„Berliner Zeitung“ oder ein langer Brief zu einem kurzen Abschied von meinem lang währenden Abo

Im Jahr 1999 geriet ich nach Berlin, kannte die Stadt zuvor nur flüchtig: sie war erheblich im Umbruch, die letzten Zuckungen jener wilden Jahre nach der Wende waren noch zu beschauen, aber zugleich zeichnete sich ab, daß diese Stadt im Lauf der Zeit ein anderes Gesicht erhalten würde. Als ich nach Berlin zog, dachte ich lange, welche Tageszeitung zu lesen sei, um am Stadtgeschehen teilzunehmen und um zu wissen, was im Kiez und auch andernorts passiert: was geht am Theater, was in den Galerien und Museen? Gutes und kluges Feuilleton, das neben der Information auch Analyse bietet: Kunst samt Kritik. Es gab drei Zeitungen, die zur Auswahl standen: Die Berliner Morgenpost, der Tagesspiegel und die Berliner Zeitung. Ein Kollege, typischer Ostmensch, im guten Sinne, riet mir zur Berliner Zeitung, die sei die beste. Sicherlich auch ein Rat aus Ostpatriotismus heraus – nicht im Sinne von: die DDR war knorke, sondern: es gab dort Dinge, die zu bewahren und die weiterzubetreiben es sich lohnt. Und das stimmt allemal – nicht nur im Blick auf die Berliner Zeitung. So fiel am Ende meine Wahl auf jene alte und zugleich junge Zeitung. Obwohl altes DDR-Gewächs war sie inzwischen frisch und innovativ. Nice and fresh, wie man heute zu sagen pflegt. Gründlich überarbeitet und verbessert, Relauch wie man so schön sagt. Und der funktionierte.

Es gab eine Zeit und die währte lange, da habe ich die Berliner Zeitung gerne gelesen, freute mich morgens auf die Zeitung, die ich dann gegen Mittag bzw. am Abend mit Lust las. Das war schon so eine Art von Tradition und auch das handliche Format tat ein übriges dazu – Rheinisches Format, für jene, die den Begriff suchen. Aber vor allem waren es die Inhalte und die Art, wie Journalistinnen und Journalisten schrieben: eine gute, umfassende Berichterstattung über die Stadt, auch auf der Lokalebene. Und vor allem ein frisches, kluges, intelligentes, offenes und teils auch witziges Feuilleton. Es war eine Freude, die Zeitung zu lesen und es war vom Intellektuellen wie auch von den Informationen her bereichernd. Dagegen war die westliche Konkurrenz genau das, als was man sie spöttisch benannte: „Tante Tagesspiegel“: leicht saturiert, ganz nett, aber ein bißchen staubig auch. Und die „Morgenpost“ war eher eine Familienzeitung für den bürgerlichen Mittelstand – also auch nicht ganz meine Sache. Die Berliner Zeitung hingegen besaß etwas, das man mit dem Begriff „Geist“ zusammenfassen konnte. Sie traf einen Ton der Zeit, ohne sich am Zeitgeist anzubiedern. Mit ihr begleitete ich gerne jene wilden Zeiten, selbst dann noch als die Zeitungsbranche ab Mitte der 00er Jahre in eine heftige Krise geriet, als es krachte und die Zeitung an den Rendite-Raffke David Montgomery verscherbelt wurde. In dieser Zeit geschahen, zum Leidwesen der Redaktion, die ersten Einbrüche in der Qualität des Blattes. Aber es war am Ende auszuhalten – auch wenn die Zeitung leicht ausdünnte. Lediglich aus Protest gegen solche Einsparungen, aber nicht, weil ich mit der Redaktion unzufrieden war, kündigte ich 2008 mein Abonnement, um es aber nach einem Monat dann doch wieder aufzunehmen.

Und wie es so ist, erlebt ein Leser mit seiner Zeitung zusammen Höhen und Tiefen: Es gibt Artikel, da sagt man „genial, was für eine kluge und analytisch genaue Sichtweise“ – etwa wenn Dirk Pilz abwägend und gründlich über die Heidegger-Debatte und dessen Schwarze Hefte schrieb, und das ohne in die üblichen Dichotomien zu verfallen. Andererseits gibt es Texte da ärgere ich mich als Leser. Und genau so muß es auch sein. Da war der einstmals teils witzig-bissige Jens Balzer als Musikkritiker, leider geriet er immer mehr auf dem Weg nach Identitätspolitikshausen und die achtzehnte Beschreibung von Helene Fischers oder eines anderen ihm unliebsamen Popstars Bekleidung ist am Ende nur bedingt witzig und nudelt sich ab. Aber auch Balzer ließ sich verkraften – dafür gab es zur Freude Arno Widmann und Harald Jähner – und irgendwann ging dann auch Balzer – was freilich mit der Verschlechterung der Lage Mitte der 2010er Jahre zu tun hatte und weil die Redaktion in sogenannte Newsrooms umzog. Und leider ging eben auch Jähner; und Pilz, mit dem ich politisch in vielem nicht einer Meinung war, verstarb. Aber immer noch blieb ich der Zeitung treu. Zumal diese Zeitung unterschiedliche Sichtweisen unter einem Dach vereinen konnte. 2019 dann stieg das Unternehmerpaar Silke und Holger Friedrich in die Zeitung ein und übernahm. Sie kamen nicht vom Journalismus, aber dieser Umstand mußte nichts bedeuten, denn ein Verleger braucht nicht schreiben zu können, sondern er soll ein angeschlagenes Schiff steuern und auf guten Kurs bringen. Ich war nach der Misere der letzten Jahre zuversichtlich.

Doch leider fiel dieser Wechsel nicht so aus, wie ich es mir erhoffte: nicht die Stärkung des Lokalteils war Ziel, sondern er wurde geschwächt. Nach nunmehr bald 22 Jahren Abonnement dieses mir lieb gewordenen Blattes habe ich im Januar dieses Jahres mein Abonnement endgültig gekündigt und bin zum Tagesspiegel gewechselt. Und damit bin ich nicht unglücklich. Im Gegenteil: ich finde dort das, was ich inzwischen bei der Berliner Zeitung vermisse, und es ist auch keine Verlegenheitslösung, sondern die bessere Wahl. Warum der Wechsel?

Zum einen ist der Berlin-Teil derart ausgedünnt, daß es im Blick auf Lokales keinen Unterschied mehr macht, ob ich gar keine Zeitung lese oder ob ich die Berliner Zeitung lese. Kleines Beispiel: Mitte Januar gab es in Berlin mehrere Brände, die Feuerwehr war stark in Anspruch genommen. Einer der Brände fand genau in der Straße statt, wo ich wohne: eine schwerverletzte Person wurde aus dem Haus gebracht und auf dem Gehsteig behandelt. Die Sanitäter und der Notarzt machten eine halbe Stunde Herzdruckmassage, um sie dann mit Kanülen zu verkabeln. Leute lesen eine Lokal-Zeitung, weil sie das, was in ihrer Nähe geschieht, noch einmal und mit Hintergründen versehen lesen wollen: deswegen der Lokalteil. Warum brannte es? Was geschah? War die Feuerwehr am Rande ihrer Kapazität oder ging es gut? Die großen W-Fragen im Journalismus eben. Wo, wie, was, warum, wieviel, weshalb. Eigentlich etwas, das bereits der Volontär lernt und weiß. Wenn aber Lokalredaktionen kaputtgespart werden, um dann mit dem Geld eine Wochenendausgabe zu finanzieren, die eher einem Life-Style-Magazin für politisch Rechtschaffene gleicht, statt einer Zeitung für die ganze Stadt, dann brauche ich keine Lokalzeitung mehr. Und wenn die Themenpalette sich auf das beschränkt, was im inneren Berliner S-Bahn-Ring passiert, brauchen Bewohner, die dort nicht wohnen und die der identitätspolitische Zirkus in Kreuzberg-Friedrichshain und eine Buchhandlung wie She said oder irgendwelche Transidentitäten nur am Rande interessieren, sich diese Zeitung nicht mehr zu kaufen. Anders der Tagesspiegel, der ein breites Themenspektrum fährt – auch politisch.  

