„… und die Welt ist eine kalte Welt“ – zum 125. Geburtstag von Bert Brecht

Bertolt Brecht, geboren in Augsburg, aus den schwarzen Wäldern, von der Mutter in die Städte hineingetragen: „Und die Kälte der Wälder//Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.“ Geflohen aus Umständen, die bekannt sind, 1933 ins Exil nach Dänemark und später dann als Kommunist bauernschlau in die erzkapitalistische USA emigriert – wohlweislich – und nicht in Stalins Sowjetunion, jenes Paradies der Werktätigen, das Brecht vermutlich nicht überlebt hätte. Die USA verlassend, in der DDR lebend, den Staat, den er mit aufbauen wollte und den er doch nicht mit aufbauen konnte. Es sind jene finsteren Zeiten, wie Brecht dichtete. Vom Ton der Utopie, die doch nicht ist:

Dabei wissen wir doch: 
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit 
verzerrt die Züge. 
Auch der Zorn über das Unrecht 
Macht die Stimme heiser. Ach, wir 
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit 
Konnten selber nicht freundlich sein. 

Ihr aber, wenn es so weit sein wird 
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist 
Gedenkt unserer 
Mit Nachsicht. 
[Aus: „An die Nachgeborenen“]

Denn es kamen die härteren Zeiten und die Regierung wählte sich besser ein neues Volk, so Brechts Vorschlag in „Die Lösung“:

Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?

Der politische Brecht, der kalte Brecht – jene Kälte der Jahre und des Habitus, wie sie der Germanist Helmut Lethen in seinem Buch „Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen“, in den 1990er Jahren des ironischen Zeitalters verfaßt, für jene Weimarer Jahre beschrieb. Der umtriebige Brecht, nicht nur in politischen Dingen. Und zugleich doch der Brecht der Liebesgedichte. Hart manchmal, wie jene wunderbare Poesie der Engel:

Über die Verführung von Engeln

Engel verführt man gar nicht oder schnell.
Verzieh ihn einfach in den Hauseingang
Steck ihm die Zunge in den Hals und lang
Ihm untern Rock, bis er sich nass macht, stell

Ihm das Gesicht zur Wand, heb ihm den Rock
Und fick ihn. Stöhnt er irgendwie beklommen
Dann halt ihn fest und lass ihn zweimal kommen
Sonst hat er dir am Ende einen Schock.

Ermahn ihn, dass er gut den Hintern schwenkt
Heiß ihn dir ruhig an die Hoden zu fassen
Sag ihm, er darf sich furchtlos fallen lassen
Dieweil er zwischen Erd und Himmel hängt –

Doch schau ihm nicht beim Ficken ins Gesicht
Und seine Flügel, Mensch, zerdrück sie nicht.

Ihr wollt ein Liebeslied? Es gibt kein Liebeslied. Nicht jetzt, nicht heute. Poetisiert Euch nicht, das ist Marketing für Buchverlage. Und glotzt nicht so romantisch, denn diese Romantik, die ihr meint, hat nichts mit Novalis‘ Fragmenten zu tun. Aber die Kampflieder gehen ebensowenig: Vorwärts und nicht vergessen. Unvergeßlich – nur eben: heute Geschichte und fürs Museum der Arbeit. Unbeweglichkeitsposen. Dem Morgenrot entgegen. Gute alte Zeit, „altes Linnen!“ (S. Beckett). „‚Dich behalte ich.‘ Er nähert das Taschentuch seinem Gesicht, bedeckt sein Gesicht mit dem Taschentuch, läßt die Hände auf die Armlehnen sinken und bewegt sich nicht mehr.“

Obwohl das Politische im Ästhetischen schon lange ins Belanglose gekippt ist, darin Gesinnungsgemeinschaften bedient werden, bleibt ein Stück wie Brechts „Die Maßnahme“ insofern interessant, weil es die Verheerungen des Stalinismus wie auch die Möglichkeiten der Propaganda zeigt, wenn man es in der Inszenierung zuspitzt. Jener Klassenkampf, der einst notwendig war, der in die Repression kippte und in den Terror. Auch der Haß gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Die, die den Boden für Freundlichkeit bereiten wollten, konnten selbst nicht freundlich sein. Tücke der Geschichte. Vielleicht aber haben gegenüber dem unmittelbar Engagierten „Vorwärts -nieder“ solche Zeilen Bestand, die ins Grundsätzliche gehen, sozusagen historischer Ontologismus mit liquider Tendenz als Geschichtshoffnung

Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne
Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.

Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

Ich weiß es nicht. Ich glaube nur sehr bedingt ans Lehrgedicht und auch der Tag hat eben am Ende doch nur zwölf Stunden und im Winter deutlich weniger. Wirken solche politischen Parabeln heute noch? Und vor allem: bestehen sie in ihrer Konstruktion? Der politische Brecht ist genau in den Passagen gut, wo er den historischen Materialismus nicht bloß vulgär nimmt – Adorno hielt ihm dieses Simplifizieren des Komplexen vor; insbesondere in seiner Kritik an Benjamins Baudelaire-Text warnte er davor, das Basis-Überbau-Phänomen unidirektional einfach in jenem brechtschen Vulgärmaterialismus zu fassen. Denn der Weltgeist ist ein Trickser. Das eben ist die „List der Vernunft“. Brecht ist dort gut und wirkt ästhetisch, wo er im epischen Theater unsere Rezeptionsweisen befragt, wo er unsere Auffassungen erschüttert und die Art, wie wir Welt wahrnehmen, bei den Hörnern packt: Als Schock. Was freilich nicht bloß auf die Seite der Wirkung zu buchen ist, sondern zunächst als ästhetische Konstruktion und als Arbeit am Material im Text selbst auszuloten ist.

Alle jene Theater-Inszenierungen, bis heute hin, die postdramatisch die vierte Wand aufbrechen, – sei das als Publikumsbeschimpfung oder in anderen Varianten des Bezugs – sind insofern Ahnen von Brecht, als sie mit einer Verfremdung arbeiten, die den Zuschauer direkt anspricht, wenn nicht bepöbelt. Insbesondere ist Frank Castorf Brechts großer Erbe. Er allerdings brach diese Wand manchmal bloß durch ganz simple, aber geniale Effekte auf: der Einsatz von Kartoffelsalat genügte, und eine Rutschbühne mit Gleitgel reichte aus, was Zurufe aus dem Publikum provozierte. Oder unendlich gedehntes Sprechen, daß es die Zuschauer veranlasste, in den Saal zu rufen, wann dieses Zeitgeschiebe endlich aufhöre. So in Ibsens „Die Frau vom Meer“, in der Szene als Hauslehrer Arnholm (Herbert Fritsch) der Bolette (Kathrin Angerer) einen Heiratsantrag machte. Was in fünf Minuten gesagt und getan wäre, zog sich eine halbe Stunde. Im Publikum rief es: „Mach schneller!“, worauf Arnholm/Fritsch nur trocken entgegnete: „Jetzt habe ich meinen Text vergessen, jetzt muß ich nochmal von vorne anfangen!“

Wie aber geht solches (politische) Theater? Castorf ist da politisch, wo er politisch schweigt und die Zeit unendlich dehnt. Adornos Brecht-Kritik am „Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui“, wie er sie in den „Minima Moralia“ und auch in seinem Essay „Engagement“ formuliert, ist nicht ganz von der Hand zu weisen:

