Subjekt und Objekt, Denken und Sein: diese Spaltung bleibt in mannigfaltiger Weise grundlegend und gibt das Movens aller Philosophie ab. Philosophie in ihren verschiedenen Ausprägungen dreht sich insgesamt um diesen Spalt, diese Kluft, jene paradoxale Struktur, die als mise en abyme fungiert und damit zugleich den Abgrund spiegelt, sobald sich das Subjekt absolut setzt.
Diese Differenz trägt sich immer im Denken selbst und – damit verbunden – in der Sprache aus, und sie ist doch zugleich eine objektive: sei das nun auf dem Wege der (Erkenntnis-)Theorie oder in den verschiedenen Künsten – oder anders gesagt: in den „Sprachen der Kunst“. Innerhalb der Philosophie manifestiert sich diese Bewegung des Denkens, des Begriffes als Dialektik, was leicht dazu verführt, Dialektik im Sinne einer Methode zu handhaben, mit der sich der Sache, den Dingen, dem Objekt oder dem Seienden in seiner mannigfaltigen Weise genähert wird. Zugleich aber bleibt als unauflöslicher Rest jenes Objekt. Die Anordnung, die Konstellation beider auszumachen, ist lediglich in einer zweiten Reflexion möglich. Diese Dialektik von Wissen und Wahrheit als Arbeit des Begriffs eröffnet Hegel in seiner „Phänomenologie des Geistes“, und es taucht dort ein Weise von Erfahrung auf, die sich nicht am Überschwang der Subjektivität orientiert, sondern sein Maß an der Sache hat:
„Diese dialektische Bewegung, welche das Bewußtsein an ihm selbst, sowohl an seinem Wissen als an seinem Gegenstande ausübt, insofern ihm der neue wahre Gegenstand daraus entspringt, ist eigentlich dasjenige, was Erfahrung genannt wird.“ (Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 78, Fft/M 1986)
Adorno greift diese Figur auf, aber im Zeichen einer Veränderung von Gesellschaft, welche nicht mehr die frühkapitalistische Hegels ist, strukturieren sich das Verhältnis anders als in der Hegelschen Dialektik. Denn aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt dem „absoluten Geist“ nicht mehr seine Unendlichkeit. Der Topos, sich in die Sache zu versenken, welcher im Text Adornos zuweilen auftaucht, ist zunächst etwas, das aus der Husserlschen Phänomenologie herkommt: „Zu den Sachen selbst!“ so lautete deren „Slogan“. Adorno greift das auf, bringt diese Möglichkeit des Philosophierens jedoch in eine ganz andere Wendung, die weder im Fahrwasser der Hermeneutik (als Verstehen von Kunstwerken) noch in das der Phänomenologie als bloßer Metatheorie der Erkenntnis treibt. Und aufgrund dieser Überschreitung stellte Adornos Philosophie nicht nur eine Erkenntnistheorie bereit, sondern bedeutet zugleich Erkenntniskritik, die sich mit der Kritik von Gesellschaft verbindet. Formen des Wissen hängen zugleich (aber eben nicht ausschließlich) am Machtpool, um es ein wenig grobschlächtig zu formulieren. Eine Möglichkeit, wie in dieser Weise Philosophie zu betreiben sei, (auch angesichts einer aporetischen Situation der Philosophie im Zeichen instrumenteller Vernunft) entfaltet Adorno in seiner Einleitung zur „Negativen Dialektik“. Es entsteht durch dieses Sich-der-Sache-überlassen ein Modell von Denken, für das Adorno jene Wendung von der Freiheit zum Objekt prägte.
Diese Freiheit zum Objekt nun konkret auf die Ästhetik bzw. die Literatur bezogen, bedeutet, nicht so zu lesen als sei das Buch lediglich für mich selber geschrieben worden und als müsse es mit meinem Erfahrungsraum auf Teufel-komm-heraus korrespondieren. Hölderlins „Hyperion“ hat mit den Lebensbedingungen eines Menschen der Gegenwart (in der Regel) nicht sehr viel zu tun – zumindest nicht auf den ersten Blick und beim ersten Lesen. Das Konzept von Liebe, welches Hyperion zu Diotima hegt, verfiele heute der Lächerlichkeit, ist unmittelbar und ohne eine Form von Wissen heute kaum verständlich zu machen. Aber insbesondere diese dunklen, sperrigen, schwarzen oder wie Benjamin es in seinem Kafka-Essay schreibt: die wolkigen Stellen nötigen zur Philosophie, eben um die Sache, um deren Gehalt zu erfahren und in der ästhetischen Kritik zu entfalten. Dieses Sich-versenken hat nun aber weniger mit einer Art von Meditation oder von Einfühlung zu tun, sondern vielmehr geht es darum, sich diesem Fremden oder sogar Unheimlichen eines Kunstwerkes auszusetzen. Dies mochte sich zu Adornos Zeiten einfach gestalten, weil der Schock angesichts des Neuen als Movens von Kunst in jener Zeit der Klassischen Moderne noch nicht eingemeindet wurde und zum leerlaufenden Prinzip verkam.
