Ein Text, der in die (Auto)Biografie ausgreift oder eine (Auto)Biografie, die sich in die Literatur transformiert? Es verwischen die Linien. Solche Unschärfe-Relationen scheinen mir für die Betrachtung von Literatur interessant: an dem Ort das Denken einsetzen zu lassen, wo die überkommenen, hergebrachten Formen der Literatur sich auflösen und wo sich die Grenzen von Literatur erweitern – die Romanform vorantreibend. Ein Roman als Doku-Fiktion? Sozusagen der umgekehrte Weg einer als authentisch aufgeschriebenen Geschichte, wie zum Beispiel die Holocaust-Biographie von Binjamin Wilkomirski „Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948“, pur, hart und aus dem Leben gegriffen, die sich dann 1998 als frei erfunden erwies. Mag Literatur noch so sehr dem Spiel verhaftet sein und mögen die Erzählungen und Romane mehr als einen doppelten Boden besitzen, gar einen drei- oder vierfachen oder aber in sich selber verschlungen, wie das Möbiusband verschachtelt, gar als mise en abyme arbeiten, so bleibt eine Linie, die nicht überschritten werden kann.
Wo Roman draufsteht, da muß nichts stimmen. Wo einer im Modus der Autobiographie spricht, „Ich beschreibe hier mein Leben“, da müssen die Fakten korrekt sein. So lautet der Imperativ, der die Referenzrahmen setzt. Zu recht. Denn Vita, Geschichtswissenschaft oder oral history bedeuten nicht, Dinge zu erfinden, wenngleich die Autobiographie immer von einem gesetzten Fiktiven und Fiktionalen lebt. (Der Historiker darf jedoch in keine Richtung hin auf die Aussagen hereinfallen oder ihnen ungeprüft Glauben schenken, sondern er muß die Quellen zu deuten und zu befragen wissen.) Denn unverstellt, authentisch oder unmittelbar ist nichts zugänglich, weil jeder Sachverhalt oder das, was wir als Tatsache ansetzen, bereits vermittelt ist: durch eine Instanz, eine Ordnung ein System, eine Technik gefiltert und bearbeitet. Erinnerungssysteme sind Sprachsysteme. Erzählen heißt insofern immer: in einer bestimmten Sprache, die einer bestimmten Grammatik und bestimmten Regeln unterliegt, aufzuschreiben oder zu erzählen. Fingieren. In jenem Modus des Als-ob ein Gebilde in Sprache erschaffen. Ob jener von Halfon erzählte polnische Boxer real existierte, ob er nur im Rahmen dieser Geschichte auftrat oder ob er darin konstruiert wurde? Es bleibt diese Person in jedem Falle eine Geschichte konstituierende Leerstelle, in gewisser Weise ein Hitchcockscher McGuffin, verwandt aber ebenso dem Poeschen Brief.
Eine Erzählung beziehungsweise das Epos setzen ein Maß an Phantasie und zugleich ein Überborden derselben voraus, das sich nicht mit dem decken muß, was sich Lebenswirklichkeit nennt. Wer Kafkas Prosa lediglich darauf hin liest, nein „lesen“ möchte ich diesen Vorgang nicht nennen, sondern positivistisches Abklopfen oder Abgleichen trifft es genauer: wer also Kafkas Geschichten darauf abklopft, ob man wohl in „Urteil“ und „Verwandlung“ die Vaterproblematik wiederfinden würde, der begibt sich nicht in Kafkas Text, sondern treibt sich bestenfalls im Biographischen herum, verdoppelt den Text, hin zu den Fakten und zu dem, was sowieso schon der Fall ist. Kafkas Vaterproblem, sofern er denn eines hatte, wirft kein zusätzliches Licht auf den Text, sondern er verdeckt vielmehr diesen Text, seinen Gehalt und die Vielfalt seiner Bezüge. Das Vaterproblem macht den Text weder interessanter noch erweitert es diesen um einen Deut. Allenfalls für den amusischen Voyeur mag’s von Bedeutung sein, was Kafka privat umtrieb. (Was übrigens nicht gegen die hervorragende dreibändige Kafka-Biographie von Reiner Stach spricht, die ich jedem Leser ans Herz lege. Hier wird ein ganz eigener Film gefahren und ein weiterer Subtext aufgespannt. Fast bin ich geneigt, Kafkas Leben als ein Stück Literatur zu betrachten.) Interessanter freilich wird es, wenn aus diesem Spiel zwischen Leben und Werk, da wo ästhetisch die Grenzen durchlässig werden, wiederum ein Text gebaut wird, wie wir es bei Alban Nikolai Herbst oder bei Aléa Torik finden. Bei beiden über die Verquickung Blog samt geschildertem Leben oder Lebensepisoden (von denen wir freilich nicht wissen, ob erfunden oder wahr) sowie den Romantexte. Bei Herbst sind diese Transformationsprozesse noch einmal anders gelagert als bei Aléa Torik, die es auf einen bestimmten Punkt hin forcierte und die Frage nach Autoren(identität), Erzählerin und Romanfigur in bisher zwei Büchern in eine Konstellation gebracht hat, die im Grunde noch offen ist. (Die Konstruktion und die Erzählweise dieses Buches habe ich in meinen Besprechungsessays dargestellt.)