„Die politische Ökonomie jedoch, deren Darstellung sie sich statt dessen zur Aufgabe setzt, ist unverändert im Prinzip, doch in jedem ihrer Momente so differenziert und fortgeschritten, daß sie der schematischen Parabel sich entzieht. Vorgänge innerhalb der großen Industrie als solche zwischen gaunerhaften Gemüsehändlern zu präsentieren, reicht eben aus für den schnell verbrauchten Schock, nicht aber für die dialektische Dramatik. Die Illustration des späten Kapitalismus durch Bilder aus dem agraren oder kriminalistischen Vorstellungsschatz läßt nicht das Unwesen der heutigen Gesellschaft aus seiner Vermummung durch komplizierte Phänomene rein hervortreten. Sondern die Unbesorgtheit um die Phänomene, die selber aus dem Wesen zu entfalten wären, entstellt das Wesen. Sie interpretiert die Machtübernahme durch die Größten harmlos als Machination von Rackets außerhalb der Gesellschaft, nicht als das Zusichselbstkommen der Gesellschaft an sich. Die Undarstellbarkeit des Faschismus aber rührt daher, daß es in ihm so wenig wie in seiner Betrachtung Freiheit des Subjekts mehr gibt. Vollendete Unfreiheit läßt sich erkennen, nicht darstellen. Wo in politischen Erzählungen heute Freiheit als Motiv vorkommt, wie beim Lob heroischen Widerstands, hat es das Beschämende der ohnmächtigen Versicherung. Der Ausgang wirkt allemal als durch die große Politik vorgezeichnet, und Freiheit selber tritt ideologisch, als Rede über Freiheit, mit stereotypen Deklamationen, nicht in menschlich kommensurablen Handlungen hervor. Kunst läßt nach der Auslöschung des Subjekts am wenigsten durch dessen Ausstopfung sich retten, und das Objekt, das heute ihrer allein würdig wäre, das reine Unmenschliche, entzieht sich ihr zugleich durch Unmaß und Unmenschlichkeit.“ (Adorno, Minima Moralia, Staatsaktion.)

Brecht scheitert an solchen Stellen, wenn man den Maßstab Adornos anlegt und in der Kategorie Beckett denkt. Ähnliches bei „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“: Tendenztexte, die man allenfalls aus ihrer Zeit heraus verstehen kann, die Kämpfe jener Jahre, und was bei mir unter die Rubrik „Parolenkunst“ fällt. Andererseits hängen Theatertexte immer an ihren Inszenierungen. Doch selbst in der genialen Ui-Inszenierung von Heiner Müller, 1995 am Berliner Ensemble, bleibt es bei dem, was Adorno den Effekt, den schnell verbrauchten  Schock nennt – hier nur eben in Humor transformiert: die Weltgeschichte als Komödie. Martin Wuttke spielt diesen Arturo Ui genial-komisch und übertragen auf die Diktatoren dieser Welt liefert das Stück auch heute noch eine Anschauung. Doch aus dem Abstand der Zeit löst sich das geschichtsphilosophische Drama in Geschichte und Komik auf – einer Geschichte, der das historische Subjekt abhanden kam. Für das freilich, was wir den autonomen Kern des Kunstwerkes nennen, für das Gesetz seines Gemachtseins richtete dieses Engagement samt politischer Parole Schaden an. Das reicht bis heute, wo es im identitären Theater agitpropt.

Doch Brecht schrieb auch solche Zeilen, die ironisch und doch ganz unironisch ins Mark treffen: „Vom armen B.B.“, für uns Großstadtbewohner, im harten Ich-Ton, und wie das Gewirr und die Annehmlichkeiten der Großstadt mit der Kühle der Modernen nachhallen und jener Ich-Distanz. Birth of the cool:

Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern.
Meine Mutter trug mich in die Städte hinein
Als ich in ihrem Leib lag. Und die Kälte der Wälder
Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.

In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang
Versehen mit jedem Sterbsakrament:
Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein.
Mißtrauisch und faul und zufrieden am End.

Solche Brecht-Texte funktionieren. Und zwar weil sie das Subjektive, gleichsam eine Befindlichkeit, in ein Allgemeines aufheben und in eine Geschichte bringen. Jenes Ich, das das des Dichters ist, in der Vergänglichkeit der Städte und der Menschen, diesem Sound nachspürend.