Zweitens halte ich jene sich leider vermehrt in der BLZ breitmachende Tendenz des Belehrjournalismus für verhängnisvoll – sozusagen die Nils-Minkmarisierung des Journalismus. Wenn Journalisten meinen, Haltungen verkaufen zu müssen und Erzieher ihres Volkes zu spielen, indem eine Redaktion bestimmte Themen (Gender-Transgender, Identitätspolitik, Rassismus als Dauerbrennerthema in schöner Lifestyle-Form aufgepimpt) nicht nur in einer Unwucht in die Zeitung bringt, sondern auch mit jenem Haltungsnotenton und dem wedelnden, erhobenen Zeigefinger versieht – Anfang Januar von Susanne Lenz der Hauptaufmacher des Feuilletons „Rassistisch oder zeitgemäß?“ und so zieht sich das von Lenz bis Hanno Hauenstein –, dann ist das zwar die Entscheidung der Zeitung. Und meine Entscheidung ist es dagegen, als Leser diese Art von Berichterstattung nicht zu goutieren. Nicht per se wegen dieser Themen, sondern wegen einer Debattenunwucht und einer Einseitigkeit in der Ausrichtung. Kaum vorstellbar, auch einmal einen Bericht zu lesen, weshalb es sinnvoll sein kann die englische Queen mit einer Weißen zu besetzen, weshalb es ein biologisches Geschlecht gibt und wir daran festhalten müssen, weshalb es sinnvoll ist, den Namen Mohrenstraße zu belassen. Vermutlich würden diese Texte eher noch von Götz Aly kommen. Im Falle der Mohrenstraße setzte dieser sich in der BLZ vehement für die Beibehaltung dieses Namens ein. Nur eben: Aly ist kein Journalist und nicht Mitglied der Redaktion, sondern externer Kolumnist – wie überhaupt, auch bei der ZEIT, interessante und kluge Perspektiven oftmals eher von Externen kommen und nicht von jenen in ihrem Sud brutzelnden Journalisten des täglichen Klein-klein. Aber vermutlich würde, wenn jemand, der fester Journalist ist und der solche Artikel schriebe, es bald mit einem Aufschrei auf Twitter zu tun bekommen, wie dies unlängst der Tagesspiegel-Autorin Fatina Keilani widerfuhr, die inzwischen dann auch nicht mehr beim Tagesspiegel arbeitet: „Sagste einen falschen Satz, kriegste einen vor den Latz“ hieß es mal in der antiautoritären Kindersendung Rappelkiste kritisch: ja, die Revolte frißt ihre Kinder. Und diesem neuen digitalen, identitären Mob – orchestriert teils von Leuten aus dem Medienmilieu – mögen sich immer weniger Journalisten aussetzen, schon gar nicht, wenn man keinen großen Namen hat, der einen schützt. Nur noch wenige, wie Jan Feddersen, Deniz Yücel oder der Kolumnist Aly, der gegenüber jeder Parteinahme für Kolonialismus unverdächtig ist, können es wagen, jemanden wie Kathleen Stock gegen einen transaggressiven Mob, der bis ins deutschuniversitäre Milieu vermeintlicher „kritischer“ Theorie reicht, zu verteidigen.

Nein, eine Zeitung soll nicht nur die Weltsicht des Lesers widerspiegeln, in diesem Falle eben meine, sondern ich möchte eine Zeitung lesen, die auf einem breiten Spektrum informiert und verschiedene Stimmen zu Wort kommen läßt. Und bei einer Tageszeitung, die für viele Leser dasein will, sollten viele Stimmen abgebildet werden. Und das kann auch bedeuten, daß jene Zeitung in einer Reportage oder einem Interview einen Querdenker, einen Neonazi, einen Linksextremisten, einen Veganer, einen Fleischliebhaber oder einen Transmenschen zu Wort kommen läßt.

In den Artikeln gehäuft eine bestimmte politische Tendenz zu bedienen und nicht zu berichten, sondern zu belehren, gehört zu den Gründen meiner Abo-Kündigung. Vom geschrumpften Lokalteil ganz zu schweigen. Daß eine Volontärin wie Maxi Beigang in ihren Texten in Dauerschleife eine Politagenda der trivialen Art fährt, stößt ebenfalls unangenehm auf. Man kann solche Art von Agendaschreibe vielleicht als Kinderjournalismus abtun: von jungen Menschen, die sich bei ihrer Peer-Group profilieren wollen. Doch das ist eben kein Journalismus mehr, sondern PR – und wer will als Journalist schon zu einer Margarete Stokowski herabsinken? Und das gilt auch – oder gerade – fürs Feuilleton. Solchen Haltungsjournalismus kann ich als Leser noch goutieren, wenn er Einzelfall ist. Das eben ist jene Vielfalt. Wenn aber diese Vielfalt zum Einheitsbrei und dann zur Einfalt wird, läuft bei einer Zeitung etwas falsch. Und wenn ich von der Schreibe und der politischen Haltung Autorinnen wie Antonia Groß und Maxi Beigang nicht mehr auseinanderhalten kann, dann sollte sich eine der beiden Damen überlegen, ob sie sich vielleicht einen anderen Markenkern zulege möchte. Man vermeidet solchen Brei, wenn man sich selbst einfach mal beim Schreiben zurücknimmt. Ich möchte nicht lesen, was 25jährige junge Frauen oder Männer so denken und was sie den Tag über bewegt. Ich kaufe keine Schülerzeitung, sondern eine Tageszeitung. Auch sehe ich nicht ganz ein, warum ich mich für das Tagebuch einer Jungjournalistin wie Beigang interessieren sollte – nicht einmal sofern dieser Text satirisch gemeint war. Dafür gibt es Blogs. Auch dies ist leider eine Tendenz, die ich verstärkt im Journalismus beobachte. Journalisten, die zunehmend um sich selbst kreisen und über sich, über ihre Kinder, über ihre Mütter, über ihren Tagesablauf berichten. Warum sollte das normale Leser interessieren?

Aber nicht einfach wegen solcher immer wieder ins Blatt gebrachter Themen ist diese Art von Journalismus verhängnisvoll – gerne kann man in guter Weise über Feminismus berichten oder über Rassismus, den es ja objektiv gibt –, sondern wenn ich als Leser bemerke, daß ich belehrt werden soll und mich eher in die Zeiten des Neuen Deutschlands der alten Art zurückgesetzt fühle, dann stellt sich Widerwille ein: ich will als Leser ernstgenommen werden und nicht das Objekt kinderpädagogischer Versuche sein. Wenn ich solche Tendenz verstärkt feststelle – das ist zumindest mein subjektiver Eindruck – dann ist es Zeit abzubrechen. Insbesondere wenn ich den Eindruck habe, daß sich eine Zeitung an eine bestimmte Zielgruppe und an einen bestimmten Zeitgeist andient.

