Harald Martenstein und der Tagesspiegel

Die Causa Tagesspiegel, das Schnarchblatt aus Westberlin, das es gestern nicht einmal vermochte, zum 75. Geburtstag des genialen Henry Hübchen zu gratulieren, dürfte inzwischen auch in überregionalen Medien gelandet sein. Der Tagesspiegel hat letzte Woche eine Kolumne ihres langjährigen, seit 1988 für diese Zeitung schreibenden Journalisten und Kolumnisten Harald Martenstein offlline gesetzt, worauf Martenstein seine Mitarbeit für diese Zeitung aufkündigte. Konsequent von Marteinstein, beim Tagesspiegel aufzuhören. Ich schätze nicht nur seine Texte sehr, sondern auch seine Haltung. Dies ist wie mit Harald Schmidt: ab einem bestimmten Alter tun viele Dinge nicht mehr weh und man kann den Leuten auch ins Gesicht sagen, was man von ihnen hält. Martenstein ist einer jener, die witzig und lässig zugleich sind. Ein bißchen so, wie früher unsere altlinken Kunst- oder Philosophielehrer.

Hier der Text der gelöschten Kolumne zum Zwecke der Dokumentation. Damit sich jeder selbst ein Bild machen kann und nachfolgend mein Kommentar dazu:

Anfang Januar 2012 demonstrierten in Jerusalem ultraorthodoxe Juden gegen die Regierung, viele trugen dabei den „Judenstern“ aus der NS-Zeit. Ihrer Ansicht nach verhielt sich der Staat Israel ihnen gegenüber so ähnlich wie die Nazis. Auch beim „Marsch gegen Islamophobie“, 2019 in Paris, waren Judensterne zu sehen, nur mit fünf Zacken statt sechs.

Laut Godwins Gesetz, benannt nach einem US-Autor, taucht in jeder öffentlichen Diskussion von emotionaler Bedeutung irgendwann ein Nazi-Vergleich auf. Godwins Gesetz kommt der Wahrheit ziemlich nah. Dass Donald Trump, Wladimir Putin, Sebastian Kurz oder die AfD heute mit Hitler oder der NSDAP verglichen oder gar gleichgesetzt werden, versteht sich von selbst, obwohl sich dabei Historikern die Fußnägel hochrollen und man so etwas durchaus „Verharmlosung des Holocaust“ nennen könnte. Origineller war die britische Zeitschrift „New Statesman“, als sie Angela Merkel „die gefährlichste deutsche Führungspersönlichkeit seit Adolf Hitler“ nannte, originell sind auch Vergleiche der NSDAP mit der CSU (etwa durch den SPD-Politiker Florian von Brunn). Den Vogel abgeschossen hat wohl Dieter Dehm, Linkspartei, als er die Bundespräsidentenwahl 2010 so kommentierte: „Was würden Sie machen, wenn Sie die Wahl hätten zwischen Hitler und Stalin?“ Zur Wahl standen Joachim Gauck und Christian Wulff.

Wer den Hitlervergleich bemüht, der natürlich nie stimmt, möchte sein Gegenüber als das absolut Böse darstellen, als Nichtmenschen. Der Vergleich will Hitler gerade nicht verharmlosen, er macht ihn zu einer Art Atombombe, die einen politischen Gegner moralisch vernichten soll. Der Judenstern dagegen soll seine modernen Träger zum absolut Guten machen, zum totalen Opfer. Er ist immer eine Anmaßung, auch eine Verharmlosung, er ist für die Überlebenden schwer auszuhalten. Aber eines ist er sicher nicht: antisemitisch. Die Träger identifizieren sich ja mit den verfolgten Juden. Jetzt, werden auf Corona-Demos häufig Judensterne mit der Aufschrift „ungeimpft“ getragen. Von denen, die das „antisemitisch“ nennen, würden wahrscheinlich viele, ohne mit der Wimper zu zucken, Trump mit Hitler und die AfD mit den Nazis vergleichen. Der Widerspruch in ihrem Verhalten fällt ihnen nicht auf.