Beim politischen Brecht freilich ist dieses Besondere der Dichtung vor allem in der gesungenen Version der Fall, also als Lied, Lyrics gleichsam, weil Rhythmus, Klang und Ton die Lyrik zuspitzen. Auch solche engagierte Dichtung wie die „Lied von der belebenden Wirkung des Geldes“ halten und bleiben – noch im Lauf der Zeit, was aber zugleich bedeutet, daß sie ins Refugium des Klassikers rutschen, sich entschärfen zum behäbigen Vortragsabend mit Stimmung, wenn man den Gehalt nicht reaktualisiert. Brecht ist immer wieder neu zu singen – das ist die Herausforderung. Mann bleibt Mann oder von der belebenden Wirkung des Geldes:

Die Frage dabei ist eben nur, wie man es macht und ob es überhaupt einen Sinn hat, das, was lange Geschichte ist, zu reaktualisieren. Sicherlich gibt es bei Brecht immer noch jene Lyrik-Prosa (oder prosaische Lyrik), im Exil geschrieben, die uns heute noch einsichtig ist, im Blick auf den Verkauf von Kultur als Waren das, was Adorno/Horkheimer Kulturindustrie nannten und was Brecht in wenigen Zeilen in eine Anschauung bringt:

HOLLYWOOD
Jeden Morgen mein Brot verdienen
Geh ich auf den Markt, wo Lügen gekauft werden.
Hoffnungsvoll
Reihe ich mich ein zwischen die Verkäufer.

HOLLYWOOD-ELEGIE
Die Engel von Los Angeles
Sind müde vom Lächeln. Am Abend
Kaufen sie hinter den Obstmärkten
Verzweifelt kleine Fläschen
Mit Geschlechtsgeruch.

Ist bei Brecht das Politische bleibend? Oder nicht vielleicht doch eher seine Liebesgedichte (denn die Liebe hört nimmer auf; die Geschichte freilich auch nicht), seine Gedichte zur Natur, zu Landschaften und Städten und zu den Menschen darin: sie gehören zu den liebsten mir. Oder jene kleine Dichtung, jene spezifischen Szenen in den „Buckower Elegien“, wenn in einem kleinen Bild sich ein Ganzes verdichtet. Und wenn ein Reisender das kleine und schöne Brecht-Haus in Buckow besucht, versteht er vielleicht ein wenig besser diese Elegien: der Blick auf den See, das Spazieren in den Wäldern, die Scherbe eines Tonkruges, die wir beim Spazieren ums Brecht-Haus fanden. Und dann natürlich eines der frühen Gedichte von Brecht. Die „Erinnerung an die Marie A“ gehört zu den schönsten Gedichten, die das Phänomen „Zeit“ ins private Moment setzen und die Bedeutung von Natur mit dazu. Wie sich ein Augenblick an einen Fetzen Himmel zu knüpfen vermag, eine Wolke, die im nächsten Moment schwindet, wie all die schönen Augenblicke. Vielleicht im Sommer vor dem Schinkel-Casino am Jungfernsee, abends beim verbotenen Picknick auf der Wiese. Mit dem Blick durch die Pergola, hinüber auf die Heilandskirche am Port von Sacrow, wo im Jungerfensee die Sonne absinkt. Vergänglichkeit und das Erinnern an eine längst vergangene Zeit.

Man kann es aber auch ganz anders und viel weniger in dieser melancholischen Erinnerungsfuge dichten und sagen, nämlich als eine Art von Harmonie im Zusammenschwingen, wie in Brechts Gedicht „Die Liebenden“:

Seht jene Kraniche in großem Bogen!
Die Wolken, welche ihnen beigegeben
Zogen mit ihnen schon als sie entflogen
Aus einem Leben in ein anderes Leben.
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
Scheinen sie alle beide nur daneben.
Daß so der Kranich mit der Wolke teile
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen
Daß also keines länger hier verweile
Und keines anderes sehe als das Wiegen
Des andern in dem Wind, den beide spüren
Die jetzt im Fluge beieinander liegen:
So mag der Wind sie in das Nichts entführen.
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
So lange kann sie beide nichts berühren
So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben
Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.
So unter Sonn und Monds verschiedenen Scheiben
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.
Wohin ihr? – Nirgend hin. Von wem davon? – Von allen.
Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
Seit kurzem. – Und wann werden sie sich trennen? – Bald.
So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.

