Im Reigen der Abschweifungen oder worin Habermas falsch liegt. Ein Plädoyer für Realismus

Einmal wieder, wie bereits nach dem ersten Friedensaufruf im März 2022, hat Jürgen Habermas einen Essay, einen langen zudem, über eine zentrale Frage geschrieben: „Wie einen Krieg beenden?“ Und vor allem: „Wie geschieht dies auf eine effektive Weise, ohne daß Europa in einen Weltkrieg driftet?“ Daß diese Frage in der gegenwärtigen Situation und im Blick auf Putin jedoch von Habermas kurz zu beantworten ist, sei vorweggestellt und wer sich lange Wege sparen will, der lese die letzten vier Sätze dieser Kritik. Ich mache mir aber dennoch die Mühe, auf einige Aspekte von Habermas im Detail einzugehen. Er schreibt im Blick auf die Präliminarien:

„Auch aus Kreisen der SPD hörte man nun, dass es keine „roten Linien“ gebe. Bis auf den Bundeskanzler und dessen Umgebung nehmen sich Regierung, Parteien und Presse beinahe geschlossen die beschwörenden Worte des litauischen Außenministers zu Herzen: „Wir müssen die Angst davor überwinden, Russland besiegen zu wollen.“ Aus der unbestimmten Perspektive eines „Sieges“, der alles Mögliche heißen kann, soll sich jede weitere Diskussion über das Ziel unseres militärischen Beistandes – und über den Weg dahin – erledigen. So scheint der Prozess der Aufrüstung eine eigene Dynamik anzunehmen, zwar angestoßen durch das nur zu verständliche Drängen der ukrainischen Regierung, aber bei uns angetrieben durch den bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung, in der das Zögern und die Reflexion der Hälfte der deutschen Bevölkerung nicht zu Worte kommen.“

Zunächst einmal heißt „Sieg“ nicht alles mögliche, sondern ganz primär geht es dabei um den Abzug der Russen aus den am 24.2.2022 überfallenen Gebieten. Dies ist die primäre Forderung der Ukraine, dies ist die primäre Forderung des Westens und vieler anderer Länder. Habermas spitzt hier eine Auslegung zu bzw. biegt sie um. Rote Linien heißt im Kontext von Hilfeleistungen des Westens: rote Linien im Blick auf Waffenlieferungen; diese rote Linie aber hinsichtlich der Waffen kann es nicht geben, weil prinzipiell alle konventionellen Waffen tauglich sind, die Ukraine in ihrer Verteidigung zu unterstützen. Und alle politischen Akteure betonen immer wieder, daß die NATO in keinem Fall Teilnehmer in einem Krieg sein dürfe. Diesen Wunsch hat auch die Ukraine respektiert: es kommen von ihr keine Forderungen, daß auch NATO-Truppen zum Einsatz kommen sollten. Insofern besteht keinerlei Gefahr, daß die NATO oder Staaten der NATO aktiv in diesen Krieg eingreifen.

„Rußland besiegen zu wollen“ heißt, wie gesagt, zunächst einmal, daß Rußland aus der Ukraine sich zurückzieht. Kein Mensch jedoch spricht von einem Einmarsch in Moskau. Sehr wohl aber muß es legitim sein, darüber nachzudenken, wie es mit Putin weitergeht und was möglicherweise nach Putin kommt – solches Durchspielen  von  möglichen Szenarien ist Bestandteil einer jeden vorausdenkenden (Geo)Politik.

Was diese Passage ebenfalls problematisch macht, ist der Umstand, daß sich Habermas hier gleichzeitig ins Fahrwasser einer unkritischen Äquidistanz manövriert: der „Prozess der Aufrüstung“ ist einzig und allein durch den russischen Angriff auf die Ukraine motiviert und durch nichts anderes. Die „Dynamik“ liegt in den immer neuen Angriffswellen Rußlands und im grausamen Beschuß von Zivilisten – von dem, was Rußland in den besetzten Gebieten anstellt, ganz zu schweigen. Und das Recht auf die Selbstverteidigung der Ukraine zu stärken, mit Worten und mit Waffen, hat nichts zu tun mit einem „bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung“: bellizistisch sind jene, die einen brutalen Angriffskrieg gegen ein souveränes Land führen und nicht jene, die für eine Verteidigung plädieren, die im Falle eines Krieges nun einmal nur mit Waffen und nicht mit Worten geleistet werden kann.

Weiter schreibt Habermas im Blick auf nachdenklichen Stimmen:

„Wenn ich mich diesen Stimmen anschließe, dann gerade weil der Satz richtig ist: Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren!“

Die Ukraine gewinnt jedoch diesen Krieg nicht mit Worten. Insofern ist dieser Satz ein leeres Mantra und muß abstrakt bleiben. Vielleicht aber sollten wir in unseren Medien und in unseren öffentlichen Diskursen die Ukrainer und die Mitteleuropäer selbst vielmehr zu Wort kommen lassen, um zu hören, was sie brauchen, damit sie sich gegen Rußland behaupten können. Das wäre zielführender. Wie im übrigen die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren kann, beantwortet Habermas in seinem ganzen Essay mit nicht einem einzigen Wort. Darauf gehe ich noch weiter ein. Habermas führt in einer Kaskade von Ableitungen eine Menge an Unterscheidungen und Fragen ein, die jedoch im Reigen der Abschweifungen den zentralen Aspekt nicht nur aus den Augen verliert, sondern er unterschlägt vor allem den für die Ukrainer wesentlichen Aspekt, wie man die Russen aus der Ukraine verdrängen kann, und schiebt diese Fragen auf die Seite – läßt sie, um es zuzuspitzen, hinter einem Diskursnebel verschwinden. Habermas thematisiert teils berechtigte und auch politisch interessante Aspekte wie jene Fragen zum Völkerrecht und den Lehren, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg gezogen haben – die nur alle nichts dazu uns sagen können, wie wir Putin an den Verhandlungstisch bekommen können. Es sind Abschweifungen, die in der Sache nur bedingt dienlich sind. Und  es sind in diesem Sinne leider nur Nebeltöpfe.

Habermas bringt in seinem Essay unterschiedliche Aspekte zusammen. Das eine ist die Frage nach einer neuen Friedensordnung, die zunächst in einer mehr oder weniger fernen Zukunft liegt. Nur haben diese Überlegungen etwas von einem Glasperlenspiel, das schön anzusehen ist und fein klingt, aber das Flirren und Klingen macht eben noch keinen Frieden und vor allem sagt uns Habermas nicht, wie er sich diesen Weg dorthin vorstellt bzw. wie er politisch zu bewerkstelligen ist: der Kommunikationstheoretiker ist in dieser zentralen Frage erstaunlich unkommunikativ und verschwiegen. Mit diesem Schweigen  hängt ein weiterer Aspekt zusammen, der von Habermas ebenfalls nicht ausreichend zum Thema gemacht wird, nämlich auf welche Weise der Westen die Ukraine auf eine effektive Weise unterstützen kann, ohne daß es dabei zu einem Weltkrieg kommt und zugleich ohne dabei Putins Spiel der Erpressung mit einem solchen Weltkrieg mitzuspielen. Das Plädoyer fürs Verhandeln bleibt bei Habermas im luftleeren Raum.