Ein Supermarktleiter hat vor ein paar Jahren seine Sekretärin, die ihm wohl zu dominant auftrat, mit den Worten „Jawohl, mein Führer!“ gegrüßt. Sie klagte, wegen Hitlervergleichs, er wurde fristlos entlassen. In zweiter Instanz wandelte ein weises Gericht die Kündigung in eine Abmahnung um. Die einzige Kirche, der ich angehören möchte, ist die, die man im Dorf lässt. Dieses Zitat stammt von dem „konkret“-Chefredakteur Hermann L. Gremliza, einem meiner Jugendidole.

Man muß diese Sicht nur bedingt teilen und auch Martenstein entschuldigt das Tragen von Judensternen keineswegs, aber seine Kolumne ist dennoch gut gewesen und eine Zeitung wird auch solche Position aushalten müssen und können und es sollten dort auch solche Zeilen sagbar sein – zumal Kolumnen und Glossen keine Nachrichten und Reportagen sind, sondern Sichtweisen einer bestimmten Person zeigen. Etwas mehr Ambiguitätstoleranz hätte dem Tagesspiegel gut angestanden. Konsequenterweise hat Martenstein dann gekündigt und die Arbeitsbeziehung abgebrochen.

Martenstein schreibt teils Satiren und milde, sehr milde Polemiken, die immer mit einem Augenzwinkern daherkommen und die im Ton freundlich sind. Man lese zum Gegenpol einfach mal den teils herrlichen bissigen Wolfgang Pohrt sowie den fein-nfrechen Wiglaf Droste oder den zuspitzenden und mit Polemik nicht sparenden und von Martenstein oben genannten Herman L. Gremliza (alle leider schon tot) – da wird deutlich ätzender und beißender in der Kritik ausgeteilt. Aber die weiß- und weichgespülten Mingelbürschen und Mingel-Mägdelein hören bei anderen das Gras laut wachsen, nur eben leider nicht bei ihrem eigenen, teils übergriffigem Verhalten.

Harald Martenstein gehört in meinen Augen mit zum Besten, was an Kolumnenschreibern so schreibt. (Er teilt im übrigen gegen alle aus, nicht nur gegen Woko Haram.) Das ZEIT-Magazin, seit Jahren ein Schatten seiner selbst und noch überflüssiger als die Beilage für ZEIT-Werbung aus dem ZEIT-Shop, lebt einzig durch die Kolumnen von Martenstein und die Kochrezepte von Elisabeth Raether. Selten lese ich dort eine gute Reportage, meist aber lustige Kolumnen. Und so war es auch am Sonntag im Tagesspiegel. Aber der neuerdings erhobene vornehme Ton derer, die da anbräunen, wo nichts zum Anbräunen ist, wird vermutlich nicht verstummen, und es werden die Debatten und die hysterischen Einsätze, von beiden Seiten, den Fake-News-Verbreitern und der Woko Haram, schärfter. Es gilt, dagegenzuhalten. Gegen beide Seiten.

Martenstein ist ein astreiner Linker, der innerlinke Kritik an der Mingelkindskopflinken und an deren Identitären betreibt – so wie das früher in den 1980er Jahren auch die Titanic tat, wenn sie über das absurde Gebaren des Alternativmilieus und die Betroffenheitsschwätzer herzog. Ich erinnere noch gut die Rubrik „Briefe an die Leser“, wo Bettina Wegener in Anspielung auf die Textzeile „Wenn meine Lieder nicht mehr stimmen, hör ich auf zu singen“ gebeten wurde, doch bitte mit dem Singen aufzuhören. Oder aber Eckhard Henscheid, der einer bestimmten Linken in scharfem und witzigen Ton ihre Phrasen um die Ohren schlug. Oder zeichnerisch F. W. Bernstein, Clodwig Poth und Marie Marcks. Und der Ton der Kritik und der Satire war damals teils deutlich schärfer. Erinnert sich noch jemand an die Geiselnehmer in Gladbeck mit dem Viererphoto im Auto und dazu von Titanic die Bildmontage „Abba sind wieder da!“? Ja, das war hart und bitter und an schwer an der Grenze, vor allem aber war es eine bissige Satire gegen das Verhalten vieler Medien. Dagegen ist Martenstein ein alter, freundlicher, weißer Mann.