Ich habe die Berliner Zeitung jahrelang geschätzt. Sie war Anfang der 2000er Jahre in meinen Augen die beste Tageszeitung, teils sogar der Bundesrepublik – zumindest in meinem kursorischen Sichtungsvergleich. Diese Zeit ist lange vorbei. Wenn ich bei einer Zeitung einen Großteil der Texte nur noch ärgerlich abbreche; wenn ich in einer Lokalzeitung keinen angemessenen Lokalteil mehr finde; wenn die Wochenendausgabe zu einem Hochglanzmagazin für Bobos wird, dann ist es Zeit, mit dem Lesen insgesamt und also auch mit dem Abonnement abzubrechen. Eine Tageszeitung lebt davon, daß der Leser sie morgens gerne liest. Sie lebt nicht davon, daß ich morgens beim Briefkasten jedesmal denke: „Gott, was erwartet mich jetzt wieder für ein Schmarrn?“ Daß ich eine Ausgabe gerne las, war leider bei der BLZ nur noch sehr bedingt der Fall. Mit dem Wechsel der Eigentümer hatte ich mir eine Qualitätssteigerung der gedruckten Zeitung versprochen. Die blieb jedoch weitgehend aus. Das ist schade, weil ich die BLZ lange Zeit gerne gelesen habe. Nun ist es vorbei und da führt kein Weg zurück.

54 Gedanken zu „„Berliner Zeitung“ oder ein langer Brief zu einem kurzen Abschied von meinem lang währenden Abo

  1. Danke. Mir gehts genauso mit der Lausitzer Rundschau. Gekündigt, weil ich es nicht mehr ausgehalten habe. Niveaulos und kindisch und so wie sie geschrieben haben, belehrend und einseitig. Alles Einheitsbrei.

  2. Ein Großteil der Probleme rührt bei den Lokalzeitungen sicherlich auch daher, daß die Anzeigenmärkte weggebrochen sind und nun das Geld fehlt. Und vermutlich sind manche Abonnenten auch ins Internet abgewandert, und so setzt dann die Abwärtsspirale leider ein.

  3. Muss gestehen, dass ich die Berliner Zeitung gar nicht kenne. Früher, in meiner glorreichen Göttinger Szene-Kader-WG, lasen wir die FR (die ich damals, in den Neunzigern, für die beste deutsche Tageszeitung hielt), die Junge Welt (noch vor Abspaltung der Jungle World), das Göttinger Tageblatt, konkret und Titanic. Späterhin habe ich die verschiedensten Blätter abonniert, ZEIT, Le Monde Diplomatique, FTD, Handelsblatt und inzwischen tsatsächlich Springers Welt am Sonntag, die ich mittlerweile für lesenswert halte.

  4. Die WELT hat sich deutlich verändert und gebessert, wenn man an die 1980er und 1990er Jahre denkt. Die Berliner Zeitung ist eine alte und traditionsreiche Zeitung der DDR und sie hat einen guten Wandel getan. Allerdings, wie es mit Lokalzeitungen so ist, wenn man nicht gerade ein Zeitungsforscher oder ein Zeitungsfreak ist: kaum einer liest die Zeitung aus anderen Städten. Ich käme nicht auf die Idee, den Trierer Volksfreund zu lesen, außer eben, wenn ich in Trier wohnte, wovor Gott mich schützen möge.

  5. Mir ging es ähnlioch mit dem Spiegel, den ich früher regelmäßig gelesen habe. Montag morgen auf dem Weg zur Arbeit bin ich am Kiosk vorbei und habe mir das neue Heft gekauft, und dann in der Bahn durchgeblättert. Es fand sich eigentlich immer etwas interessantes, ein Hintergrundbericht mir Informationen die andere Zeitungen nicht hatten, eine Reportage aus einem Land, von dem man sonst nichts hörte, ein Hinweis auf ein Buch oder eine CD, dem nahzugehen sich wirklich lohnte.

    Das ist bekanntlich vorbei, spätestens seit Ende der 90er Jahre ließ der Spiegel nach und verbreitet heute den gleichen links-grün-feministischen Einheitsbrei wie die allermeisten Medien. Du hast das ja gut beschrieben, die Journalisten sind sehr viel jünger als früher und haben einen recht begrenzten Horizont; wenn man sich den Lebenslauf anschaut, sind sie häufig direkt von der Uni ind die Redaktion gewechselt.

    Das gilt ja so auch für die ARD, und es ist sicher kein Wunder dass schon zwei Spiegel-Journalisten Sprecher der neuen Regierung geworden sind (Christian Hoffmann und Wolfgang Büchner). Überhaupt passt zwischen die Medien und die neue Regierung kein Blatt Papier.

    Ich frage mich schon länger wie das kommt? Früher konntest du die Frankfurter Rundschau kaufen und bekamst eine linke Perspektive geboten, von der FAZ den wirtschaftsfreundlichen Liberalismus und von Welt (und BILD) den Konservativen Standpunkt. Man hatte dann, wen man mehrere Zeitungen gelesen hatte, das Gefühl, gut informiert zu sein. Geht mir heute nicht mehr so.

  6. Der Spiegel war nie meins, schon wegen des damals mir zu wenig ausgeprägten Feuilletons. Ich habe die Zeit gelesen. Seit 1984 im Abo. Das Feuilleton dort hat sich erheblich verändert. Das liegt sicherlich auch daran, daß es den alten Großkritiker in dieser Form nicht mehr gibt und die Perspektiven pluraler geworden sind, was per se ja nicht schlecht ist. Ein Aspekt, daß im Journalismus einiges schlecht läuft, mag auch an der Finanzseite liegen. Es muß gespart werden, es wird zu wenig Geld erwirtschaftet, der Anzeigenmarkt ist eingebrochen. Auflagen teils auch. Hinzu kommt, daß der Markt mit Journalisten verstopft ist: irgendwas mit Medien, wie die geflügelte Redensart lautet.Was die Erfahrung von Journalisten betrifft, würde ich Dir zustimmen, das sehe ich ähnlich. Und viellfach ist es auch Helikopterjournalismus. Die Leute sind zu wenig vor Ort. Ist zumindest mein Eindruck, wenn ich manche Texte lese. All das Ist aber auch nur eine Vermutung, weil ich hier zu wenig in der Materie stecke. Über diese Dinge und woher diese Veränderunge kommen, müßte man mal genauer nachdenken. Bei der BLZ hat es sicherlich auch mit einem bestimmten Zeitgeist zu tun. Wäre eine weitere Analyse wert.

  7. @Bersarin: In Trier zu leben, kann unter Umständen ganz erträglich sein. Aber den Trierischen Volksfreund zu lesen–ja, davor möge Dich Gott wahrlich schützen.

  8. Stimmt, Trier ist eine schöne Stadt. Ich lebte dort einen Monat. Es gibt Wein. Marx wurde da geboren. Der Weg nach Luxemburg ist nicht weit. Dort gab es damals günstige Lucky Strikes. Damals 1986.

  9. Frauenlob (jetzte nicht von Schiller und der Parodie der Schlegels darauf): Für jene, die meinen, ich hätte zu sehr die Frauen bei der BLZ kritisiert: Ich schätzte die Artikel von Anke Westphal, Regine Sylvester, Annika Leister, Sabine Vogel und Carmen Böker. Und ich schätze die Kunstkritiken von Ingeborg Ruthe und mochte die meisten der Kolumnen von Barbara Weitzel. Auch Ute Cohens Kolumne habe ich sehr geschätzt. Es ist also nicht so, wie dann gerne insinuiert wird, wenn ein Mann in der Kritik Frauennamen nennt, daß es hier um Kritik an Frauen geht, sondern es ist Kritik an der Sache und an einem bestimmten Ton in der Schreibe. Und da ist leider in jenem identitätspolitisch-linken Milieu beim Schreiben von Texten eniges im argen. Es ist also keine Sache des Geschlechts, sondern des Textes und der Art von Journalismus.