Die Lage des Westens wird bei Habermas allerdings hinsichtlich innen- wie außenpolitischer Fragen der Regulierung thematisch:

„Der Westen hat eigene legitime Interessen und eigene Verpflichtungen. So operieren die westlichen Regierungen in einem weiteren geopolitischen Umkreis und müssen andere Interessen berücksichtigen als die Ukraine in diesem Krieg; sie haben rechtliche Verpflichtungen gegenüber den Sicherheitsbedürfnissen der eigenen Bürger und tragen auch, ganz unabhängig von den Einstellungen der ukrainischen Bevölkerung, eine moralische Mitverantwortung für Opfer und Zerstörungen, die mit Waffen aus dem Westen verursacht werden; daher können sie auch die Verantwortung für die brutalen Folgen einer nur dank ihrer militärischen Unterstützung möglichen Verlängerung des Kampfgeschehens nicht auf die ukrainische Regierung abwälzen. Dass der Westen wichtige Entscheidungen selber treffen und verantworten muss, zeigt sich auch an jener Situation, die er am meisten fürchten muss – nämlich die erwähnte Situation, in der ihn eine Überlegenheit der russischen Streitkräfte vor die Alternative stellen würde, entweder einzuknicken oder zur Kriegspartei zu werden.“

Damit liefert Habermas allerdings gute Argumente, warum der Westen seine Waffenlieferungen unbedingt forcieren muß, und zwar bevor verhandelt wird. Denn insbesondere, weil in demokratischen Staaten die Stimmung sich ändern kann, ist es wichtig, daß in diesem russischen Angriffskrieg möglichst schnell militärische Resultate erzielt werden, um Rußland derart zu schwächen, daß es sich zu Verhandlungen gezwungen sieht. Leider aber gerät Habermas auch in dieser Passage wieder in jene Haltung der unkritischen Äquidistanz: „eine moralische Mitverantwortung für Opfer und Zerstörungen, die mit Waffen aus dem Westen verursacht werden; …“ ist ein seltsamer Satz: Wenn Waffen aus dem Westen, wie im Juli 2022 durch die Lieferung von HIMARS geschehen, dazu dienen, daß der Beschuß von ukrainischen Zivilisten massiv zurückging, weil durch diese Waffen die Artillierie- und Raketenstellungen der russischen Aggressoren ausgeschaltet wurden, dann ist die Lieferung solcher Waffen naürlich sinnvoll. Das sollte auch Habermas wissen. Und da, wo Habermas zuvor noch zwischen Angreifern und Opfern differenziert hat, sind plötzlich auch jene, die dem Opfer des russischen Überfalls, nämlich der Ukraine, beistehen, auf der Seite von Tätern? Eine seltsame Logik. Doch selbst wenn die Ukraine auch russisches Territorium beschießt und Artillerie- und Raketenstellungen dort mit Waffen langer Reichweite vernichtet, so liegt der Grund nicht darin, daß die Ukraine Rußland angreift, sondern in dem banalen Faktum, daß Rußland am 24.2.2023 die Ukraine überfallen hat. Gegenwehr bei einem Angriffskrieg ist vom Völkerrecht gedeckt.

Wenn Habermas davon spricht „Fatal ist, dass der Unterschied zwischen ‚nicht verlieren‘ und ‚siegen‘ nicht begrifflich geklärt ist“, so trifft das noch viel mehr auf die begriffliche Klärung von „verhandeln“ zu. Verhandeln setzt nämlich zunächst einmal voraus, daß mindestens zwei Akteure bereit sind das zu tun – und bei einem Angriffskrieg ist es unabdingbar, daß vor allem der Aggressor überhaupt bereit ist zu verhandeln. Ist dies nicht der Fall, dann ist jedes Differenzieren und jegliches Ausbuchstabieren von Begriffen am Ende sinnlos. Der Beweis vermeintlich überragender Analysequalitäten gerät nämlich schnell am kruden Faktum zunichte und wird zu jenem oben genannten selbstzweckhaften Gespinst. Vor allem wenn sich zeigt, daß da mit falschen Mitteln die falsche Sache analyisiert wird.

Wenn wir schon analysieren, dann sollten wir dabei auch auf die einzelnen Schritte achten, und zwar im Sinne einer zeitlichen Reihenfolge – nicht nur im Blick auf „verhandeln“. Zunächst einmal heißt „nicht verlieren“, daß die Ukraine nicht kapitulieren muß. Und was ist dazu unabdingbar erforderlich? Worte? Nein. Waffen. Waffen. Und nochmals Waffen. Und gut ausgebildete Soldaten, die in der Lage sind, Verteidigungsoperationen und komplexe Verbundangriffe auszuführen. Und bei genügend Waffen werden vielleicht auch die Worte Wirkung entfalten. Primär heißt „nicht verlieren“ also, daß die Ukraine nicht noch weitere Gebiete verliert, indem sie damit gezwungen sein wird, einen Diktatfrieden anzunehmen, einen „Frieden“, der von Rußland aufgezwungen ist, und der, auch diesem Aspekt widmet Habermas leider zu wenig Aufmerksamkeit, nur weitere und neue Kriege erzeugen wird, aber keine bleibende Friedensordnung. Denn weder die Ukraine noch der Westen werden akzeptieren, daß Cherson und Charkiw unter russischer Besatzung stehen und es wird also in diesen Regionen ein auf Dauer gestellter Bürgerkrieg stattfinden. Diesen Überlegungen widmet Habermas keinerlei Beachtung. Und auch nicht den Überlegungen, was es für die Sicherheitsordnung Europas konkret bedeutet,  wenn die Ukraine verliert. Er schreibt zwar, die Ukraine dürfe nicht verlieren. Wie sie das aber bewerkstelligt, läßt Habermas seltsam in der Schwebe. Denn er hat ja sein  Mantra „Verhandeln“, das er als ungedeckte Voraussetzung und damit als leere Spielmarke immer wieder einwirft.

Der Zeitfaktor, wie Habermas schreibt, spielt in der Tat eine große Rolle: dieser Faktor aber ist gerade ein Argument dafür, daß in Europa schon viel früher die Maschinen hätten angeworfen werden müssen, um Ausrüstung, Munition und Waffen zu produzieren, daß schon viel früher Patriot, HIMARS, Iris2, Leoparden und Marder geliefert werden und die Soldaten an diesen Geräten hätten ausgebildet werden müsse – wobei ich bei letzterem davon ausgehen, daß die Briten und die Amerikaner dafür schon gesorgt haben.

Thema wird bei Habermas aber auch die entsetzliche Gewalt des Krieges selbst.

„In dem Maße, wie sich die Opfer und Zerstörungen des Krieges als solche aufdrängen, tritt die andere Seite des Krieges in den Vordergrund – er ist dann nicht nur Mittel der Verteidigung gegen einen skrupellosen Angreifer; im Verlaufe selbst wird das Kriegsgeschehen als die zermalmende Gewalt erfahren, die so schnell wie möglich aufhören sollte. Und je mehr sich die Gewichte vom einen zum anderen Aspekt verschieben, umso deutlicher drängt sich dieses Nichtseinsollen des Krieges auf.“

Sollen und wollen: Habermasʼ Beobachtungen zum Krieg als entsetzliche Gewalt mögen richtig sein, aber sie sind nicht besonders originell und neu, und man kann in einem konkreten Krieg diese Überlegungen nicht unabhängig von Opfern und Tätern anstellen – dazu muß man nicht einmal Hitler und den Zweiten Weltkrieg bemühen, obwohl her Analogien naheliegend sind, was den destruktiven Charakter Putins wie auch Hitlers betrifft. Hinzu kommt, daß ein abstraktes Sollen oder in diesem Falle ein Nichtseinsollen leer und unbezüglich bleiben müssen, wenn, wie hier auf einen konkreten Fall bezogen, nicht wenigstens im Ansatz Vorschläge zur Lösung ausgebreitet und angeboten werden. Das freilich macht Habermas nicht mit einem Wort. Es bleiben bloße Proklamationen. Nun ist es zwar so, daß ein Intellektueller nicht bis ins letzte ausgefeilte praktische Pläne liefern muß. Aber er sollte, gerade wenn er, wie Habermas, viele Gebiete durchdringt und analysiert, auch in diesen Gefilden seine Analyse tätigen. Gerade auch wenn es ums Bestimmen von Prinzipien geht.