Auch das eben ist Brecht und doch gehören der politische Brecht, der kalte Brecht, der (post)expressionistische Brecht, der Brecht der Liebesdichtung, der Brecht der Lehrstücke in ihrer Weise zusammen und genau dieser Bogen macht die Größe von Brechts Dichtung aus. Bis heute.

Bertolt Brecht – geboren am 10. Februar 1898 in Augsburg

Vom armen B.B.

Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern. 
Meine Mutter trug mich in die Städte hinein 
Als ich in ihrem Leib lag. Und die Kälte der Wälder 
Wird in mir bis zu meinem Absterben sein. 

In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang 
Versehen mit jedem Sterbsakrament: 
Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein. 
Mißtrauisch und faul und zufrieden am End. 

Ich bin zu den Leuten freundlich. Ich setze 
Einen steifen Hut auf nach ihrem Brauch. 
Ich sage: es sind ganz besonders riechende Tiere 
Und ich sage: Es macht nichts, ich bin es auch. 

In meine leeren Schaukelstühle vormittags 
setze ich mir mitunter ein paar Frauen 
Und ich betrachte sie sorglos und sage ihnen: 
In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen. 

Gegen Abend versammle ich um mich Männer 
Wir reden uns da mit „Gentlemen“ an. 
Sie haben ihre Füße auf meinen Tischen 
Und sagen: Es wird besser mit uns. Und ich 
Frage nicht: Wann? 

Gegen Morgen in der grauen Frühe pissen die Tannen 
Und ihr Ungeziefer, die Vögel fängt an zu schrein. 
Um die Stunde trink ich mein Glas in der Stadt aus 
Und schmeiße 
Den Tabakstummel weg und schlafe beunruhigt ein. 

Wir sind gesessen, ein leichtes Geschlechte 
In Häusern, die für unzerstörbare galten 
(So haben wir gebaut die langen Gehäuse des Eilands Manhattan 
Und die dünnen Antennen, die das atlantische Meer unterhalten). 

Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie 
Hindurchging, der Wind! 
Fröhlich machet das Haus den Esser: Er leert es. 
Wir wissen, daß wir Vorläufige sind 
Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes. 

Bei den Erdbeben, die kommen werden, werde ich hoffentlich 
Meine Virginia nicht ausgehen lassen durch Bitterkeit 
Ich, Bertolt Brecht, in die Asphaltstädte verschlagen 
Aus den schwarzen Wäldern in meiner Mutter in früher Zeit. 

„… und die Welt ist eine kalte Welt“ – zum 60. Todestag von Bert Brecht

Ihr wollt ein Liebeslied? Es gibt kein Liebeslied. Nicht jetzt, nicht heute. Nein, wir brauchen nicht die schönen, alten Liebeslieder. Denke ich mir. Poetisiert Euch nicht, das ist Marketing für Buchverlage. Und glotzt nicht so romantisch. Aber die Kampflieder gehen ebensowenig: Vorwärts und nicht vergessen. Unbeweglichkeitsposen. Dem Morgenrot entgegen. Gute alte Zeit, „altes Linnen!“ (S. Beckett). „Dich behalte ich.“ Er nähert das Taschentuch seinem Gesicht, bedeckt sein Gesicht mit dem Taschentuch, läßt die Hände auf die Armlehnen sinken und bewegt sich nicht mehr. Obwohl das unmittelbar Politische schon lange ins Affirmative gekippt ist, bleibt ein Stück wie „Die Maßnahme“ insofern interessant, weil es die Verheerungen des Stalinismus wie auch die Möglichkeiten der Propaganda zeigt, wenn man es in der Inszenierung zuspitzt. Jener Klassenkampf, der einst bitter notwendig war. Nur näherte sich der Prolet im Gang des Kampfes der Sozialdemokratie an. Auch der Haß gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge und der verzerrte Zug gerinnt als das Gesicht des Feindes und die, die den Boden für Freundlichkeit bereiten wollten, konnten selbst nicht freundlich sein. Tücke der Geschichte. Vielleicht aber haben gegenüber dem unmittelbar Engagierten „Vorwärts -nieder“ solche Zeilen Bestand, die ins Grundsätzliche gehen, sozusagen historischer Ontologismus mit liquider Tendenz

Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne
Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.

