In der roten Robe, der Kardinal. Die Brille als ein Mittel und Medium, um sichtbar zu machen, was dem bloßen menschlichen Auge verschwommen scheint. Von El Greco gemalt, als Auftrag, diesseitig und im Portrait einer Figur, Großinquisitor Kardinal Fernando Niño de Guevara.
Bilder der Macht. Kalt, modern und teuer. Das Leben der Macht in den Bildern und das Leben der Bilder als Macht und Wirkung, und es wirkt und arbeitet diese Strukturierung des Bildes intensiv in den Gemütern nach. Bilder repräsentieren nicht nur eine Person, die mit bestimmten Insignien von Macht sowie Aura ausgestattet ist, sondern sie reproduzieren zugleich jene Macht und sind insofern Multiplikatoren von Herrschaft. Die von unserer Perspektive aus gesehen autonome Kunst als Formsprache und Selbstzweck bleibt ein zweischneidiges Schwert, sobald ein Funktionszusammenhang oder ein Referenzrahmen dem Bild seinen Kontext und seinen Subtext oktroyiert. Vor dem Großinquisitor Kardinal Fernando Niño de Guevara soll selbst der spanische König Furcht gehabt haben. Es reichen die Worte und die Gesten. Diese präsentieren sich, wenn sie in der Echtzeit und im unmittelbaren Raum, der zu ordnen ist, nicht verfügbar gemacht werden können, in der medialen Vermittlung. Für die Tathandlungen mit den nötigen Instrumenten sind allein die Lakaien zuständig. Jenes Gemälde gibt nicht objektiv die Grausamkeit jenes Menschen wieder. Aber im Wissen um die Person assoziiert der Betrachter sie. Der Ruf eilt dem Bild voraus. Der Eigenname setzt die Szenerie. Und insofern macht es in der Bildgebung etwas aus, ob dort „Kardinal Fernando Niño de Guevara“ oder der „Heilige Jacobus“ getitelt wird. Repräsentation auch im Namen.
Die Lektüre zu diesem Bild ließe sich mit Hans Beltings Buch „Faces“ ergänzen. „Portrait und Maske. Das Gesicht als Repräsentation“ Ein Gesicht, das zwar kein Antlitz ist, das aber sehr wohl auf einen Status verweist. In welcher Linie steht dieses Bild, ist es noch ein Portrait oder fällt es bereits aus dem Rahmen der Portraits? Verhält es sich bereits in El Grecos „Großinquisitor“ in der Weise wie es Belting schreibt?: „Im Portrait wurde die Emanzipation des Subjekts in Zeiten höfischer Gesellschaft und kirchlicher Vormundschaft demonstriert. Gerade im Portrait der frühen Neuzeit zeichnen sich die Konflikte des Individuums mit der Gesellschaft deutlicher als in den Texten der Zeit.“ Handelt es sich hier bereits um eine Subjektivierungsweise oder tritt nicht vielmehr die Maske als medial vermittelte Repräsentation von Macht in den Vordergrund? Die frühe Neuzeit spielt vielschichtig. Im Süden anders als im flämischen Raum. Die Kälte und die brutale Gewalt dieser Macht wird nur im Kontext, im Rückentextes zum Bild sichtbar. Ohne Beschriftung und Text bzw. Kontext bleibt das Bild leer. Textlos. Freundlicher Mann in rot mit Brille. Auch Heinrich Himmler im photographischen Portrait macht den Eindruck eines aparten Bürgers in Uniform. Heinz Rühmann und Heinrich Himmler sind austauschbar.
Auf einem schwarzen Pferd und im düsteren Gewand reitet der Inquisitor in Toledo ein und sofern er gebrechlich ist, benutzt er eine Kutsche. Spanien im Jahre 1600. So stellte ich mir, früher als ich Kind war, diese Szenen vor. Jener Inquisitor, mit dem harten Blick, die richtigen Fragen stellend, bohrend, streng, unnachgiebig. Das Autodafé entfachend. Der ewige Stalinist, der ewige Antisemit, im Herzen und im Fleisch der Menschheit, er treibt die Abweichungen und die Häresie im Namen Christi oder aber bloß im Namen der reinen Lehre aus. Wenn jener Jesus, den sie den Christus nennen, noch einmal auf die Erde käme, würden die Reiter ihn einkerkern und niemals mehr das Licht der Welt erblicken lassen – so wie Dostojewski es in den „Gebrüdern Karamasow“ in seiner Erzählung vom Großinquisitor beschrieb. Es könnte ihn aus den Verliesen kein Vater retten – geschweige denn eine Mutter. Stumm verklängen seine Schreie in den düsteren Mauern, tief unter der Erde in irgend einer Burg oder einem Palast. Verhallend. Von nun an wären sie, jene schwarzen Reiter, das Weltgericht und die permanente Revolution, der Nomos der Erde als Angst und als Schrecken, den vorauseilenden Gehorsam schaffend. Die Landschaft um Toledo zumindest ist rau und zerklüftet, vom Tejo umschlängelt. Die Anfahrt auf diese Stadt, von Madrid kommend, beeindruckend.