Ein Prinzip einzuführen, daß kein Krieg sein soll, ist eine gute Sache und man kann dieses Prinzip auch gut begründen. Aber ein Prinzip, das in der Wirklichkeit nicht zur Geltung gelangt, muß zugleich problematisch bleiben, wenn wir an Menschen wie Putin geraten, die keinesfalls gewillt sind, sich an dieses Prinzip zu halten. Ich will an dieser Stelle keine Debatte über Prinzipien und ihre Umsetzung sowie den Streit zwischen Kant, Fichte, Hegel und ihrer Anhänger in die Waagschale werfen und auch nicht debattieren, ob es ausreicht, ein Prinzip angemessen zu begründen. Wenn es jedoch, das ist meine Sichtweise, in der sozialen und gelebten Wirklichkeit keine Anwendung finden kann, dann müssen aus dieser sozialen Wirklichkeit heraus Mittel geschöpft und Möglichkeiten geschaffen werden, diesem Prinzip in irgend einer Weise Geltung zu verschaffen, sofern es ein logisch richtiges Prinzip ist. Im Falle des russischen Angriffs etwa hat eine supranationale Organisation wie die UNO kläglich versagt. Sie kann Beschlüsse fassen. Sie kann es aber genauso auch sein lassen. Die Auswirkungen für die Menschen in der Ukraine sind die gleichen. Wie also vorgehen?

„Demgegenüber hätte das erklärte Ziel der Wiederherstellung des status quo ante vom 23. Februar 2022 den späteren Weg zu Verhandlungen erleichtert. Aber beide Seiten wollten sich gegenseitig dadurch entmutigen, dass sie weitgesteckte und anscheinend unverrückbare Pflöcke einschlagen. Das sind keine vielversprechenden Voraussetzungen, aber auch keine aussichtslosen. Denn abgesehen von den Menschenleben, die der Krieg mit jedem weiteren Tag fordert, steigen die Kosten an materiellen Ressourcen, die nicht in beliebigem Umfang ersetzt werden können. Und für die Regierung Biden tickt die Uhr.“

Auch hier wieder finden wir bei Habermas jene Äquidistanz. Es sind in diesem Krieg nicht beide Seiten irgendwie gleich und beide Seiten führen gleichberechtigte Interessen an. Das Interesse der Ukraine nach territorialer Unversehrtheit und nach sofortigem Abzug der russischen Truppen von den am 24.2.2022 überfallenen Gebieten ist primordial und vor allem ist es vom Völkerrecht  gedeckt, wenn wir uns in rechtsphilosophischen Gefildenbewegen. Bei dieser Forderung geht es nicht um „unverrückbare Pflöcke einschlagen“, sondern um die Existenz eines souveränen Staates. Insofern sei hier noch einmal darauf verwiesen, daß die Ukraine am 29. März 2022 weitreichende Zugeständnisse und Verhandlungen mit Rußland angeboten hat, um überhaupt einen Waffenstillstand zu erreichen und die Ukraine war sogar bereit „auf weite Teile ihrer Souveränität zu verzichten“, wie es auf der Seite „Ungesunder Menschenverstand“ heißt. Dieser Vorschlag firmiert unter dem Titel „Istanbuler Kommuniqué“ und ist recherchierbar und nachzulesen. Rußland hat diesen Vorschlag einen Tag später zurückgewiesen. Und weiter heißt es bei „Ungesunder Menschenversand“:

„Wer Verhandlungen fordert, soll deutlich sagen, was er bereit wäre Russland anzubieten. Und er täte gut daran, sich die abgelehnten Vorschläge vorher durchzulesen.“

Am Ende läuft es bei Habermas auf Konjunktive hinaus. Hätte, müßte, wäre, sollte:

„Schon dieser Gedanke müsste uns nahelegen, auf energische Versuche zu drängen, Verhandlungen zu beginnen und nach einer Kompromisslösung zu suchen, die der russischen Seite keinen über die Zeit vor dem Kriegsbeginn hinausreichenden territorialen Gewinn beschert und doch ihr Gesicht zu wahren erlaubt.“

 Ja, das wird auch Olaf Scholz immer wieder und wieder mit seinen Telefonaten versucht haben. Der Effekt war gleich null. Putin hat Scholz deutlich zu verstehen gegeben, worum es ihm geht. Diese Aussagen von Habermas sind sehr freundlich gedacht – ich fürchte aber, daß all das Putin nicht interessieren wird. Und ich denke, daß dies auch all jene Experten sagen, die sich hinreichend mit Putin beschäftigt haben und die Putins politische Reaktionen einschätzen können. Putin geht es um die Niederwerfung der Ukraine. All das, all seine Ziele hat Putin deutlich und klar und vernehmbar immer wieder formuliert. Der zwanglose Zwang des besseren Arguments funktioniert jedoch leider nicht bei Leuten, die es nicht darauf anlegen, zu argumentieren, sondern wie Putin, eine Agenda durchzuziehen, die wesentlich durch Erpressung und Gewalt getragen ist.

Sicherlich wäre es wünschenswert, wenn Putin sich an den Verhandlungstisch setzte. Aber er tut es nicht. Er weiß, daß die Zeit für ihn spielt, wenn der Westen nicht weiterhin die Ukraine massiv unterstützt. Und je mehr die Zeit für ihn spielt, weil der Westen ermüdet, desto fetter seine Beute. Um also, und damit drehen wir uns wieder im Kreis, Putin zu Verhandlungen zu bringen, muß man Druck auf Putin ausüben. Ich kann nur jedem raten sich diese heute von mir verlinkte Dokumentation „Gazprom – Die perfekte Waffe“ https://www.arte.tv/de/videos/108467-000-A/gazprom-die-perfekte-waffe/?  anzusehen. Wir finden dort Einblicke in Putins Welt, in Putins Denken, die jede Hoffnung auf Verhandlungen zunichte machen. Putin ist ein KGB-Gewächs, was seine  Methoden betrifft. Putin verfolgt eine Agenda und diese Agenda ist die Zerschlagung der Ukraine als souveräner und aus sich selbst heraus existierender demokratischer Staat. Putin sammelt an den Grenzen Rußlands eine Anzahl an Satelitenstaaten, wie bereits bei Weißrußland und Tschetschenien. Und Putin hat andere Staaten wie Georgien und Moldau bereits lange schon im Blick. Mit diesem Wissen im Kopf und mit diesen Fakten gerüstet, die sich in zahlreichen Büchern über Putin nachlesen lassen, wird man keine großen Hoffnungen hegen, daß Putin morgen an den Verhandlungstisch sich setzen wird.

Ich kann den Wunsch nach Frieden gut verstehen, den haben viele Leute, aber man muß  bei Politikern wie Putin ein hohes Maß an Realismus sich bewahren.

Es gibt für Habermasʼ Ausführungen im Blick auf Friedensverhandlungen eine Redewendung, die, wenn Habermas sie in Anschlag gebracht hätte, seinen Text erheblich kürzer hätte ausfallen lassen – und meinen dann auch. Sie lautet: Er hat die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Und der Wirt ist in diesem Falle Putin. Witze zu Putins Koch seien den Lesern erspart.