  10. Ich würde hier gar nicht von einem inhaltlichen Mainstream sprechen (von einem formalen schon), sondern von dem Prinzip Information als Ware, das dann schlampige Arbeitsweise und dann und wann einen Relotius hervorbringt. Und klar, das Einzelmedium ist austauschbar. Habe ich schon Ende der 90er mitgekriegt bei einem Kollegen, der vom Spiegel zur Bild ging. Früher undenkbar.

  11. Das sind auf alle Fälle bemerkenswerte Aspekte und leider bei manchem Journalisten auch, daß er nicht mehr berichten will und neugierig ist, sondern daß er ganz explizit einer Agenda nachgeht und Volkserzieher sowie Belehrer sein will. Der von mir kritisierte Haltungsjournalismus. Das geht dann nicht gut, wenn sich sowas häuft. Das Meyer-Buch scheint mir interessant – wobei diese Sache, daß Journalisten auch Politikgestalter sein wollen, nichts Neues ist. Das war auch in den 1960er, 1970er Jahren, davor und dannach so. Der Beruf Journalist war angesehen. Heute ist Journalist leider bei manchen Leuten ein Schimpfwort geworden.

  12. Beim regionalen Tageszeitungsjournalismus am Ausgeprägtesten, aber auch sonst erlebe ich zu Wirtschaftsthemen ja eine spezifische Ambivalenz, die zwischen Korruption, Klientelismus und Populismus fluktuiert. Die Automobilbranche etwa wird, wenn es nicht gerade um den Abgasskandal geht, weitaus positiver behandelt als andere Branchen, wie etwa Bau oder Finanzen. Die Braunschweiger Zeitung zum Beispiel brachte wochenlang seitenfüllende Beiträge, die nichts Anderes waren als kostenlose PR für VW. Das Thema „Mobbing in der Autostadt“, wo es um den Vorwurf ging, dass die Beschäftigungsgesellschaft der Volkswagengruppe gezielt eingestellte bisherige Langzeitarbeitslose wieder hinausmobbt, um neue Leute einzustellen und für diese von der Bundesagentur Vermittlungsprovisionen zu kassieren konnte überhaupt nicht thematisiert werden, auch nicht, als ein Vertrauensmann sich deswegen erschossen hat.

    Die Beschwerde von Häuslebauern über Pfusch am Bau eines Baukonzerns wurde groß herausgebracht, dabei hatte das Unternehmen nicht gepfuscht. Die Bauherren hatten „mit Eigenleistungen“ gebaut, d.h. das Unternehmen hatte nur den Rohbau ausgeführt, den Rest hatten Schwarzarbeiter gemacht, und diese hatten Scheiße gebaut. Nun wollten die Bauherren über Anprangerung der Firma in der Presse diese zu Schadenersatz oder Preisnachlass wegen Minderleistungen nötigen. Stellungnahmen der Firma wurden nicht veröffentlicht. Als ich den verantwortlichen Redakteur darauf ansprach sagte dieser, die Zetung stünde immer auf der Seite der kleinen Bauherren, niemals auf der des Baukonzerns, und nebenbei fragte er mich, ob ich denn Schwarzarbeiter kennen würde, die für ihn etwas machen könnten. Hier konnte also nicht mehr von Bürgernähe gesprochen werden sondern eher von Bürgerkumpanei bis zur Deckung von Straftaten.

    Der Baukonzern reagierte dann dergestalt darauf, dass man eine Podiumsdiskussion mit großer Pressepräsenz veranstaltete mit der Bundeagentur für Arbeit, dem Finanzamt, der Steuerfahndung, dem Zoll, der Architektenkammer und der Staatsanwaltschaft zum Thema Schwarzarbeit am Bau und Bauherrenbetrug..

    Noch inkompetenter ist die Berichterstattung zu Themen, die etwas mit Versicherungen und Anlagegesellschaften zu tun haben, die generell als undurchsichtig und verbraucherfeindlich, ja tendenziell kriminell dargestellt werden (ich will nicht bestreiten, dass es in diesem Bereich sehr viel kriminelles Handeln gibt, von Cum-Ex-Geschäften bis zu betrügerischem Handeln einzelner Anlageberater, deswegen stimmt der generalisierende Blick auf eine ganze Branche aber nicht).

    Zwei Beispiele hierzu: In ZDF Wiso gab es mal ein Feature „Die Tricks der Versicherungen“, in dem mit sehr viel dramatisch-moralischem Tremolo behauptet wurde, dass man Investigativrecherchen betrieben und sich mit Brancheninsidern getroffen habe, um die Tricks der Versicherungen offenzulegen, und dann ging es nur darum, dass Versicherungen nicht für Schäden leisten, die nicht im Kleingedruckten aufgelistet sind und dass bei Betriebsunterbrechungsversicherungen im Seuchenfall nur geleistet wird, wenn ein Betrieb wegen enes im Unternehmen festgestellten Ausbruchs geschlossen werden muss, nicht bei einem vom Staat verfügten flächendeckenden Lockdown. Der Beitrag hätte besser „Die geistige Trägheit der Versicherten“ betitelt werden müssen.

    Vor geraumer Zeit erschien in der Welt am Sonntag ein mit „Kann das weg?“ betitelter Beitrag über benötigte und unnötige Versicherungen und Geldanlagen, der vor Unwissenheit nur so strotzte. Da war dann davon die Rede, dass Unfallversicherungen sich nur für Extremsportler lohnten, da das Risiko sonst durch eine Berufsunfähigkeitsversicherung schon abgedeckt sei. Kein Wort davon, dass es spezielle Unfallversicherungen für Senioren gibt, die Pflegerisiken für Menschen absichern, die keine private Pflegeversicherung bedzahlen können oder dass solche Versicherungen den behindertengerechten Umbau von Fahrzeug und Wohnung oder das Rückholen aus dem Ausland in der fliegenden Intensivstation bezahlen. Vom Unterschied zwischen ETFs und abgesicherten Fondsanlagen war der Autorin auch nichts bekannt – und sie wollte davon auch nichts wissen.

  13. Da muß man immer sehr ins Detail schauen. Es gibt Berichte, die leider völlig daneben lieben, weil nicht umfassend recherchiert wird, weil zu schnell recherchiert wird. Oder es werden einzelen Unstimmigkeiten derart vergrößert, als wäre es das Ganze.

  14. Zitat aus einem Deiner Kommentare:

    „Es ist also nicht so, wie dann gerne insinuiert wird, wenn ein Mann in der Kritik Frauennamen nennt, daß es hier um Kritik an Frauen geht, sondern es ist Kritik an der Sache und an einem bestimmten Ton in der Schreibe. Und da ist leider in jenem identitätspolitisch-linken Milieu beim Schreiben von Texten eniges im argen. Es ist also keine Sache des Geschlechts, sondern des Textes und der Art von Journalismus.“

    Und dass dieser Disclaimer (der sich für jede un d jeden, die und der „Logik 1“ nicht geschwänzt hat, von selbst versteht) nötig ist, ist bereits wesentlich Teil des Problems.