Am Grunde der Moldau wandern die Steine
Es liegen drei Kaiser begraben in Prag.
Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht ans Lehrgedicht. Wirken solche politischen Parabeln heute noch? Und vor allem: bestehen sie in ihrer Konstruktion? Der politische Brecht ist genau in den Passagen gut, wo er den historischen Materialismus nicht bloß vulgär nimmt – Adorno hielt ihm dieses Simplifizieren des Komplexen vor; insbesondere in seiner Kritik an Benjamins Baudelaire-Text warnte er davor, das Basis-Überbau-Phänomen unidirektional einfach zu fassen. Denn der Weltgeist ist ein Trickser. Das eben ist die „List der Vernunft“. Brecht ist dort gut und wirkt ästhetisch, wo er im epischen Theater unsere Rezeptionsweisen befragt, wo er unsere Auffassungen erschüttert und die Art, wie wir Welt wahrnehmen, bei den Hörnern packt: Als Schock. Was freilich nicht bloß auf die Seite der Wirkung zu buchen ist, sondern zunächst als ästhetische Konstruktion und als Arbeit am Material im Text selbst auszuloten ist.

Alle jene Theater-Inszenierungen, bis heute hin, die postmodernistisch die vierte Wand aufbrechen, – sei das als Publikumsbeschimpfung oder in anderen Varianten des Bezugs -sind insofern Ahnen von Brecht, als sie mit einer Verfremdung arbeiten, die den Zuschauer direkt anspricht. Insbesondere ist Frank Castorf Brechts großer Erbe. Er allerdings brach diese Wand manchmal bloß durch ganz simple, aber geniale Effekte: der Einsatz von Kartoffelsalat genügte, und eine Rutschbühne mit Gleitgel reichte aus, was Zurufe provozierte. Oder gedehntes Sprechen, daß es die Zuschauer veranlasste, in den Saal zu rufen, wann dieses Zeitgeschiebe endlich aufhöre. So in „Die Frau vom Meer“, in der Szene als Hauslehrer Arnholm der Bolette einen Heiratsantrag machte. Was in fünf Minuten gesagt und getan wäre, zog sich eine halbe Stunde.

Brecht scheitert an den Stellen, wie schon Schiller, wo das Theater ins Lehrstück kippt und als Anstalt zur moralischen Erziehung wertvolle Arbeit leisten soll. Historisch mag diese „Prosa des Lebens“ (Hegel) notwendig gewesen sein, und sie ist wieder und wieder nötig: Agitation und „Auf, auf, zum Kampf“. Zumal der Klassenfeind immer noch die Markierungen setzt. Nur das historische Subjekt ist den Dagebliebenen – nicht erst im Akt (post)strukturaler Subjekdekonstruktion und als Anti-Descartesismus – verloren gegangen. In der Romantik von Schubert kam dem Subjekt immerhin nur die Welt abhanden, was als Einstieg für Kritik seinerzeit gut taugte. Für das freilich, was wir den autonomen Kern des Kunstwerkes nennen, für das Gesetz seines Gemachtseins richtete dieses Engagement samt politischer Parole Schaden an. Das reicht bis heute, wo es zu sehr agitpropt. Doch Brecht schrieb auch solche Zeilen, die ironisch ins Mark treffen: für uns Großstadtbewohner, im harten Ich-Ton, und wie das Gewirr und die Annehmlichkeiten der Großstadt mit der Kühle der Modernen nachhallen. Birth of the cool:

Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern.
Meine Mutter trug mich in die Städte hinein
Als ich in ihrem Leib lag. Und die Kälte der Wälder
Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.