 

39 Gedanken zu „Im Reigen der Abschweifungen oder worin Habermas falsch liegt. Ein Plädoyer für Realismus

  1. Die Rechnung ohne den Wirt und ohne dessen Koch. Den konnte ich mir nicht verkneifen. Ansonsten fällt mir nur das Klaus Mann-Zitat aus dessen Tagebüchern ein: Einen Angriffskrieg kann man als Angegriffener „nicht ablehnen, nur gewinnen.“

  2. An diesen Scherz habe ich auch schon gedacht, wollte aber diesen Schluß nicht noch mit einer weiteren Wendung überladen. Und das Klaus Mann-Zitat bringt es treffend auf dem Punkt. Ich verstehe bis heute einen großen Teil der Linken nicht, die beim Vietkong und bei den Sandinisten und bei vielen anderen Rebellenbewegungen flott bei der Hand mit dem Plädoyer für Waffen und Ausrüstung waren. Und der Slogan „Schafft ein, zwei, viele Vietnams“ war bestimmt nicht derart gemeint, daß man sie mit Wahlen und im demokratischen Prozedere schaffte. All das kann man gerne so tun und machen. Man soll sich dann aber im Falle der Ukraine nicht hinstellen und mit Klagebittermiene davon erzählen, daß mehr Waffen mehr Blutvergießen bedeutet. Das nämlich ist dann verlogen.

    Zudem sollte man, und das fehlt mir bei Habermas, zwischen einer privaten Haltung und einer politischen Haltung unterscheiden, die auf das Ganze und das Allgemeine blickt. Und da sehe ich bis heute keinen Weg, wie ohne Waffen die Ukraine sich vom Russenjoch befreien könnte. Und auch Habermas ist an dem kruden Faktum namens Putins gescheitert und hat ein intellektuelle Girlande gebastet. Privat mag jeder zu Waffenlieferungen diese oder jene Meinung haben. Aber für die Befreiung der Ukraine geht es nicht um Meinungen, sondern um Effektivität. Und wie man bei einer Feuerbrunst in einem Hochhaus auch nicht über den Einsatz von C-Rohren debattiert, sondern löscht und das tut, was mit den gebotenen und vorhandenen Mitteln möglich ist. Und wenn von anderswo zur Verstärkung weitere Mittel herangezogen werden, dann nimmt man die an. So zumindest würden es die meisten Menschen, und auch jene, die diesen irrsinnigen Appell unterschrieben haben, sehen.

  3. Auch wenn man sich in die Position derer versetzt, die umgehende Verhandlungen fordern, versetzt, so können doch Verhandlungen nur auf einen Kompromiss hinzielen. Es gibt zwar verbale Äußerungen der Verhandlungsbereitschaft, aber mir ist keine russische Äußerung bekannt, die Kompromissbereitschaft, sprich: ein Zugehen auf die ukrainische Seite, anzeigen würde. Worüber soll man dann verhandeln?

    Im übrigen zeigen auch die jüngsten Äußerungen von Putins Bluthund Kadyrow, dass der ganze Krieg nichts mit der Osterweiterung der Nato zu tun hat:

    https://www.t-online.de/nachrichten/ukraine/id_100128416/putins-bluthund-kadyrow-droht-deutschland-der-osten-ist-unser-territorium-.html

    Man muss sich immer wieder vor Augen halten, dass Putin kein Politiker ist sondern ein Mafioso. Mit Pablo Escobar hat man auch nicht verhandelt, man hat ihn erschossen. Und mit El Chapo Guzman wurden die Mexikaner alleine nicht fertig, man musst ihn an die USA ausliefern, wo er für den Rest seines Lebens hinter Gittern sitzen wird.

  4. In der Tat: Putin ist diese Mischung aus Mafia und KGB: Einmal KGB, immer KGB heißt es. In diesem Krieg geht es in der Tat um die Ausweitung des russischen Einflußbereiches. Demokratien in den Grenzen von Rußland – zudem von Ländern, die zum ehemaligen Machtbereich der Sowjetunion gehören oder gar einstmals Sowjetrepubliken waren -, das ist für Putin nicht hinnehmbar und es könnte dies eben auch Forderungen nach sich ziehen, wie bei den Massenprotesten gegen Putin 2011, 2012.

    Die Chance, daß Putin jedoch vor einem ordentlichen Gericht, vorm Internationalen Strafgerichtshof landet, ist gering. Eher wird er irgendwann von einem anderen Gangster beseitigt werden. Dieser wird sich dem Westen zunächst andienen, und dann geht das Spiel von vorne wieder los. Auf eine Opposition um Nawalny ist kaum zu setzen und wie es im Blick auf eine russische Zivilgesellschaft aussieht, dazu müßte man mehr aus dem Landesinneren wissen und da können vermutlich nicht-regimetreue Russen und jene Journalisten wie Michael Thumann Auskunft geben, die lange im Land gelebt haben.

  5. Was ich bei Papieren wie dem von Habermas nicht verstehe: Interessiert ihn, was Philosophen aus Ukraine denken? Hält er sich für den Klügsten im Raum, der keine Mitstreiter braucht? Wenn er für sein Papier nicht nur den Ruhm der Autorenschaft sondern auch Durchschlagskraft sich wünschen sollte (was ich nicht beurteilen kann), dann könnte er Philosophen aus Ukraine anrufen und mit ihnen ein Papier abstimmen, dass dann deren Unterschrift und seine trüge. Und wenn er noch größenwahnsinniger vorgehen wollte, könnte er ukrainische und russische Philosophen zusammentrommeln und die drei Gruppen als eine Art philosophisches peace corps zusammenspannen. Nach dem, was Sergio Benvenuto über seine Gespräche mit russischen Philosophen veröffentlicht hat, gibt es in Russland wenige, die mit Ukraine reden wollten, vielleicht Arseny Kumankov? Doch in Ukraine gibt es ohne Frage jede Menge PhilosophInnen, die gern mit Habermas ein Papier verfassen würden, z.B. Jan Prochasko,Serhii Yosypenko. Bertrand Russell hat ein Vietnam Tribunal organisiert, wer organisiert ein Krim/Donbas/Mariupul occupation Tribunal?

  6. Das sind ganz entscheidende Fragen.

    Ein Krim/Donbas/Mariupul-Occupation-Tribunal wird es leider nicht geben, weil hier der Täter ja nicht die USA sind. Aber die Idee ist sehr gut und sie gilt es festzuhalten.

    Was Habermas da abgeliefert hat, ist eine Mischung aus entglittenem Text und der üblichen Selbstgefälligkeit. Hätte jemand anderes als Habermas diesen Text geschrieben, sagen wir Precht oder Welzer, von denen könnte solches Machwerk ebenfalls kommen: es wäre in der Luft zerrissen worden.

  7. Zu Plänen, einen Kompromissfrieden auf der Basis zu schließen, den Russen die bisher besetzten Gebiete zu überlassen und die verbleibende Ukraine für alle Zeiten auf einen neutralen Status festzulegen fällt mir ein Beispiel aus der Geschichte ein.

    Adolf Eichmann hatte den Plan entwickelt, den Südosten des vor dem Überfall auf die Sowjetunion deutsch besetzten Polen von christlichen Polen zu evakuieren und dort stattdessen ein „Judenreservat“ einzurichten, in dem die Juden in KZ ähnlichen Lagern zusammengefasst und zur Landarbeit gezwungen werden sollten, aber nicht gezielt ermordet, auch keine Vernichtung durch Arbeit, aber dennoch unter Bedingungen, die zu ihrer Dezimierung führen würden. Nach Kriegsende sollten die dann nach Palästina oder Madagaskar deportiert werden. Das war keineswegs ein Planspiel, sondern so konkret, dass man sich zu Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ noch logistisch mit dem Troß der nach Osten marschierenden Heere in die Quere kam.