  15. Danke für diesen Kommentar! Und: auf den Punkt gebracht, Hartmut! Diese Art des Antifeminismus- oder Rassismus-Erschnüffelns, in jedem Text, unabhängig von seinen Inhalten, in einer Hermeneutik des Verdachts irgendein verdecktes Motiv zu wittern, ist genau Teil des Problems. Vor allem, wo es in diesem Text um EINE ZEITUNG und nicht um das Geschlecht von Redakteuren geht, die für eine Zeitung schreiben. Ich las heute einen Artikel über Uri Geller, wir erinnern uns, der Gabelverbieger. Heute würden vermutlich Geller-Fans aus dem Lager der Linksidentitären einem Menschen, der einwendet, daß es Gabelverbiegen mit der Kraft des Willens nicht gibt, Dir erklären, daß solche Kritik antisemitisch sei. Ob es die Transgeschichte ist oder aber Rassismuskritik: einmal wieder schlägt Aufklärung in Mythologie um.

  16. Wir waren da in sofern eine Avantgarde, als wir das vor gut 10 Jahren mit einem hyperpolitischkorrektidentitären Blogger bereits bis zum Exzess durchspielen konnten.

  17. Indeed! Wobei sich damals noch so etwas wie ein Ansatz von Vernunft zutrug, wenngleich die Tendenz schon absehbar war, wohin diese Reise gehen wird. Traurig eigentlich, daß jene Leute, die für Offenheit plädierten, allmählich ihren offenen Blick und die Fähigkeit zu einer differenzierten Analyse verloren haben.

  18. Ahoi Che, also mir war der woke Wahnwitz, den es vor dreißig Jahren auch schon gab, er hieß nur anders, immer ein Gräuel.

    Das eigentliche Problem ist doch dieses:

    Sind Rassisten eigentlich Arschlöcher?

    Sicher.

    Problematisch wirds, wenn ich allein – selbstermächtigt – zu bestimmen zu haben glaube, wer so alles Rassist bzw „Rassist“ ist…und den Rassismusbegriff dabei unendlich ausdehne. Am Ende sind dann auch Iljoma Mangold und Hasnain Kazim (dessen Haut zu hell ist, so hat es das woke Rasseamt bekanntlich festgestellt) „Rassisten“. Am Ende sind dann auch die „Rassisten“, die Martin Luther King, Rosa Parks und James Baldwin korrekt zitieren. Am Ende des woken Wahnwitzes ist Kathleen Stock dann eine „Ädolf Hittlärr“. Sie hatte a) festgestellt, dass es biologisch genau zwei Keimzellen und also Geschlechter gibt – was stimmt, wer etwas anderes behauptet, will eine Lyssenko-Biologie, will fake-news etablieren – und hatte b) die nicht unplausible These vertreten, dass das biologische Geschlecht auch in feministischen Zusammenhängen relevant ist. Für diese Verbreitung letztlich trivial wahrer/im hohen Maße plausibler Thesen ist man eine „Adolf Hitler“, die weg gemobbt werden darf. Irre. Vollkommen irre.

  19. Ich hingegen kann mich daran erinnern, dass noch in den 90ern die Mehrheit der Feministinnen nicht poststrukturalistisch orientiert war, zwischen sex und gender im Sinne von biologischem und sozialem Geschlecht unterschieden wurde und sehr viele feministisch orientierte Frauen einen latenten Biologismus vertraten- am biologischen Geschlecht festgemachte Frauensolidarität und auch Vorstellungen, dass Frauen aufgrund ihres auf Mutterschaft abgestellten Hormonspiegels die sozialeren Menschen seien.

  20. Lars: Die zu Recht von Dir beobachtete Verdachtshermeneutik – man könnte auch von unwohlwollender Interpretation sprechen – kommt ja in dem zum Ausdruck, was vordergründig so empathisch, so menschlich, so richtig klingt…und bei Lichte gesehen in Teufels Küche führt: In der These, die Unterdrückten hätten alleine zu bestimmen, was als Unterdrückung zu gelten hat. Dass ich mich schnell von der Schwarzen abwandte, ist meine rassistische Mikrogewalt. Dass ich in Wahrheit wg Bandscheibenvorfall einen stechenden Schmerz spürte uswusf, wir alle kennen das. (Natürlich hat sich dann niemand bei mir für den falschen Rassismusverdacht zu entschuldigen – die Schuld liegt, na klar, bei mir, ich war so unsensibel, nicht zu sehen, dass mein Zusammenzucken uswusf) Das ist jetzt eine erfundene Geschichte, aber genau so geht deren verquaste Logik. as Schlimme ist: Nicht einmal Fake-Opfer, nicht einmal Wilkomirski, Defonseca, nicht einmal diese weiße Dozentin da mit einer erfakten Opferbiographie führt bei den Woken dazu, sich zu fragen, ob am Konzept vielleicht etwas nicht stimmt.

  21. Wobei man ja verschiedene Perspektiven durchaus zusammennehmen kann. Das Problem ist die Verabsolutierung. Im Sinne eines Differenzfeminismus ist es so, daß nun einmal biologisch genommen nur Frauen Kinder bekommen – und daß von dieser Perspektive her auch gedacht werden kann, wenn sich das nicht absolut setzt: eine Frau kann, aber sie muß keine Kinder bekommen, zumal in postmaterialistischen Gesellschaften. Von den Untersuchungen der Psychologie erwiesen ist ebenfalls, daß zwischen Mutter und Kind eine besondere Bindung besteht und daß diese Bindung prägend ist und nur bedingt vom Vater ersetzt werden kann. Und was Gewalt gegen Frauen betrifft, so ist die politische Forderung mehr als verständlich, daß Frauen in bestimmten Räumen unter sich sein möchten. Und da die biologische Bestimmung, was da zwischen den Beinen sich befindet, eine relativ zuverlässige ist, ist das biologische Geschlecht hier ein sinnvolles Kriterium, um zu differenzieren, solange in einer Gesellschaft darüber hinreichend Konsens besteht.

    Das Problem liegt darin, wenn aus solchen Fragen eine Dogma gefahren wird. Und in der Frage der Transmenschen muß man schauen, was daran gesellschaftliche Mode, was psychologische Krankheit, was ggf. weggepreßte Homosexualität ist und was tatsächlich mit einem solchen Bewußtsein zu tun hat. Als was sich jemand selbst bezeichnet, ist jedermanns eigene Angelegenheit. Gesellschaftlich relevant wird es aber dann, wenn es ins Soziale geht und Fragen der Gemeinschaft betriftft, etwa bei olypischen Spielen, wenn beim Boxen plötzlich Frauen, die Männer sind, andere Frauen verdreschen. (Es hat ja Gründe, daß man die Wettkämpfe nach realen Geschlechtern trennt und nicht danach.) Leider ist es so, daß wer heute solche Überlegungen ausspricht, in den Bann von Cancel Culture gerät, und zwar in dem Sinne, daß da Transphobie und angebliche Haßrede hineingelabelt wird. Jene Leute, die eigentlich auf ein wohlwollendes Entgegenkommen der Mehrheitsgesellschaft angewiesen sind, produzieren mit solchem Verhalten genau das Gegenteil von dem, was sie erreichen wollen

  22. Also ich bin ein mal bei Twitter eine Woche gesperrt worden, weil ich geschrieben habe „Ein Mann der meint, er sei eine Frau im falschen Körper, hat kein körperliches sondern ein psychsiches Problem.“

    Ich bin ja im Grunde auch der Meinung, dass jeder so leben soll wie er gerne möchte, aber wenn man dazu übergeht, jeden etwas feminineren Jungen, der lieber zu Hause beibt und zeichnet als mit anderen Jungs draußen zu raufen und jedes etwas maskuline Mädchen, dass lieber auf Bäume klettert als mit Puppen zu spielen als einen potentiellen Transsexuellen zu betrachten und entsprechende Therapien einzuleiten (einschl. Gabe von Hormonen um die Pubertät zu unterdrücken oder gar Operationen), finde ich das schon bedenklich.