PS: Eigentlich hätte ich meine Kolumne mit dem provokanten Titel versehen müssen „Nazis, mit langen Haaren“ – frei nach jenem Schlagertext „Mädchen mit blonden Haaren“ (kennt heute vermutlich keiner mehr). Aber dieser lustige Titel fiel mir erst hinterher ein.

CC-Lizenz Wikipedia; https://commons.m.wikimedia.org/wiki/File:Kolumnist_Harald_Martenstein.jpg

16 Gedanken zu „Harald Martenstein und der Tagesspiegel

  1. Mir aus der Seele gesprochen. Es heißt allerdings neuhaussa Boko Haram, nicht Woko Haram, von Book = westliches Buch in Abgrenzung zum Koran, übertragen für westliche Bildung und Haram= tabu im Sinne von verfemt, gottlos, zu verdammen.

    BTW In meinen jungen Jahren formulierte eine Freundin mal den Satz, journalistisch mutig wäre es, Helmut Kohl im Interview zu fragen, ob er eigentlich stolz sei, der erste gesamtdeutsche Kanzler seit Hitler zu sein, und ein Foto von einem Massaker des türkischen Militärs wurde betitelt mit. „Die Türkei zivilisiert wieder einmal die Kurden“. Als bewusste Provokation gegen die politisch korrekte multikultilinke Szene sang auf einem Straßenfest ein schwarzer Rapper „Hier kommt der Zulu-Mann, der Zulu-Mann, der Zulu-Mann, der zwölfmal hinteteinander kann“. Noch B Tight singt „Wer hat das Gras weggeraucht? Wer ist ständig down mit mer als einer Braut? Der Neger, der Neger!“.

    Wir konnten ja vor gut 10 Jahren mit den woken Leuten erleben, wie heute auf so etwas reagiert wird.

  2. Ja, Woko Haram ist eine Umformuung von Boko Haram: eben von jenen Bewohnern aus Wokistan.

    Daß jemand wie Martenstein derart angegange wird, zeigt aber auch den geistigen Stand und den Horizont der gegenwärtigen Debatten. Im ganzen ein Trauerspiel.

  3. Ach so was wie der Pietcong;-)

    Ein Freund von mir meinte mal zu einigen verbiesterten PC-Linken, es müsse eine allgemeinverbindliche strenge Moral geben, nach der alle Linken sich zu richten hätten. Als die alle zustimmten ergänzte er: „Wie im Iran.“ und ist setzte hinzu: „Worüber gelacht werden darf entscheidet der Witzbollah.“

  4. Die Dummheit dieses Spektrums zeigt sich unter anderem auch daran, dass Martenstein mit Fleischhauer und Sarrazin in einen Topf geworfen wird.

  5. Und Martenstein ist dazu noch Nazi, AfD und und und. Es ist eigentlich nur noch lächerlich und traurig, wenn dieser Trend nicht so gefährlich wäre. Wobei ich bei Fleischhauer und Sarrazin ebenfalls noch einen Unterschied machen würde und leider liegt Fleischhauer in einer bestimmten Kritik an einer bestimmten Linken oftmals ziemlich richtig.

    Aber all das ist erst ein netter Anfang. Wir stehen in Zeiten eines erheblichen Umbruchs. Lustig wird noch die ganze Transsexuellen-Debatte werden.