    Wenn heute Leute sagen würden: „Das wäre doch aber besser als die Shoah gewesen“, wie würde man denen wohl gegenübertreten?

    Die äquidistanten Kompromisslösungsfreunde sehe ich etwa so.

  8. Diese „Kompromiß“-Lösung ist sehr gut illustriert. Nichts anderes nämlich bedeutet die Besetzung, die Okkupation eines Teils der Ukraine: ein russisches Terrorregime, wie es ja bereits in den eroberten Gebieten existiert: Foltergefängnisse, Deportationen, Gewalt und Terror.

  9. Habermas‘ dickster Denkfehler liegt für mich in diesem Satz: „So operieren die westlichen Regierungen in einem weiteren geopolitischen Umkreis […] und tragen […] eine moralische Mitverantwortung für Opfer und Zerstörungen, die mit Waffen aus dem Westen verursacht werden; daher können sie auch die Verantwortung für die brutalen Folgen einer nur dank ihrer militärischen Unterstützung möglichen Verlängerung des Kampfgeschehens nicht auf die ukrainische Regierung abwälzen.“

    Der Westen hat eine moralische Mitverantwortung für Opfer und Zerstörungen, die mit Waffen aus dem Westen verursacht werden – was meint H.? Ukrainische Patriots, die russische Marschflugkörper daran hindern, zivile Ziele in Ukraine zu treffen? Die ukrainischen Panzer, die russische Drohnen hindern, UkrainerInnen zu töten?

    Die Waffen des Westens, die Ukraine gegen die russische Armee einsetzt, treffen per se Angehörige der russischen Streitkräfte. Hat H. sich mal angeschaut, wieviele zivile russische Opfer es durch vom Westen an Ukraine gelieferte Waffen gegeben hat und diese Zahl in Beziehung gesetzt zu den unterschiedslosen Bombardierungen Russlands gegen Ukraine und den zivilen Toten auf ukrainischer Seite in deren Folge?

    Wenn mit westlichen Waffen Angehörige der russischen Streitkräfte getötet werden, bleibt die Verantwortung dafür bei der ukrainischen Regierung – die ukrainische Regierung will für die brutalen Folgen ihrer Angriffe verantwortlich sein, weil sie sich mit Angriffen, die brutale Folgen haben, wehrt gegen eine unprovoked und illegal invasion, bei denen Frauen und Kinder in Feindesland verschleppt werden.

  10. So ist es. Und es ist dies einmal wieder jene Haltung der Äquidistanz, die nicht zwischen Angreifer/Aggressor und dem Verteidiger gegen einen Aggressor zu differenzieren vermag. Und da Habermas eigentlich wissen sollte, was er schreibt, gehe ich davon aus, daß diesem Satz nicht bloß ein Denkfehler, sondern vor allem eine verquere Sichtweise zugrunde liegt, der auch mit einem unheilvollen Pazifismus zu tun hat, bei dem sich alle Soldaten ähnlich sehen. Eine solche Haltung zielt angesichts Putins Kriegsgreueln an der Sache vorbei.

  11. Es wäre übrigens interessant, Einschätzungen des Krieges von ukrainischen Intellektuellen zu kennen, wie oben angeregt. Über Alexander Dugin haben wir ja schon diskutiert.

  12. Die Verlogenheit dieser Erstunterzeichner der Zarenknecht-Petition zeigt sich auch hieran:

  13. Der Westen, Ukraine und Habermas – jeder der Akteure müssen beantworten, was ihnen am wichtigsten ist. Wenn verhandeln wichtig ist, wie soll dann Strafverfolgung durch die UN gehen? Wenn Strafverfolgung durch die UN wichtig ist, wie soll dann verhandeln gehen? Habermas schlägt vor, „ein für beide Seiten gesichtswahrender Kompromiss“ könne am Ende von Verhandlungen stehen. Westen und Ukraine schlagen vor, die UN könne Verfahren gegen die russische Staatsspitze beginnen, das untersucht, ob deren Befehle für Angriffe ziviler Ziele einen Bruch internationalen Rechts darstellen.

  14. @Tom Outor: Zunächst einmal wird es darum gehen, diesen Krieg zu einem Ende zu bringen. Und das eben bedeutet: Putin zum Verhandeln zu zwingen, weil der Preis für Putin zu hoch ist.

    Kriegsverbrechen sind im Grunde nicht verhandelbar. Aber welche Möglichkeiten es da gibt, das müssen Juristen und Experten fürs Völkerrecht entscheiden. Egal wie man es aber dreht: ich denke nicht, daß irgendein westlicher Staatschef in den nächsten 10 Jahren Putin zu sich einladen wird. Und ich denke auch nicht, daß irgendein westlicher Staatschef nach Rußland reisen wird, um Putin zu besuchen. Putin ist so oder so erledigt. Er hat im Grunde seit über 15 Jahren gezeigt, daß seine Worte weniger wert sind als ein Stück benutztes Klopapier.

    Und da sind wir bei einem viel schwierigeren Problem: Wie soll der Westen, wie soll die Ukraine mit einem notorischen Lügner, Trickser und Betrüger verhandeln? Stichwort vranyo, siehe auch den Artikel von Volker Eichener „Russlands Krieg gegen die Ukraine: Kann man mit habituellen Lügnern verhandeln?“
    https://www.ruhrbarone.de/russlands-krieg-gegen-die-ukraine-kann-man-mit-habituellen-luegnern-verhandeln/211240/?

    Was sind die Zusagen Putins wert? Eine sichere und freie Ukraine in den Grenzen von 2022 und eigentlich auch in den Grenzen von 2013 benötigt eine Mitgliedschaft in der NATO oder aber Sicherheitsgarantien der USA und des freien Europa.

  15. Prof. Eicheners Artikel vom Sommer 2022, der hier verlinkt wird, ist für mich auf zweifache Weise unterhaltsam. Zum einen rekonstruiert er kunstvoll, wie sich beim Gespräch zwischen den Staatspräsidenten M. und P. die Ziele M.s und P.s, einander über die eigenen Überzeugungen in Kenntnis zu setzen, Lügen und Erkennen des Lügens ohne Konsequenz für das Gespräch ereignen – solche Gespräche, in denen Lüge unwidersprochen bleibt, da stimme ich Eichener zu, machen Verhandeln unmöglich. Dann kommt außerdem im Artikel die Idee vom Volkscharakter der Russen, an dem ich wenig ernsthaftes Versuchen von Verstehen erkenne: „Selbst Mütter sind stolz, wenn ihr Sohn den Heldentod stirbt. Auch Wohlstand stellt für Russland kein wesentliches Ziel dar. Deshalb nimmt man die Kosten des Kriegs genauso in Kauf wie die wirtschaftlichen Schäden, die durch Sanktionen ausgelöst werden. Die russische Seele ist unendlich leidensfähig.“, dann klingt das für mich wie die deutschen Propagandamärchen der Weltkriege, in denen versucht wurde, den Gegner Russland als anders und sentimental zu charakterisieren, um Gewalt gegen diesen Anderen und Sentimentalen zu legitimieren. Daher ist Eicheners längerer Aufsatz über vranyo für mich sowohl Aufklärung als auch deren Gegenteil von Aufklärung, nämlich Gegen-Propaganda.