    Es zeigt sich da auch eine eher rückschrittliche Auffassung von Geschlechtern, finde ich.

  23. Was mich einfach nervt sind die unverschämten Unterstellungen. ich meine, für wen hält man mich denn! Selbstverständlich verurteile ich jede Gewalt gegen Menschen, somit per schlichter Mengeninklusion (Transmenschen sind eine echte Teilmenge der Menge der Menschen) auch Gewalt gegen Transmenschen. Selbstverständlich will ich, dass erforderliche Transitionen von der Solidargemeinschaft finanziert werden. Wogegen ich bin: bei labilen 14jährigen gleich mal den Hormonhammer rauszuholen und kritische Nachfragen zur Selbstbeschreibung diese/r/s labilen 14jährigen gesetzlich (!) zu verbieten. ich sage nur Keira Bell!

    Interessant übrigens: Aggressiv sind hier überwiegend jene Transgender, die von Mann zu Frau transitionieren wollen. Nachtigall…

  24. nebenbei: es geht hier ja auch um Philosophie, um die Debatte zwischen psoistrukturalistischen Ansätzen und einem (meinethalben: „neuen“, was ich aber bestreite) realismus (Realismus = hier als Fachterinus der Philosophie zu lesen). Stock ist Realistin(fachphilosophisch). Das wird zu wenig gesehen bei der Debatte.

    Dazu eine Analogie:

    Kann ich mir Lederhosen anziehen, Schuhplatteln lernen, boarisch lernen auf der VHS?

    Ja, kann ich.

    Eines kann ich nicht: Machen, dass ich ein Geburtsbayer bin. Bin ich nämlich nicht. Deal with it, Hartmut!

    Und um genau diese Unfähigkeit zum „Deal with it“ geht es hier eben auch… Wer in einem mänlichen Körper sich als Frau fühlt, so stark, dass er/sie lebenslang Hormone nehmen muss, maximal invasive Eingriffe in den Körper hinnehmen muss, um eine Frau zu sein, ist nun mal nicht in demselben Sinn eine Frau, wie eine Frau, die als Mädchen geboren wurde, als Mädchen sozialisiert wurde. Und warum werden Mädchen – begrüßenswerter Weise Dank de Beauvoir inzwischen ohne konservatives Role-Modell! – als Mädchen wahrgenommen, als Mädchen sozialisiert?

    Weil wir als Menschen nun einmal auch eine humanbiologische Dimension haben. Weil unser Leben und unsere Kultur nun mal auch mit Körperlichkeit zu tun hat. Deal with it!

  25. @ El Mocho: Über den Satz kann man sich ja streiten, vor allem in diesem allgemeinen Sinne, aber solche Äußerung rechtfertigt kaum eine Sperrung.

    Problematisch wird es in der Tat, wenn diese Dinge instrumentalisiert werden und wenn aus einem Leidensdruck bei einem Jugendlichen eine ideologische Schlacht wird, anstatt daß man schaut, was tatsächlich dahinter steht: ist es eine Modediagnose, die der Jugendliche sich selber stellt, oder ist es in der Tat ein Problem, das in diese Richtung geht? Das muß ernsthaft und offen geprüft werden und da nützt es dann auch nichts, wenn Betroffene sich für die Fragebögen beim Jugendtherapeuten Fragebögen aus dem Internet herunterladen, um zu wissen, wie sie antworten müssen, um als Transsexuell eingestuft zu werden.

    Zu diesen Dingen auch ein interessantes Gespräch in der ZEIT. „Es gibt immer mehr transsexuelle Jugendliche. Wie soll man mit dem Wunsch, das Geschlecht zu wechseln, umgehen? Ein Streitgespräch“ Unter anderem mit Alexander Korte – leitender Oberarzt an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der LMU München und Sexualmediziner. Darin heißt es:

    ZEIT: Welche Rolle spielt das Internet?

    Korte: Eine entscheidende. Es gibt heute eine Vielzahl von Bloggern, YouTubern und Foren, die das Thema „trans“ behandeln. Immer wieder berichten uns Jugendliche im Erstgespräch, sie hätten die Geschichte dieses Jungen oder jenes Mädchens bei YouTube gesehen und dabei sei ihnen plötzlich bewusst geworden: Das bin doch ich.
    […]

    Korte: Die Frage ist: Was ist eine Geschlechtsdysphorie überhaupt? Wann liegt eine wirkliche Transsexualität vor? Herr Amelung hat geschildert, dass er von Kindheit an gemerkt hat, dass irgendetwas anders ist. Das sagen rückwirkend tatsächlich fast alle transsexuellen Menschen. Nur gibt es ein Problem: Schwule und Lesben berichten das ebenso. Wir müssen deshalb aufpassen, dass wir mit unseren Behandlungen nicht Homosexualität verhindern zugunsten einer vermeintlichen Transsexualität.
    Amelung: Auch ich beobachte eine bedenkliche Aufweichung des Begriffs „trans“ sowie eine Inflation der sexuellen Identitäten. Sie kennen die Debatte über die vielen neuen Geschlechtsbeschreibungen – non-binary, queer, pan-gender – etwa bei Facebook. Das sind mehrere Dutzend.
    ZEIT: Warum soll das ein Problem sein?
    Amelung: Jeder kann sich bezeichnen, wie er mag. Gefährlich wird es, wenn es um medizinische Eingriffe geht. Es gibt Menschen, die nicht unter einer Geschlechtsdysphorie leiden, ihr Geschlecht aber dennoch wechseln möchten, samt Hormonbehandlung und Operation. Das ist für mich keine solide Grundlage. Mit der Meinung bin ich in der Transcommunity aber ein Außenseiter. Hier herrscht die Meinung vor, dass, wer sich als trans definiert, dies auch ist und nicht hinterfragt werden soll. […]
    Korte: Die Jugendlichen, die in unsere Sprechstunde kommen, sind sich immer zu hundert Prozent sicher. Viele präsentieren sich schon im Erstgespräch mit einer lupenreinen transsexuellen Vita. Wie man so etwas darstellt, kann man im Internet lesen. Deshalb kann das nicht der Maßstab meiner Entscheidung sein. Zumal wir ja wissen, dass sich der Großteil der Geschlechtsdysphorien bei Minderjährigen später wieder auflöst.
    Korte: Und ich sagen Ihnen voraus: In wenigen Jahren wird es eine Welle von Erwachsenen geben, die der Medizin vorwerfen, wir hätten sie als Jugendliche leichtfertig behandelt und ihre Körper zerstört. Im Ausland gibt es bereits erste Klagen. Einer der wichtigsten ärztlichen Grundsätze lautet: Zuerst nicht schaden. Daran halte ich mich. […]
    Korte: Es ist noch schlimmer. Mittlerweile mischen Ärzte und Therapeuten auf dem Feld mit, die von der Sache wenig Ahnung haben oder aber voreingenommen sind. Mir haben Eltern berichtet, ihr Kind sei nach einem halbstündigen Gespräch strahlend mit der Diagnose „Transidentität“ aus einer psychologischen Praxis oder Beratungsstelle gekommen samt Adresse eines Arztes, der dann die entsprechenden Hormone verschrieben hat. Das darf nicht sein.“

    Solche Ideologisierungen und politischen Instrumentalisierungen für eine scheinbar gerechte Sache sind unheilvoll – vor allem für die Betroffenen.

    https://www.zeit.de/2020/22/transsexualitaet-lgtbq-geschlechtswechsel-gender

  26. @Hartmut: Ich fürchte nur, Du wirst diese Leute mit diesen Dingen nicht erreichen. Nicht einmal mit dem Beispiel, daß die kugelförmige Gestalt der Erde ja auch keine kulturelle Annahme ist.