Von Halfon freilich wissen die meisten seiner Leserinnen und Leser hier in Europa sogut wie nichts. Und das ist für die Lektüre von „Der polnische Boxer“ nicht für einen Deut und nicht um einen Zug notwendig. Je weniger das Leben noch lebt, so möchte ich fast schreiben, desto mehr gieren die Subjekte, welche schon lange keine mehr sind, nach dem wahren Leben, das sie in die Literatur gepreßt finden wollen und dem sie im univoken Modus nachjagen und es in den Äußerlichkeiten suchen. Literatur zu lesen als sei es ein Tagebuch. Autoren zum Anfassen. Protestantischer Bekenntniszwang. (Mir sind die Lügen des Katholizismus und das Literatur-Leben-als-Experiment des Sascha Anderson sehr viel näher als dieses positivistische Begrapschen von Büchern. Wobei Anderson einen Grenzfall darstellt: Wenn einer es erzählt, was es an Betrug, Schein und Hinterhalt gab, eine Existenz, die halb an das Verfließen der Grenzen glaubte, halb sich Vorteile erschlich, so scheint es einen besonderen, interessanten und zugleich perfiden Alltag des Prenzlauer Bergs widerzuspiegeln. Wem Sascha Anderson widerfuhr, der sieht es als Bespitzelter ganz und gar anders.)
Allerdings: es gibt Texte, da ereignet sich eine perfekte Kombination verschiedener Elemente, die sich durchdringen: Texte des Lebens, Texte der Theorie und der Prosa, als Kolumnen gebunden, in der Weise etwa, wie Derrida in „Glas“ Genet und Hegel engführt. Eines der interessantesten Prosa-Philosophie-Experimente. Staubtrocken, würden die womöglich rufen, die der Sinnlichkeit zugetan sind. Das allerdings ist ein Irrtum. (Wie schon bei Hegels „Phänomenologie“, die im Grunde ebenfalls ein Stück weit Prosa ist.)
Denn Texte sind nur in einem ausgesprochen vermittelten Sinne sinnlich. Sinnlichkeitssurrogate allenfalls. Zumindest handelt es sich bei Derrida et al. nicht um leerlaufende Subjektivität, die ihre Erregung in Äußerlichkeiten sucht, sondern es werden in diesem Texten Aspekte auf eine kreative Weise verknüpft und zusammengelesen, die im Grunde strikt getrennt genommen werden. Die Vita und die Philosophie Hegels wie auch die Vita und der Text Jean Genets verdichten sich zum philosophisch-literarischen Text. So wie Derrida dies bereits in seiner „Postkarte. 1. Sendung“ im Hinblick auf Heidegger und Lacan schrieb, um an diese Namen, als Bewegung und Struktur eines Textes, die Frage nach der Tele-Kommunikation anzuknüpfen. Ein Kartenverkehr als Geschick und als Gespensterpost(en). Grenzgang zwischen Literatur und Philosophie. (Was nicht bedeutet, daß die Grenzen nun einzuziehen oder überflüssig seien, wie man es dem Denken Derridas gerne unterstellt.)
Dem professionellen Leser ist es bei der Geschichte des Großvaters im Text Halfons egal, ob gut erfunden oder als wahre Begebenheit des Lebens erzählt. Es ist gleich, ob es wahr ist oder nicht, wenn es nur gut geschrieben ist, wenn die literarische Form und die ästhetische Konstruktion paßgenau gearbeitet wurden. Uns interessieren die Grenzgänge, da wo die Form sich erweitert, wo ein Text über sich selber hinausgeht und das in der Konstruktion derart furios vermag, wie in Aléa Toriks letztem Roman „Aléas Ich“. A-lethisch, athletisch. Zerstreichung des unverbrüchlichen Subjekts, Transgression der Zonen und der Randgebiete in einem philosophischen Sinne, der Literatur, Kunst, Ästhetik verquickt und in eine neue Form schreibt und nicht als Gequassel empfindsam sich geriert und von individueller Lesart schwätzt, wo lange schon kein Individuum und kein Subjekt mehr ist.