  6. Zur ganzen Transsexuellen-Debatte meinte ein traditionell sehr linker Freund von mir (autonome Schlagstockfraktion): „Wieso sollte eine Minorität, die vielleicht 0, 1 Prozent ausmacht die Sprachnormen bestimmen?“

  7. Tja, das ist eine gute Frage. Aber an diesen wenigen hängen eben noch viele viele andere. Und es ist zudem ein gesellschaftlich irgendwie auch bequemer Aktivismus. Meinethalben kann sich im übrigen jeder, der 18 Jahre ist, im Personenstandsregister als das bezeichnen, was er will. Nur muß ich diese Bezeichnung nicht mitmachen, und es können Männer, die sich Frauenkleider anziehen und meinen, sie seien eine Frau, nicht per se beanspruchen zu Räumen Zugang zu haben, die für Frauen im biologischen Sinne bestimmt sind. Aber das sind Debatten, die noch sehr heftig werden. Und ich kann Frauen gut verstehen, die in bestimmten Räumen keine Männer haben wollen, die sich als Frauen ausgeben. Vom Sport mal ganz abgesehen, wenn dann beim Boxen Transmänner tatsächliche Frauen verdreschen.

  8. Jezze muss man mal festhalten, dass die einzige Kirche, der unsereins angehört, die, die im Dorf zu lassen ist, tatsächlich Schutz gegen diesen ganzen Unfuk bietet. In den Achtzigern waren Männer noch Männer, Frauen noch Frauen und die kleinen pelzigen Tierchen von Alpha Centauri noch die kleinen pelzigen Tierchen von Alpha Centauri.

  9. Unser Kampfsportkurs ist gemischtgeschlechtlich. Da sind aber Frauen dabei, besonders eine, mit denen würde ich mich in echt, also im ernsten Kampf nicht hauen wollen;-)

  10. @ziwo: Aber waren die kleinen pelzigen Tier von Alpha Centauri nun männlich oder weiblich? Ja es sind in der Tat seltsame Zeiten.

    @che Hängt sicherlich immer auch vom Training ab. Aber in der Tendenz ist bei Wettkämpfen eine Trennung schon eine gute Sache.

  11. Mannschaftssportarten und Kampfsport im Dojo, ohne Wettbewerbscharakter, oder aber Wewttbewerbssportarten wie Klettern, Segeln oder Segelfliegen sind da höchst unterschiedliche Dinge.

  12. Zweifellos, aber auch da gilt wohl: „Das größere Tempo im Männerfußball liege schlicht an der größeren Muskelmasse, die Männer ab der Pubertät aufbauen. Männer sind im Schnitt 15 bis 20 Prozent leistungsfähiger. Dieser Effekt sei umso stärker, je mehr es auf Kraft ankommt. So liege im Stabhochsprung der Unterschied etwa bei 26 Prozent, sagte Tritschoks.“

    https://www.welt.de/sport/article155716116/Australiens-Fussballfrauen-verlieren-gegen-U-15-Jungs.html

  13. Interessant finde ich, einmal gelesen zu haben, dass der Geschlechtsdimorphismus (nicht Muskelmasse, sondern Körpergröße) beim Menschen mit der sozialen Stellung von Mann und Frau korelliert. Demzufolge sei der Körpergrößenunterschied zwischen Afghanen und Afghaninnen oder männlichen und weiblichen Zulu größer als etwa zwischen Schweden und Schwedinnen.

  14. Müßte man allerdings prüfen, ob es eine Korrelation oder eine Kausalität ist. Die Frage wäre hier sicherlich auch die nach den genetischen Dispositionen. Für Deutschland scheint mir dieser Befund nicht repräsentativ. Für Schweiden auch nicht. Schweden/Männer: 1,80 Meter, Schweden/Frauen: 1,67 Meter, während in Pakistan nur 12 cm Unterschied bestehen. In Afghanistan: 1,68 zu 1,55.

    Allgemein scheint es aber im Westen so zu sein, daß die Menschen größer werden.

    https://www.laenderdaten.info/durchschnittliche-koerpergroessen.php

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