  27. Nein, die woken Aktivistininininen (habe ich genug „ins“ gehickst oder war das hatespeach?) erreiche ich natürlich nicht – aber die, die noch nachdenken, die den logischen Aberwitz des Konzepts sehen. Inzwischen sind wir soweit: wenn ein Mann eine Frau vergewaltigt hat, hat keineswegs immer ein Mann eine Frau vergewaltigt, sondern – alles andere wäre ja „hatespeach“ – im Zweifelsfall hat eine Frau(gender) ein „Wesen das menstruiert“ vergewaltigt! So irre ist es schon. Eine Orwell-Welt. Neudenk. Diese Leute arbeiten übrigens ganz ernsthaft daran, dass meine Sätze oder auch die von Stock demnächst als Vergehen zu werten sind und ich hier dann Strafbefehle fällig werden. Ansonsten bleibe ich bei meinem 35 Jahre alten Bekenntnis: Altdenk unbauchfühl Engsoz, und das ist gut so.

    Die 17, 18, 19, 20jährigen Woken, die sich diesem Movement in bestem Glauben, etwas Gutes zu tun, hingegeben haben tun mir leid. Die Woken sind am Ende. Kazim, Mangold, feddersen (kluges, stoffreiches Buch!), Yücel…und vor allem jetzt der Fall Stock, der doch so manche zum nachdenken brachte… Ihr jetziges aggressives um sich schlagen ist als verzweifeltes Rückzugsgefecht zu werten.

    Den mittelalten akademischen Mittelbau, der auf wokem Ticket Karriere gemacht hat und der es demnächst – read it from my lips! – gar nicht wird gewesen sein wollen muss man hingegen abgrundtief verachten. Typen wie X und Y (Namen sind Schall und Rauch), die noch neulich allen Ernstes Kant quasi verbieten, zumindest Denkmäler/Ehrungen schleifen wollten in ihrer kenntnis- und logikbefreiten Dummheit…

    PS: wann wird eigentlich das Hannah-Arendt-Institut umbenannt?

  28. Mal zurück zur biologistisch-feministischen Gegendummheit: Das war das, was ich als Standardfeminismus kennenlernte, noch in viel krasseren Varianten mit Hexenkult und Mondmystik („Meine Schwester Mond“). Die Butler-Foucault-Richtung habe ich via Frauen wie Netbitch als zertrümmernde Dekonstruktion dieses alten Feminismus kennengelernt, die sich ursprünglich auch gegen den extremen Moralismus dieser Richtung gewandt hatte.

    Dazu gehörte auch eine Sexismusdebatte, in der Sexismus überhaupt nicht mehr als gesellschaftliche Struktur, sondern nur noch in Form sexualisierter Gewalt wahrgenommen wurde. Und eine Wahrnehmung von Heterosexualität quasi um die Vergewaltigung herum gebaut. Wie die Ästhetik&Kommunikation-Autorin Maria Wieden es mal formulierte: Schwänze tun Frauen was Böses. Zentrum des feministischen Frauenbildes ist die Maria Immaculata.

    Heutzutage erlebe ich in meinem Umfeld so etwas wie eine sehr schöne, aber höchst amazonenhafte, muskelbepackte Sportskameradin mit dem Spruch: „Männer, die beim Bodypump kleinere Hanteln nehmen als ich kann ich nicht ernstnehmen, das sind für mich keine Männer, sondern Mäuschen“, die dafür „Du bist ja auch voll das Tier“ erntet.

    Zumindest fühle ich mich in solcher Umgebung wohler als bei Moralschranzen.

  29. Wir meinen das gleiche, lieber Che. Die hatten übrigens durchaus eine offene Flöanke nach rechts (DruidINNEN, Lebenseiche, die intuitiv-magische Weiblichkeit gegen die brutal-rationale Männlichkeit etc)

    zu Butler: Niemand bestreitet ihre Verdienste. Es ist ja richtig, auch Körperlichkeit zu dekonstruieren (Riefenstahls gesunder faschistischer Männerkörper). Gar keine Frage: Foucault und die Folgen war gut gegen jenen öden Übernoralismus.

    Die Postmoderne/der cultural turn/younameit hatte ja etwas befreiendes, no doubts. Und hat weiterhin seine Verdienste.

    Zwei Probleme (u.a.):

    a) SOKAL. Ich fand nie, SOKAL habe die Postmoderne „widerlegt“…aber SOKAL hatte Fragen an die PM, und diese hat sich diesen Fragen recht aggressiv und von oben herab entzogen. Es wäre gut gewesen, wenn sich die PMs mal gefragt hätten, was SOKAL bedeutet. Haben sie nicht, leider.

    b) die Übernahme poststrukturalistischer Versatzstücke durch die woke Linke, die längst zur Re-Verdinglichung übergegangen ist. Wokeness = Postmoderne im Zustand ihrer Verhunzung.

  30. Zu Butler: Man kann Frauen- und Männerbilder als soziale Muster werten. Es ist keine Naturgegebenheit, daß Frauen den Tisch decken und kochen. Aber es ist eine Naturgegebenheit, daß Frauen Kinder bekommen und Männer nicht. Und die Symbiose zwischen Kind und Mutter bedeutet zudem eine besondere Bindung und hat auch für die heute sogenannte Sorgearbeit immer noch Folgen. Was eben nicht ausschließt, daß auch ein ganzes Dorf ein Kind erziehen kann, wie es in jener Redensart so schön und wohl auch richtig heißt.

    Solche Sätze von Butler sind jedoch hochgradig problematisch und besitzen einen hohen Quatschlevel: „Der Ausruf der Hebamme ‘Ein Mädchen!‘ ist demnach nicht nur als konstative Feststellung zu verstehen, sondern auch als direktiver Sprechakt: ‘Werde ein Mädchen!‘ Die Performativität der Geschlechter resultiert also aus dem Zusammenspiel von politischen performatives und theatralen performances.“ Jemand, der als Mädchen oder als Junge geboren wird – viele Möglichkeiten gibt es da nicht – ist ein Mädchen oder ein Junge. Und das ist keine Sache des Sprechaktes, das biologische Geschlecht zu bestimmten. Und in welcher Weise sich der Junge und das Mädchen entwickeln, hängt von vieln Faktoren ab – unter anderem übrigens auch von genetischen.

    DIE Postmoderne ist nochmal eine Sache für sich. Man sollte da unterscheiden zwischen Rezeptionsartefakten und schlecht angelesenen Texten (auf beiden Seiten übrigens: sowohl bei Derrida-Foucault-Jüngern wie auch bei deren Verächtern, Stichwort René Scheu etwa damals in der NZZ) und auf der anderen Seite eben die Texte selbst, die in hoch voraussetzungsreich sind und eigentlich zunächst einmal eine erhebliche Vorlektüre verfordern. Wer vorher Hume, Kant, Hegel, Nietzsche, Heidegger, Husserl, Freud nicht gelesen hat – um nur die wesentlichen Namen der letzten 250 Jahre zu nennen -, braucht eigentlich mit Deleuze und Derrida gar nicht anzufangen.

  31. naja, Lars, man kann Butlers Sätzen schon einen Sinn ohne Quatschfaktor beilegen (es werde das Mädchen von vorneherein ALS FRAU festgeschrieben, auch körperlich: wird Regelblutungen haben, soll also Kinder kriegen etc) Es gibt aber in der Tat Überbutlerianer/innen, die dann ernsthaft glauben – kein Witz! -, Frauen seien allein deswegen im Durchschnitt um ca den faktor 1/3 körperlich schwächer als Männer, weil ihnen diese körperliche Schwäche qua Sprechakt eingeschrieben worden sei…bloß ein paar Sprechakte, und schwups, schon wachsen die Mukkies (ich übertreibe leider kaum!)