  16. Na ja, was heißt Volkscharakter? Es ist dies eine Umschreibung für eine bestimmte vorherrschende Tendenz in einer Gesellschaft mit bestimmten Bedingungen. So wie kaum jemand ein plurales Bewußtsein von Ansichten im Dritten Reich annehmen würde, sondern hier sprechen wir ebenfalls von einem bestimmten, in dieser Diktatur vorherrschenden Charakter, nämlich dem der Volksgemeinschaft, des Gleichgeschalteten: jene, die den totalen Krieg wollten. 1940 gab es in Deutschland in der Öffentlichkeit keine Kriegsgegner, schon gar nicht nach den deutschen Siegen. Wenn es Widerstand gab, dann im Verdeckten und allenfalls im Denken. Und das eben ist von der Struktur her eine Parallele zum heutigen Rußland. Und im Grunde zu allen Diktaturen, die es vermochten ein solches Regime mittels einer großen Zustimmung in der Bevölkerung zu errichten.

    „dann klingt das für mich wie die deutschen Propagandamärchen der Weltkriege, in denen versucht wurde, den Gegner Russland als anders und sentimental zu charakterisieren, um Gewalt gegen diesen Anderen und Sentimentalen zu legitimieren.“

    Wonach etwas für Dich klingt, ist ein subjektives Ermessen. Hier geht es auch nicht um den Zweiten Weltkrieg, sonderen um eine ganz andere Tendenz und die ist in diesem Satz doch sehr treffend beschrieben:„Selbst Mütter sind stolz, wenn ihr Sohn den Heldentod stirbt. Auch Wohlstand stellt für Russland kein wesentliches Ziel dar. Deshalb nimmt man die Kosten des Kriegs genauso in Kauf wie die wirtschaftlichen Schäden, die durch Sanktionen ausgelöst werden. Die russische Seele ist unendlich leidensfähig.“

    Und genau das ist von Eichener auf den Punkt gebracht: Trotz Rohstoffreichtum, trotz reichlich Erdgas leben viele Russen in Armut und haben nicht einmal eine Gasheizung, sondern es werden Kohle und Holz verfeuert und trotz und einer ungeheuren sozialen Ungleichheit im Land gibt es kein Aufbegehren gegen dieses System. Und ähnliches gilt auch für den Krieg. Ob man von der russischen Seele sprechen muß, sei dahingestellt. Es ist zumindest aber eine Umschreibung dafür, daß Russen vieles mit sich machen lassen und auch noch bei einem blutigen Krieg, wo Mütter ihre Söhne und Ehefrauen ihre Männer verlieren, nicht viel Protest zu hören ist. Die Widerstandkraft der Russen gegen diesen Krieg und gegen das halb faschistische, zumindest aber totalitäre System eines Putin fällt doch sehr gering aus. Die Russen sind leidensfähig – genau das umschreibt dieser Satz. Und hinzu kommt jener irrsinnige Nationalstolz.

    „um Gewalt gegen diesen Anderen und Sentimentalen zu legitimieren.“ In diesem Angriffskrieg wurde die Gewalt von Rußland ausgeübt. Wer sich gegen derartige Gewalt wehrt, legitimiert damit nicht Gewalt. Diese Legitimation ist bereits durch die Russen erfolgt, die diesen Krieg begonnen haben. Die mittelbare Gewalt gegen Rußland ist motiviert durch den russischen Angriff auf die Ukraine und durch die von Russen verübten Kriegsverbrechen in der Ukraine. hier sind unbedingt Mittel erforderlich, Rußland aufzuhalten. Und dies geschieht ja auch auf eine angemessene Weise. NATO und USA halten sich zurück. Sie tun das, was vom Völkerecht gedeckt ist, nämlich der Ukraine ihre Selbstverteidigung zu ermöglichen.

    Und insofern ist dieser Aufsatz auch keine Gegenpropaganda,sondern er liefert ein Bild von der Lage in Rußland. Objektiv gibt es keine Gegenwehr gegen das raschistische System Putins. Anders als im Iran, wo es seit einigen Monaten ein erhebliches Aufbegehren gibt.

  17. Und noch ein Aspekt: Für das gegenwärtige Bild, das Rußland in vielen Ländern erzeugt, ist allein Rußland verantwortlich. Was im übrigen auch vom Sowjetsystem gilt. Adenauers Kritik daran war ja nicht falsch, nur weil es eben Adenauer war, der da kritisierte – auch wenn es Aspekte gab, die wir an Adenauer eher wenig schätzen.

  18. Ich habe die ersten fünf Minuten gehört. Interessant ist die Rede weniger wegen der Verdrehung der historischen Fakten – da kann man sich genausogut Hitlers Reden anhören, daß Polen und die Juden den Zweiten Weltkrieg angefangen hätten: die Strukturen solcher Lügen sind ähnlich -, sondern vor allem wegen der darin enthaltenen Rhetorik, vor allem auch in Richtung des freien Westens. (Und nein: der Westen, den es als Kollektivsingular gar nicht gibt, sondern nur als Miteinander von Verschiedenen, ist nicht in einem absoluten Sinne frei, sondern in Relation zu Rußland genommen.)

    Diese Rede zeigt zumindest einmal mehr, daß es wichtig ist, Putin mit aller Entschlossenheit entgegenzutreten.

  19. Der in der SZ erschienene Essay trägt den Titel „Plädoyer für Verhandlungen“. Die Kommentare hier beschäftigen sich wenig mit dem Text. „Plädoyer für Verhandlungen“ beschäftigt sich mit Russland und dessen Präsidenten am Rande. Zentral für diesen Text ist, in meinen Augen, sein Blick auf uns, den Westen. Ich finde es interessant nachzudenken, wie wir uns sehen, und sehe den Essay als Möglichkeit. Ukraine und Russland sind vielleicht so etwas wie Spiegel unserer Selbst. Mir gefällt an „Plädoyer für Verhandlungen“ nicht, dass die Seiten, die verhandeln sollen, weder benannt noch getrennt betrachtet werden und auch nicht klar ist, wer der Adressat des Plädoyers ist. Will der Text die Nato-Mitgliedsstaaten überzeugen, sich an Verhandlungen zu beteiligen? Will der Text der überfallenen Ukraine erklären, worin ein Vorteil von Verhandlungen bestehen könnte? Und was ist mit den Waffenlieferungen? Ich lese „Plädoyer für Verhandlungen“ eher als Plädoyer gegen Waffenlieferungen.

  20. Ich habe das oben mehrfach geschrieben: „Plädoyer für Verhandlungen“ setzt voraus, daß da jemand ist, der verhandeln will.

    „beschäftigt sich mit Russland und dessen Präsidenten am Rande.“

    Und genau darin liegt das Problem des Textes – zumal wie man unschwer sehen kann, Rußland zentraler Akteur in dieser Lage ist. Was Habermas in etwa macht, ist damit vergleichbar, als wenn er einen Essay über Adorno fertigen will und dabei dann über Aristoteles schreibt.

    „Zentral für diesen Text ist, in meinen Augen, sein Blick auf uns, den Westen.“

    Der ist aber fürs Beenden des Krieges unerheblich – zumal nicht der Westen die Ukraine überfallen hat.

    „Ich finde es interessant nachzudenken, wie wir uns sehen, und sehe den Essay als Möglichkeit.“

    Das mag sein. Es kommen dann nur eben jene von mir genannten Glasperlenspiele heraus. Und wenn jemand über sich selbst nachdenken will, dann sollte er das auch in der Einleitung bereits explizit sagen. Dazu aber würde dann schon die Überschrift nicht mehr passen, wenn es um jenes Verhandeln geht.