Im Jahre 1543 veröffentlichte Nikolaus Kopernikus sein wohl wichtigstes Buch: „De Revolutionibus Orbium Celestium libri“. Die Erde, so steht zu vermuten, liegt nicht mehr im Zentrum. Die Ordnung der Sphären war daraufhin eine andere. Erste narzißtische Kränkung, zwei bis drei weitere werden einige Jahrhunderte später noch folgen. Die Ptolemäer bäumten sich vor Entsetzen und Abscheu auf. Die Drehungen und die Phasen änderten sich und damit erhielt auch die Beschleunigung eine andere Gestalt. Aus einem Zentrum wurde das Periphere und Flüchtige, Nominalismus die neue Gestalt. Die Rhythmik der Malerei geriet zu einer anderen, die Körper verzehrten sich, die Landschaften, sofern sie überhaupt Abbild einer Landschaft waren, nahmen seltsame Formen an. Zumindest in den Werken El Grecos. Die Renaissance war an ihrem Höhepunkt und zugleich an ihrem Ende angelangt. Bereits im Spätwerk Michelangelos, das von Vasari als „Maniera Moderna“ bezeichnet wurde, ließe sich dieser Aspekt zeigen. Im Höllensturz des „Jüngsten Gerichts“ von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle überdehnte und disproportionierte sich der Körper in Harmonie zwar noch, aber diese war lange keine griechische mehr und am Ideal eines Körpers ausgerichtet, sondern die Figuren erscheinen im Ansatz bereits monströs. Überkräftigte Gestalten. Protofaschistisch fast, wenn man es überspitzte. Ganz anders dagegen der Manierismus El Grecos in seiner Dehnung, in seiner Zerrung. (Ob der Begriff des Manierismus kunstgeschichtlich haltbar ist, mag zu diskutieren sein. Aber starre Begriffegeschichte ist sowieso nur Ordnungsschema, geht aber nicht auf die Sache.)
Spanien im Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert. Kurz vor der Jahrhundertwende vom 16. Jhd in eine neue Zeit hinein, die den Niedergang Spaniens bedeutete, wurde vor den Toren Madrids El Escorial erbaut. Es ein Königspalast, der beeindruckt und zugleich die Besucher abweist, im Herrera-Stil errichtet: Kühl, streng, die Renaissance eingedampft auf die bloße Form. Als ich dieses Gebäude einst sah, während eines längeren Aufenthaltes in Spanien, war ich erschüttert und begeistert zugleich. Die Renaissance in Italien ist heiter und verspielt, die Härte des Escorial spiegelt die Strenge des spanischen Hofzeremoniells wider. In diesem Umfeld trat der aus Kreta stammende Maler El Greco seinen Dienst am Spanischen Hofe an, alldieweil er in Rom nach dem Tod des Michelangelo nicht mehr wohlgelitten war, weil einige von El Grecos Schriften ans Licht kamen, die sich abfällig über Michelangelos Werk äußerten.
Die Figuren hoch aufragend, in die Länge gezogen, die Hände eigenartig verzerrt, keine der Proportionen mehr klassisch und nach dem Ideal einer Antike, wie wir sie assoziieren. El Grecos Gemälde gaben einen der Höhepunkte jener manieristischen Malerei. Nach seinem Wirken in Spanien wurde er zu einer Nebengestalt der Kunstgeschichte. Erst zum Beginn des 20. Jahrhunderts geriet El Greco wieder in den Fokus der künstlerischen Moderne , insbesondere der Expressionisten, und er wurde jenen expressiven und lebensphilosophisch hungrigen Zeitgenossen (leider) durch Julius Meier-Graefe nahegebracht, der bereits unheilvoll am Mythos van Gogh mitwirkte.