Dieses Überbordende, Wilde versucht auch Halfon. Die Vergleiche Halfons freilich mit Roberto Bolaño, wie sie zuweilen in der Rezeption angestellt werden, führen nicht wirklich weiter. Und was nützen sie auch?
„Die Literatur zerreißt die Wirklichkeit“ – so hieß eine Konferenz, zu der Eduardo geladen wurde. Aber wir lesen diesen Satz ebenfalls in der Gegenrichtung. Wie nämlich eine solche Geschichte wie die vom polnischen Großvater, der nun in Guatemala lebt, zu erzählen sei. Wörter und Begriff, Sprache retten und bewahren eine Wirklichkeit, die ins Vergessen zu sinken droht, und es ist ein Leben dann am Ende als wäre es niemals gewesen, und wenn der letzte Mensch, der sich noch an diesen einen, der all das erlebte, verstorben ist, und keine Erinnerung und kein Archiv dieses Leben bewahrte, dann ist es vorbei und verloschen. Die folgende Geschichte eben mittels einer bestimmten Erzählweise darzustellen und in ein Bild, in einen Zusammenhang zu setzen: „Es war mir also gelungen, die Wirklichkeit in die Literatur zu verwandeln. Es war mir gelungen, mithilfe der Literatur in eine bestimmte Wirklichkeit einzudringen.“ Laut Eduardo. Der Großvater, so bricht es im Text heraus, erzählt dann in einem Interview mit seinem Enkel, er habe Auschwitz überlebt, weil er ein so geschickter Schreiner gewesen sei. Mehr nicht. Aber auch das ist eine Erzählung, und wir erinnern uns bei dieser Passage an Mark Twain und die Kunst des Schwindelns. „Die Literatur ist ein guter Trick“ konstatiert Eduardo.
Allerdings bleibt bei Halfon dieses Spiel zwischen Fiktion und Realität, diese Frage, was nun der Biographie geschuldet (und damit real) und was rein ausgedacht sei, auf der Ebene der literarischen Konstruktion stellenweise zumindest äußerlich. Zudem plaudert und plätschert der Roman teils in einem leider oft zu leichtfüßigen Sound vor sich hin. Das lapidare „oder so“, das manchen Sätzen angefügt ist, mag die Relativität und Perspektivität der Prozesse andeuten, taugt aber als Stilmittel nicht wirklich, weil zu leichtgewichtig. Auch was die formale Seite betrifft, läuft nicht alles rund: In der Art, wie Halfon die Figuren anlegt und in bezug auf die Konstruktion der Geschichte ist es im Grunde egal, ob all das nun wahr oder erfunden ist. Einzig der Umstand, daß der Protagonist eben Eduardo heißt, weist auf dieses Autorenspiel. Ansonsten hätte es genausogut eine stellenweise durchaus spannend kombinierte Erzählung in zehn Runden sein können, die einen mehr oder weniger erfundenen Plot erzählt, gespickt mit (postmoderner) Literaturtheorie, und die die Frage nach dem, was wirklich ist und was wirkt, stellt. Die Geschichte eines Großvaters, den die Deutschen nach Auschwitz verfrachteten und der das Lager, so erzählt der Großvater, mit Hilfe jenes Boxers überlebte. Was einst wirklich und damit ein Leben berührte und was Lüge sein mag, ist in diesem Buch in Bezug auf eine reale Vita im Grunde unerheblich. (Aber andererseits will diese Geschichte als crux genau darauf hinaus: Il n’y a rien en dehors du texte. Horla eben als Leerstelle.)
Die Story ist durchaus spannend und tricky erzählt, flott geschrieben, sofern überhaupt solche Adverbien etwas über die Qualität eines Buches auszusagen vermögen, doch der doppelte Boden bleibt bloß ein doppelter und ein aparter Zaubertrick. Trotzdem: der polnische Boxer liefert im Text-Spiel einen ziemlich fiesen McGuffin, bei dem wir nicht wissen, ob es uns angesichts dessen schaudern muß oder aber, ob es sich um eine List handelt, die das Schreckliche zu überspielen trachtet, weil es ansonsten nicht auszuhalten und in keine Begriffe zu bannen ist. Wie vom Lager sprechen?
„Genau so ist die Literatur: Beim Schreiben wissen wir, dass es in Bezug auf die Wirklichkeit etwas sehr Wichtiges zu sagen gibt, und wir wissen auch, dass dieses Etwas durchaus erreichbar ist, es befindet sich ganz in unserer Nähe, auf der Zungenspitze, und wir dürfen es nicht vergessen. Aber wir vergessen es trotzdem jedes Mal, zweifellos.“
Aktives und passives Vergessen in einem Zuge, um darin eine Sprache zu finden, die die Sache trifft. Genau trifft und anordnet für einen Augenblick in der Zeit .