    Der Text bleibt, egal wer sein Adressat sein mag (vermutlich die deutschen Leser), abstrakt und unbezüglich. Es trifft auf ihn die Redewendung zu: Viel Reden, ohne etwas zu sagen. Die ganze Argumentationsstruktur dieses Textes und auch sein Aufbau ist schwach, und das ist die freundliche Variante der Kritik, ebenso wie der Ausdruck „Wunschdenken“.

    Dieses „Pädoyer für Verhandlungen“ ist ein, für einen Sozialphilosophen zudem hochpeinliches, An-der-Sache-Vorbeischreiben.

    „Ich lese „Plädoyer für Verhandlungen“ eher als Plädoyer gegen Waffenlieferungen.“

    Das sehe ich ähnlich und darin ist er die nur etwas wortreichere Variante dieser Petition von Wagenknecht und Schwarzer.

    Weil Habermas jedoch die Rechnung ohne den Wirt macht, bleibt seine Analyse dünn und er schreibt an der Sache vorbei – muß geradezu aus genau diesem Grunde die Sache verfehlen. Zumal Habermas in keinem Punkt benennt, was denn konkret passierte, wenn die Waffenlieferungen ausbleiben. Nimmt Habermas dann an, daß Putin mit Krieg und Kriegsverbrechen aufhört, weil die Waffenlieferungen aufhören? Dieser Aspekt würde mich sehr interessieren, ebenso bei denen, die diese Petition unterschrieben haben.

    Ich habe auf diese Frage bisher noch keine einzige befriedigende Antwort gehört.

  21. Aber selbst wenn man es unter der Rubrik „Was will Europa?“ oder „Was will der Westen?“ faßt, kommen wir ohne einen Bezug auf Putin nicht aus. Nämlich eine Sicherheitspolitik, die nicht mehr mit Rußland betrieben wird, wie dies noch in den 2000er Jahren war, sondern eine Sicherheitspolitik, die bedeutet: Sicherheit vor Rußland zu organisieren. Und das schließt die freie Ukraine in ihren Grenzen von 2013 mit ein. Und auch in diesem Falle, man kann es drehen wie man will, läuft es auf Bewaffnung und Gerüstetsein hinaus. Nach dem Motto „Si vis pacem para bellum“ – eben in der Hoffnung, daß es aufgrund eines Wohlgerüstetseins es keinen Krieg gibt. Und all das gilt, solange in Rußland das Putin-Regime herrscht. Allerdings halte ich in solchen Fragen jemanden wie Habermas für einen denkbar ungeeigneten Kanditaten. Hier geht es um eine breite Öffentlichkeit und um Expertise und nicht darum, daß wir in kleinen Blogs oder als Journalisten in Zeitungen unsere Sichtweisen darlegen – mögen sie auch wohlbegründet sein. (Bei Habermas ist dies leider nicht der Fall.)

  22. Wenn jemand über sich selbst nachdenken will sollte er meditieren oder einen Supervisor oder Psychotherapeuten aufsuchen oder einer Selbsterfahrungsgruppe beitreten. Das ist doch eher eine kontemplative Angelegenheit.

    Finde höchst erstaunlich, das als alter Antiimperialist und NATO-Gegner so zu sagen, aber aktuell würde ich es für hilfreich halten, die 6. Flotte ins Schwarze Meer einlaufen zu lassen und eine B1-Staffel mit jeweils 12 Megatonnen Sprengkraft an Bord durch den ukrainischen und belarussischen Luftraum hindurch von Incirlik nach Turku zu verlegen.

  23. Ganz genau so ist es, che. DAS nämlich ist die Sprache, die Putin sehr gut versteht.

    Vor allem aber: Druck machen an Rußlands Außengrenzen. Wenn es nämlich tatsächlich so ist, daß 90 Prozent der russischen Armee in der Ukraine im Einsatz sind, dann wären massive NATO-Manöver samt Truppenstationierungen eine gute Antwort. Genau das zu tun, was auch Putin tut. Einen gehörigen Aufmarsch proben. Ähnliches im Pazifik, im japanischen Meer.

  24. Unter der Überschrift „Texte zur Ästhetik, Philosophie und Kunstkritik sowie vermischte Bemerkungen“ liegt der Schwerpunkt hier auf „vermischte Bemerkungen“ zu militärischen Stärken und Schwächen. Ich fände es gut, an Habermas‘ Text sich über Methoden der Begründung zu unterhalten. Habermas mag Gummisätze bilden und ein Herz für Putin im Sinn haben, militärisch ist sein Text auf keinen Fall.

  25. „Ich fände es gut, an Habermas‘ Text sich über Methoden der Begründung zu unterhalten.“

    Habermas begründet nichts, sondern er postuliert etwas: Nämlich, daß es Verhandlungen geben sollte. Eben das, was ich in meiner Kritik an ihm auch thematisiere. Bzw.: seine Begründungen treffen dabei dann einen abstrakten leeren Bereich. Seine Begründungen würden dann funktionieren, wenn das, was er schreibt, einen Adressaten hätte, der genau für diese dargelegte Argumente, weshalb Kriege schlecht sind, empfänglich wäre. Aber der zwanglose Zwang des besseren Argumentes funktioniert nicht, wenn einer nicht gewillt ist zu argumentieren, sondern, wie Putin, auf brutale Gewalt setzt. Da kann Habermas noch so viele Begründungsschleifen ziehen: Es bleibt am Ende nur der Diskursnebel. Und dabei geraten dei Begründungen zu einem Glasperlenspiel.

    Daß sein Text militärisch sei, ist nicht das Thema und das ist auch nicht meine Kritik an seinem Text (insofern verstehe ich Deinen Einwurd nicht ganz), sondern vielmehr kritisiere ich an einigen Stellen seine Äquidistanz, wenn er etwa von den Opfern spricht: „eine moralische Mitverantwortung für Opfer und Zerstörungen, die mit Waffen aus dem Westen verursacht werden; …“ Hier unterschlägt Habermas Ursache und Wirkung. Oder wie Klitscho es sagte: „Es gibt keine russischen Opfer, denn wer mit Waffen kommt, stirbt durch Waffen, die Opfer sind Ukrainer.“ Habermas ignoriert in diesem Kontext die russischen Angriffe und er sagt nicht, wie dem zu begegnen wäre.

    PS: Der Kommentar ist im Spam-Ordner gelandet. Deshalb die verspätete Freischaltung und die verspätete Antwort.

  26. @NN. Danke für den Hinweis.

    Leider ist Dein Kommentar im Spam-Ordner gelandet. Deshalb die verspätete Freischaltung und die verspätete Antwort.

  27. Danke für den Tip. Werde ich mir in der Mediathek ansehen. Was einen bei Zarenknecht und ihrem Putinismus erwartet, läßt sich erahnen. Abschaum sind solche Leute. Wie auch ein Großteil jene Leute, die heute in Berlin demonstrierten: Entweder dumm oder aber zynisches Pack. Und auf der Bühne natürlich kein einziger Ukrainer.

