, und es ist eine für diese Region typische pure Fachwerkstadt. Ein Fachwerkhäuschen reiht sich ans andere. Es gehen zuweilen freilich Menschen durch diese Stadt, die ich in Berlin für Kleindealer oder Junkies halten würde – wenige zwar, aber ich sehe das als Berliner sofort. Denn auch Obernai hat neben dem Fachwerk kleine Vororte, die außerhalb der alten Stadtmauer liegen, wo der Raum geschaffen wurde für den Bodensatz des Kapitalismus. In Frankreich spaziert man nicht einfach durch eine Vorstadt und denkt sich: „Och, is ja ganz interessant!“ In Straßburg zumindest sollte man ein wenig hinschauen, wo man sich befindet und flaniert.
Diese Anderen in Obernai, die welche keine Touristen waren, die allerdings von den Einheimischen nicht als ihresgleichen gesehen werden, gingen freilich in der Menge unter. Wesen, die an der Grenze dazu sind, Rechtssubjekte zu sein, die herausfallen. Der Homo saccer von Agamben fällt einem hierbei – zumindest in einem übertragenden Sinne – ein,. Die meisten Menschen in dieser Fachwerkstadt sind Touristen, viele Franzosen, die sowieso gerne in ihrem eigenen Land verreisen, aber auch Deutsche, insbesondere die Motorradfahrer.
Zum Elsaß muß man schreiben, daß er eine der Hochburgen der „Front National“ ist und auch die nationalistische Partei „Alsace d’abord“ lag dort gut im Trend. Wenn man für eine kurze Zeit in die Region reist, merkt der Reisende jedoch davon wenig, es sei denn, man hält gezielt Ausschau. Die bürgerlichen Kleinbürger dort sind zumindest dem Habitus nach arg konservativ. Anders freilich als in Paris und in seiner unmittelbaren Umgebung der Banlieus – insbesondere in den 80er Jahren – entdeckte ich im Elsaß kaum faschistische Schmierereien, was freilich wenig aussagt, denn es ist diese Region eine solche, die extrem vom Tourismus lebt und insofern, so steht zu vermuten, von jeglicher Devianz unmittelbar gereinigt wird. Nur wer ein wenig den Blick hat, der sieht die Verborgenen. Im Elsaß fallen die Reisende und der Reisende zwischen den Menschen bereits auf, wenn sie jung oder im mittleren Alter sind und zudem noch ohne Kinder reisen. Aber Kinder sind nun einmal wie die Pest. Nur schlimmer.
Es geht im zweiten Teil dann mit dem Bericht weiter, und es gibt Reisephotographien hier zu sehen.
Ich mache bei den Photographien keine Ortsangaben, außer dort, wo ich es aus dramaturgischen Gründen für wichtig halte. Die Bilder sind an verschiedenen Orten des Elsaß photographiert. Fragen wie „Wo ist das denn?“ bitte ich nur dann zu stellen, wenn dafür ein wichtiger Grund existiert.