Gleichzeitig aber bleibt in solchem Denken, das sich auf das Objekt zubewegt, die subjektive Regung nicht draußen. Sie ist in Text Adornos eben nicht der unvermittelte und statische Gegenpol zur Objektivität. Gerade die verstörenden Momente, die Irritationen, die Idiosynkrasien geben sehr viel mehr Aufschluß über das Allgemeine als die vermeintlich objektive Aussage. Kein Objekt ohne Subjekt und in dieser Bezüglichkeit muß zugleich die Kraft des eigenen Denkens aufgebracht werden. Es ist eine Polung von Subjektivität und Objektivität, die sich im Grunde nur als Text wird entfalten können und sich als Text erst zeigen läßt. Programmatisch schreibt Adorno in der „Negativen Dialektik“:
„Bewußtlos gleichsam müßte Bewußtsein sich versenken in die Phänomene, zu denen es Stellung bezieht. Damit freilich veränderte Dialektik sich qualitativ. Systematische Einstimmigkeit zerfiele. Das Phänomen bliebe nicht länger, was es bei Hegel trotz aller Gegenerklärungen doch bleibt, Exempel seines Begriffs. Dem Gedanken bürdet das mehr an Arbeit und Anstrengung auf, als was Hegel so nennt, weil bei ihm der Gedanke immer nur das aus seinen Gegenständen herausholt, was an sich schon Gedanke ist. Er befriedigt sich, trotz des Programms der Entäußerung, in sich selbst, schnurrt ab, so oft er auch das Gegenteil fordert. Entäußerte wirklich der Gedanke sich an die Sache, gälte er dieser, nicht ihrer Kategorie, so begänne das Objekt unter dem verweilenden Blick des Gedankens selber zu reden.“ (Adorno, ND, S. 38)
„Die philosophische Forderung, ins Detail sich zu versenken, die durch keine Philosophie von oben her, durch keine ihr infiltrierten Intentionen sich steuern läßt, war bereits die eine Seite Hegels. Nur verfing ihre Durchführung bei ihm sich tautologisch: seine Art Versenkung ins Detail fördert wie auf Verabredung jenen Geist zutage, der als Totales und Absolutes von Anbeginn gesetzt war. Dieser Tautologie opponierte die Absicht des Metaphysikers Benjamin, entwickelt in der Vorrede zum ‚Ursprung des deutschen Trauerspiels‘, die Induktion zu erretten.“ (Ebd. S. 298)
Geht die Phänomenologie in der Weise vor, wie von Adorno konstatiert, so besteht eben die Gefahr, jener Referenzrahmenbestätigung anheimzufallen. Das Denken ist dagegen nie ganz gefeit, und insofern kommt hier als Korrektiv eine an Nietzsche orientierte Philosophie der Perspektivität ins Spiel. Den Gegenstand aufzufächern und von einer Vielzahl seiner Seiten in den Blick zu bekommen, die Stile zu variieren, den Gegenstand durchzuspielen, in Anordnungen zu bringen, wird zur Aufgabe ästhetischer Kritik. Eine Form der Darstellung, die dies leistet ist der Essay, so wie Adorno oder Benjamin diese Weise des Schreibens an verschiedenen Kunstwerken entfalten. Im Detail führt Adorno solches Schreiben etwa in seiner Lektüre von Becketts Endspiel durch: „Versuch, das Endspiel zu verstehen“. Dabei werden einem Begriff von hermeneutischen Verstehen jedoch enge Grenzen gezogen:
„Das deutende Wort bleibt deshalb unvermeidlich hinter Beckett zurück, während doch seine Dramatik gerade vermöge ihrer Beschränkung auf abgesprengte Faktizität über diese hinauszuckt, durch ihr Rätselwesen auf Interpretation verweist. Fast könnte man es zum Kriterium einer fälligen Philosophie machen, ob sie dem gewachsen sich zeigt.“ (Adorno: Noten zur Literatur, S. 284)
Verstehen transformiert sich zum Versuch, zu einer kreisenden Bewegung, die sich nicht sicher sein kann. Was bleibt, ist die Interpretation bzw. der Blick auf das Formgesetz des ästhetischen Gebildes. Einerseits. Andererseits geht es Adorno im Akt der Kritik darum, sich dem Gebilde anzuschmiegen und eine Weise der Mimesis walten zu lassen, welche sich dem Kunstwerk angleicht. Im Akt des Lesens vollzieht sich der Text noch einmal, indem er wiederholt wird. Sache und Methode sind nicht voneinander zu trennen.