Aber die Gemälde El Grecos sind weniger der Ausdruck von Individualität oder von inneren Zuständen eines Subjekts, für das wir heute den Begriff des Individuums verwenden, sondern sie codieren vielmehr die Welt des Religiösen. Es sind Auftragsarbeiten, die im Sinne der Kirche entstanden. Seine Bilder waren bereits zu seiner Zeit nicht unumstritten, doch sie fanden vor den Augen der Kirche durchaus Gefallen. Wenn es denn innere Landschaften sind, dann die des Religiösen: jener Christus im roten Gewand, im Moment vor seiner Entkleidung, deutlich von seinen Peinigern abstechend, im Rot des Gewandes. Die Hintergründe der Landschaften sind, sofern sie nicht, wie in den meisten seiner Bilder, bloß die Staffage bilden und ihnen keine eigene Dignität zukommt, in ihrem Realismus düster. Wie im „Laokoon“ oder im „Traum Philipps II“. Denn das Reich des Herrn ist nicht von dieser Welt, so doktrinierte es die Kirche in der ihr immanenten Notwendigkeit. Es ist eine Malerei des Lichts, das allerdings in einer eigenartig unnatürlichen Weise schimmert und eine Malerei der Kontraste, die nicht mehr die Form des Körpers zur Erscheinung bringen möchte, sondern, wie etwa die Auferstehung Christi im Prado, ein Spiel der Farben und der Gesten eröffnet. Die Bilderzählung ist meist dramatisch angelegt. Und dieses Drama, das damals im Religiösen seinen Grund hatte, machte sicherlich in der Krisenzeit um 1900 den großen Reiz aus: ein überbordender Realismus, der die realistische, die naturalistische Form und die Gestaltung langsam aber sicheren Schrittes verließ.

Eines der letzten Bilder, die El Greco malte, ist die Ansicht auf Toledo. In der Variante „Ansicht und Plan von Toledo“ zeigt sich eine fast heitere, himmlische Stadt. Aber das Himmlische Jerusalem war meist ein Zerrbild der Utopie des Gottesreiches und eine in Stein gehauene Perversion. Der quatuor sensus scripturae, jener vierfache Schriftsinn, dividiert sich in die Dystopie. Von der Buchstäblichkeit, über das Moment des Glaubens und der Moral des Subjekts, das noch lange nicht ist, bis hin zu jenem Ort, der als Utopie und Himmlisches unaussprechlich bleibt. Geschichtsphilosophie verdampft ins Leere. Es erinnert dieses Bild von Toledo in seiner eigentümlichen Kühle, obgleich es doch in warmen Farben gehalten ist, an die stadtbaumeisterliche Miniaturwelt, die jener Sonderling Stone in Paul Austers „Die Musik des Zufalls“ errichtet: Mit dem zaghaften Lächeln, das sich am Ende als das des Sadisten entpuppt, entgegnet Stone: „‚So wäre mir die Welt am liebsten. Alles in ihr geschieht zur gleichen Zeit.‘“ In Becketts „Endspiel“ sagt Clov – anders als Stone kein Sadist – im Hinblick auf die Ordnung ihrer verbleibenden Welt und die Ordnung der wenigen Dinge: „Ich liebe die Ordnung. Sie ist mein Traum. Eine Welt, in der alles still und starr wäre und jedes Ding seinen letzten Platz hätte, unterm letzten Staub.“ Eschatologie als Utopie des letzten Menschen und des Surrogats von Subjektivität und Dingbewußtsein. Das himmlische Jerusalem und der „Traum Philipps II.“ bilden im Repräsentationsmodus der Malerei die Ordnung einer Welt, die nicht von dieser Welt ist und die sich noch als Jenseits konzipieren läßt. Angefressen ist allerdings auch diese Ordnung allemal.
Es folgt dieses Bild „Ansicht und Plan von Toledo“ einer eigentümlichen Logik der Repräsentation: jene im Vordergrund gehaltene Karte als Plan und Grundriß wird von einer (gemalten) Stadt überragt, die ebenfalls jenes Toledo ins Bild bringt und als Ideal repräsentiert. Im Vordergrund steht ein aus dem Kontext gerücktes Gebäude, das wohl ein Hospital darstellen soll. Bilder im Bild. Entspringt aus der Karte die Stadtlandschaft oder ist jene Karte eine Art von Emblem, das symbolisch oder als Konstruktionsplan sich der Realität des Dargestellten vergewissert? Die Schrift einer Karte und die Malerei eines Gebietes. Wie auch in den religiösen Gemälden stoßen in jener Landschaftsmalerei zwei Ordnungen aneinander und stehen in Konfrontation.
Ansicht auf Toledo, von Nikolai E. Bersarin im Jahre 1989

Domínikos Theotokópoulos starb am 6.4.1614 in Toledo.