In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang
Versehen mit jedem Sterbsakrament:
Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein.
Mißtrauisch und faul und zufrieden am End.

Solche Brecht-Texte funktionieren. Vor allem in ihrer gesungenen Version, also als Lied, weil Rhythmus, Klang und Ton die Lyrik zuspitzen. Auch solche zur Gattung der engagierten Poesie zu rechnenden Stücke wie die „Lied von der belebenden Wirkung des Geldes“ halten und bleiben. Noch im Lauf der Zeit, was aber bedeutet, daß sie ins Refugium des Klassikers rutschen, sich entschärfen zum behäbigen Vortragsabend mit Stimmung, wenn man den Gehalt nicht reaktualisiert. Brecht ist immer wieder neu zu singen – das ist die Herausforderung. Mann bleibt Mann oder von der belebenden Wirkung des Geldes:

Bei mir aber bleibt es dabei, die „Erinnerung an die Marie A“ gehört zu den schönen Gedichten, die das Phänomen „Zeit“ ins private Moment setzen und die Bedeutung von Natur mit dazu. Wie sich ein Augenblick an einen Fetzen Himmel zu knüpfen mag, eine Wolke, die im nächsten Moment schon schwindet, wie all die schönen Augenblicke. Vielleicht vor dem Schinkel-Casino am Jungfernsee, abends beim verbotenen Picknick auf der Wiese. Mit dem Blick durch die Pergola, hinüber auf die Heilandskirche am Port von Sacrow, wo im Jungerfensee die Sonne absinkt. [– auch interessant: Brecht und die Kirche]:

Dann in Kutten Schritten zwei
Trugen ’ne Monstranz vorbei.
Wurd die Kutte hochgerafft
Sah hervor ein Stiefelschaft.

Doch dem Kreuz dort auf dem Laken
Fehlen heute ein paar Haken
Da man mit den Zeiten lebt
Sind die Haken überklebt.

Brauchbar bleibt Brecht auch heute angesichts von Gaucklern und was derer mehr ist. Ich aber will wieder zurück ins Private und in den Reflexionspalast meines Grandhotel Abgrund: „Erinnerung an die Marie A“. Das Private ist politisch. (Manchmal. Eine Frau zu vergessen, käme mir nicht in den Sinn.)

Ausweise

„DER GROSSE
Das Bier ist kein Bier, was dadurch ausgeglichen wird, daß die Zigarren keine Zigarren sind, aber der Paß muß ein Paß sein, damit sie einen in das Land hereinlassen.

DER UNTERSETZTE
Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“
Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche

Ja, es scheint absurd wie mit einem Stück Papier bzw. Plastik der Status sinkt oder aber steigt. Die einen bleiben, die anderen gehen und werden in Flugzeuge gesetzt und ausgeflogen. Manchmal setzt man ihnen einen Helm auf, damit sich der Ausreiser nicht selber verletzen kann. Das nennt sich Fürsorgepflicht des Staates.

In Berlin wird  massiv gegen Fluglärm und Flugrouten protestiert, und zwar nach dem Motto: Nicht vor meiner Haustür!

Daß es in Berlin-Schönefeld bzw. für den neuen Flughafen bereits einen Abschiebeknast gibt, interessiert dabei nur wenige. Über diesen ausgewählt seltsamen Nicht-Ort berichtet die taz. Es gibt Gebäude bzw. Orte, für die trifft diese Bezeichnung Ort oder Gebäude nur unzureichend. Es sind, wie eine Photographieausstellung kürzlich in Hamburg hieß, Lost Places, oder mit dem Ethnologen Marc Augé gesprochen: Nicht-Orte. Transiträume, die über das Leben eines Menschen entscheiden. Unwirtlich und pragmatisch konstruiert. Todbringend und für die meisten unsichtbar.