Wer den Gehalt eines Stückes wie „Endspiel“ begreifen will, muß sich seiner Struktur aussetzen, wenn ein Text mehr sein soll als bloß erbauliche Lektüre, welche um die eigenen Empfindungen sich dreht oder von Fragestellungen getragen wird, die von außen an das Buch angepappt werden. Es gibt nun Leserinnen und Leser, die lesen so wie sie Schrankwände, Schuhe oder Kleider kaufen: Paßt dieses Buch zu mir und meiner Welt, meiner Weiblichkeit samt dem Schreiben als Frau, als Mann, als So-und-so-Subjekt. Sicherlich: es kann jeder ein Buch fortlegen oder ein Kunstwerk nicht betrachten, solange sie/er sich über dieses Werk kein Urteil erlauben, das weiter reicht als das, freilich beliebige, Empfindungsurteil, mithin das subjektiv gefärbte Geschmacksurteil.
Allerdings: in dieser Sicht der Empfindungslektüre kommt ein Kunstwerk über die Funktion nicht hinaus, bloße Erbauung zu stiften. In dieser Wahrnehmungsweise manifestiert sich die herabgesunkene Kunstreligion einer spätmodernen Gesellschaft als Wellness und Entspannungsform oder als Folie für die eigenen Referenzen – einer Kunstreligion, welche als letztes Residuum ins Säkulare abgewandert ist. Kunst verzückt das Dasein, nicht anders als Gemälde die Deutsche Bank schmücken. Kunst aber, die aufs ganze geht, will mehr als das. Sie vertritt einen Wahrheits- und Erkenntnisanspruch, nicht anders als ein Satz der Mathematik oder der Physik auf Wahrheit aus ist – freilich mit anderen Mitteln.
Wer sich einem Kunstwerk aussetzt, sollte davon absehen, sich und seine Lebenswelt wiederfinden zu wollen. In jener seit einiger Zeit wieder in Mode gekommenen Rezeptionsästhetik ist es seit einigen Jahren Schick, daß ein Werk Räume der Erfahrung öffnet – im Grunde eine Säkularisierung jener Redewendung bei Heidegger in seinem Kunstwerkaufsatz, daß sich in der Kunst die Wahrheit ins Werk setzt.
„Im Werk ist, wenn hier eine Eröffnung des Seienden geschieht in das, was und wie es ist, ein Geschehen der Wahrheit am Werk. (…) So wäre denn das Wesen der Kunst dieses: das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden. (M. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Holzwege, S. 21, Fft/M 1980)
Dieser Heideggerscher Begriff von Kunst und Wahrheit freilich ist – teils – ein entleerter, der im bloßen Seinsgestammel als formal gesetzte Unmittelbarkeit irgend eines Vorgängigen sich hypostasiert. Daß diese Wahrheit sich zugleich als eine gemachte und an ein gesellschaftliches Moment gebunden ist, unterschlägt Heideggers Text. In der ontisch-ontologischen Differenz rückt ihm Geschichtlichkeit derart in die Sphäre des Ontologischen, daß sie nicht mehr von dieser Welt zu sein scheint.
Vertreter einer solchen Ästhetik der Erfahrung, die von Adorno einerseits zwar herkommt, aber wesentliche Aspekte seiner Philosophie – nämlich die Momente von Wahrheitsgehalt und gesellschaftlichem Gehalt des Werkes – andererseits abschneidet, ist Martin Seel, der sich neuerdings den Tugenden und Lastern widmet. Diesen Bogen hin zur Ästhetik des Frankfurter Philosophen Martin Seel und zu Adornos Text „Der Essay als Form“ muß ich jedoch ein andermal schlagen.