  28. Kister hat in seinem Text zu Habermas‘ Text, der unter Habermas‘ Text von der SZ gedruckt wurde, gleich in der Einleitung dick aufgetragen mit dem Satz „Er ist der weltweit bekannteste lebende deutsche Philosoph.“ Ich finde es faszinierend, wie wenig über diesen ellenlangen und verschlungenen Text von Habermas diskutiert wird. Hier wird diskutiert, Bravo! Mir scheint, dass Habermas sich für den Seher hält, der anderen den Weg weisen will. Er redet davon, dass für den amerikanischen Präsidenten die Uhr ticke und dass für den russischen Präsidenten es gut gelaufen wäre, wenn in der Zukunft sich sein Land und die USA auf eine neue Architektur für Sicherheit verständigen würden. Was Ukraine, Deutschland, Frankreich, Polen, Estland, Moldawien, Georgien von Russland und USA halten, behandelt er nicht. Mir scheint, dass Habermas der Drohung Russlands, es könne zur Not auch nuklear die Ukraine bombardieren, die größte Bedeutung zumisst. Er könnte ja diskutieren, warum Atomwaffen die Bewertung von Kämpfen oder Aufgeben verändern. Von Horkheimer, den Habermas nicht zitiert, gibt es die sardonische Bemerkung zur Rolle der Vernunft im Sprechen von und mit Diktatoren: „If even the dictator invokes reason persuasively at times, it is because he believes that he possesses the most tanks. He was sensible enough to build them; the others should be sensible enough to retreat. To defy such reason is quite simply a sacrilege.“ (Horkheimer in New York 1944, zitiert in Weigel/Goebel Escape to Life, 2013) Mir scheint Habermas der Vernunft von Diktatoren zu folgen, die es als sensible verkaufen, sich geräuschlos im Flur zu einigen, damit im Salon kein Eklat entsteht.

  29. Der entscheidende Punkt, den Sie aufmachen: Es kommt eben keine einzige Stimme aus der Ukraine oder aus Ost- und Mitteleuropa zu Wort.

    Auch mir scheint es so, daß man diesen Text von Habermas eher peinlich-betreten untern Tisch fallen läßt. Einige wenige Kritiken.

  30. So wie Hegel als Metaphysiker und Erkenntnistheoretiker einer der größten Denker aller Zeiten, bezogen auf die politische Praxis seiner Zeit aber nur preußischer Staatsphilosoph war, so ähnlich verhält es sich mit Habermas auch. Die Schärfe und kompromisslose Klarheit von Horkdorno erreichte er nie.

  31. Na ja, das kann man bei Hegel schon noch ein wenig anders lesen. Die „Rechtsphilosophie“ ist im Blick auf Preußen durchaus ambivalent, denn der ideale Rechtsstaat ist für Hegel nicht die preußische Staatsverfassung; Hegel gehörte in Preußen zu den Kräften, die für Reformen eintraten. Auch muß man beachten, daß in Preußen eben nicht alles öffentlich einfach so gelehrt und gesagt werden konnte. Hegel saß immer die Zensur im Nacken und der preußischen König war froh als Hegel tot war und dann mit Schelling jemand in Berlin dessen Lehrstuhl übernahm, der die „Drachensaat des Hegelianismus“ ausrottete. Auch Preußen hatte Hegels Philosophie immer als kritisch empfunden und da ist dann insofern Hegel auf einem staatlichen Lehrstuhl wiederum Adorno (auf einem staatlichen Lehrstuhl in der BRD) näher noch als Habermas, was die Art der grundsätzlichen Kritik betrifft. Der „Philosoph der Freiheit“, wie Joachim Ritter und im Anschluß daran später auch Klaus Vieweg Hegel nennt (so auch der Titel seiner Hegelbiographie), sah diese Freiheit nicht in Preußen schon als grundsätzlich verwirklicht, sondern in einer bürgerlichen Demokratie.

    Habermas kann man wohl zu recht als einen eher der Sozialdemokratie zugeneigten Soziologen/Rechtsphilosophen begreifen. Das war Adorno in gewissem Sinne auch, was die BRD betraf, aber es findet sich bei ihm ein deutlich kritischerer Impetus, und Adorno beharrte vor allem auf den Aporien, die eine (spät)bürgerliche Gesellschaft in sich trug und die nicht mit einer bloß kommunikativen Vernunft, mit Intersubjektivität und mit sozialen Reformen einfach aufgelöst werden konnten. Darin war Adorno radikaler. Wenngleich Habermas am Ende recht behalten sollte, was den evolutionären Wandel einer Gesellschaft betrifft, darin durch solche kommunikativen Prozesse und auch durch die Kraft sozialer Bewegungen und Subkulturen deutliche Verbesserungen in einer Gesellschaft sich zeitigten. Insofern würde ich beiden Positionen ihr Recht zu gestehen, da sie in bestimmten Hinsichten richtige Kritik üben. Adorno in seiner Bestimmtheit und Radikalität: er hat immer sehr schnell den Braten gerochen, wenn Reform auch nur meint, daß am Ende alles so bleibt, wie es ist und zugleich wußte er doch, dies teilte er mit Habermas, daß ohne solche Reformen alles nichts ist. Und darin unterschied er sich auch von einer bestimmten radikalen Linken, die immer noch annahm, daß der Kapitalismus an seinen Widersprüchen zugrunde ginge – um es etwas idealtypisch zu schematisieren.

  32. Man kann Habermas‘ Text auch im Zusammenhang mit der Diskussion vom Januar 203 in der FAZ lesen, in der sich vier Autoren über die Frage stritten, ob die angegriffene Ukraine eine rechtliche oder moralische Verpflichtung haben könnte, die Opfer an Menschenleben auf der eigenen Seite zu begrenzen durch unilaterale Einstellung der Kämpfe. Ein Autor war dafür, die anderen drei dagegen. Habermas beschäftigt sich mit den dort entwickelten Argumenten nicht, sie liegen überwiegend auf der Ebene des Völkerrechts und weniger auf der Ebene von Ethik. Habermas‘ Text richtete sich mehr an die Deutschen, die Texte in der FAZ mehr an die Ukraine. Ich sehe eine Schnittmenge in der Frage, ob Deutschland zusehen sollte, wenn die Ukraine sich in selbstmörderische Selbstverteidigung verrennen sollte. Im Moment sieht es für mich noch nicht nach selbstmörderischer Selbstverteidigung aus.

  33. Seltsam immer wieder, daß diese Fragen niemals auch wirklich niemals auch nur einmal an Putin gerichtet werden. Der nämlich diesen Angriffskrieg begonnen hat – seit 2014 übrigens mit der Annexion der Krim, der Intervention im Donbas – und der insofern primärer Adressat sein müßte.

    Weiterhin: Das Selbstverteidigungsrecht der Ukaine wird zum Glück nicht am deutschen Stammtisch und auch nicht in der lauwarmen Badewanne des deutschen Feuilletons entschieden, sondern es ist allein die Sache der Ukrainer, wie sie vorgehen wollen. (Davon einmal abgesehen, daß eine Einstellung des Krieges noch viel eher bedeutet, daß der Krieg dann nach Rußland getragen wird. Nämlich als Guerillakrieg und da kann dann auch schon mal in Moskau in der U-Bahn eine Bombe explodieren. Szenarien, die um keinen Deut besser sind als ein tatsächlicher Krieg. Solange Putin nicht verhandelt, solange wird Putin dieser Krieg um die Ohren fliegen, egal in welcher Variante. Und dazu müssen auch die Waffenlieferungen des Westens ihren Beitrag leisten.)

    Anstatt solche blödsinnigen Fragen in anderer Namen und über die Köpfe der Ukrainer hinweg zu palavern, sollten wir lieber überlegen, welche Waffen die EU, die NATO, die USA liefern, damit zielgerichet die russischen Raketen- und Artilleriestellungen ausgeschaltet werden können und all jene Schiffe der Schwarzmeerflotte, von denen Raketen auf die Ukraine abgefeuert werden. Das nämlich ist es, was einen Krieg tatsächlich und effektiv verkürzt: Putins Niederlage und das Ausbluten seiner Armee.

  34. @“ Diskussion vom Januar 203 in der FAZ “ – 203 wurde nicht in der FAZ, sondern im römischen Senat diskutiert, ob man die Partherkriege fortsetzen und Persien erobern solle.

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