    Hier findet sich das in Reinkultur, was die woke Linke überhaupt von einer vernünftigen Linken trennt: (Fast) Alles, was die Woken sagen, ist irgendwie nie so ganz falsch (klar gibt es Rassismus, und es gibt übrigens auch Mikrogewalt, no doubts), kann vernünftig gelesen werden, aber alles wird eben so hemmungslos verdinglicht, vereindeutigt, dass am Ende einfach nur Quatsch rauskommt. Neusprech inklusive. Aus „Dieser Mann hat diese Frau vergewaltigt“ wird dann eben „Diese Frau(gender) hat dieses Wesen-das-menstruiert vergewaltigt“. Komplett balla-balla.

  32. @“braucht eigentlich mit Deleuze und Derrida gar nicht anzufangen.“ —– In der Tat steht im Vorwort von Baudrillards „Der symbolische Tausch und der Tod“, um dieses Buch lesen zu können sollte man sich mit Bataille und Saussure so auseinandergesetzt haben dass man diese Autoren voraussetzen könne. Ich habe in dem Zusammenhang schon ein Problem mit dem Begriff Postmoderne. Als wir uns an der Uni mit dem Werken von Bourdieu, Baudrillard und Foucault beschäftigten – mit solch illustren Kommilitonen https://de.wikipedia.org/wiki/Gadi_Algazi, http://www.ma.ruhr-uni-bochum.de/spaet/mitarbeiter/mersch.html.de – geschah das unter der Rubrik Poststrukturalismus. Wobei der Strukturalismus dem vorausging und eigentlich eine Forschungsrichtung aus der Ethnologie war (siehe Lévy Strauss), die sich mit Denksystemen außerhalb der europäischen Rationalität beschäftigte und anhand dieses Themas die Gewordenheit und gesellschaftliche Bedingtheit des abendländischen Denkens rekonstruierte.

    Postmoderne war für uns zu dem Zeitpunkt in erster Linie eine Richtung in der Architektur und Poetik, in der Philosophie das Denken von Lyotard, den von uns oder denen die uns lehrten niemand auf die Idee gekommen wären, dieses mit Bourdieu, Baudrillard und Foucault oder der Denktradition Strukturalismus – > Poststrukturalismus unter einen Hut zu bringen. Das geschah erst ein Jahrzehnt später.

    Was die Butler-Rezeption des Szenekindergartens angeht so kann dafür niemand Butler verantwortlich machen. Sonst landen wir wieder bei Stalin der bei Marx bereits angelegt wäre oder ähnlichem Unfug. Ich kenne die Anwendungen des neueren Dekonstruktivismus in der Kombination Butler-Foucault auch eher als Historikers/Soziologens Werkzeuge in der Auseinandersetzung mit Rassenkunde und Intelligenzerblichkeitstheorie.

  33. Wokeness nannte sich in meinen Unijahren übrigens PC. Kurzform von Political Correctness, die damals als affirmierende Eigenbezeichnung gebraucht wurde, und zwar inflationär (Die Party ware voll PC meinte dass eine Fete gut war).

  34. @Hartmut: Nun, es sind ja auch Frauen. Wer unten eine Muschi hat = Frau. Wer einen Pimmel hat = Junge. Und damit sind, ganz genau, fürs spätere bestimmte Fähigkeiten verbunden: ein Kind auszutragen oder eines zu zeugen etc. Und eben auch bestimmte Rollenmuster, die kulturell geprägt sind. Man kann auch völlig andere Merkmale festsetzen wie bspw. sozialer Stand (was zum Teil ja auch gemacht wird: eine Häuptlingstochter hat es vielleicht stellungsmäßig besser als ein Bauernjunge), auch das ist kulturell. Die meisten uns bekannten Kulturen freilich haben genau diese Einteilung männlich-weiblich. Festgeschrieben wird aufgrund eines wesentlichen biologischen Merkmals, das nicht nur etwas mit einem Sprechakt zu tun hat, sondern das mit dem späteren Paarungsverhalten zusammenhängt. Und der Ausruf: Ein Junge dient ja nicht erst dazu, den Jungen zum Jungen zu machen. Das wäre wohl eher magisches Denken. EIn Baum ist ja auch nicht erst dann ein Baum, wenn ich sage: Du bist jetzt Baum. (Und vor allem: ich kann eben im Sprechakt nicht zwei Tage später sagen: „Du bist ein Bagger!“ – bzw. sagen kann ich es schon, nur wird der Baum nicht dadurch zum Bagger, wenn ich mit Bagger einen Gegenstand meine, der mittels Mechanik und Hydraulik fähig ist, Erde oder andere Materialen aufzugraben und zu transportieren.) Der Sprechakt besitzt hier also eine beschreibende Funktion. Daß dieser auch kulturell geprägte Rollenmuster zugrunde liegen, ist freilich ein Aspekt, der dabei eben nicht unter den Tisch fallen darf. Wenn Butler das so meint, ist es plausibel. Aber ein Mädchen, das bereits biologisch ein Mädchen ist, wird nicht erst durch den Ausruf der Hebamme zum Mädchen und könnte von ihrem Geschlecht ansonsten auch etwas ganz anderes sein. So wie die Erde ja auch nicht plötzlich eine Kugelgestalt besaß, weil es genügend Menschen gab, die diese Annahme für plausibel hielten, und vorher aber nicht.

    @che: „Was die Butler-Rezeption des Szenekindergartens angeht so kann dafür niemand Butler verantwortlich machen.“ Nicht ganz. Anders als Marx zu Zeiten Stalins lebt Buttler noch.Und im Fall Kathleen Stock habe ich von ihr ansonsten nichts Wesentliches gehört, daß sie zu diesen Angriffen auf Stock Stellung nimmt und sich solche Formen von Gewalt verbittet. Bei einer Autorin, die ansonsten schnell mit Aktivismus und mit Solidaritätsadressen zur Hand ist. Und was ich in „Das Unbehagen der Geschlechter“ gelesen habe, überzeugt micht ebenfalls wenig. Das scheint mir eher magisches Denken. Und ich halte es für gut und richtig, daß gegen diese Art von Queer-Feminismus zunehmend Frauen rebellieren und Kritik üben. Demnächst auch dazu im Tiamat Verlag von Klaus Bittermann: von Sara Rukaj, „Die Antiquiertheit der Frau. Von der Rebellion zur Reaktion: Das Subjekt des Feminismus verschwindet“.

  35. „Wokeness nannte sich in meinen Unijahren übrigens PC. Kurzform von Political Correctness, die damals als affirmierende Eigenbezeichnung gebraucht wurde, und zwar inflationär (“

    Danke Che. Trommel ich seit Jahren (Ihr jungen Woken wisst ja gar nicht, wie alt ihr seid!). Und ja: PC war ursprünglich positiv konnotiert.

  36. zur Nomenklatur: ich weiß, dass „die“ Postmoderne ein opaker Begriff ist. ich biete as Ersatz „Poststrukturalismus“, cultural turn, cultural turns (Plural, Bachmann-Medick) oder auch vitzliputzli an. gemeint sind jene untereinander keineswegs immer wohlgesonnenen Denkrichtungen, die man mit Welsch denn doch im Wesentlichen so verschlagworten kann: Dekonstruktion der (eindeutigen) Bedeutung (Aufbrechen des engen Signifikat/Signifikand-Konnexes, wie ihn de Saussure erklärt hat), somit des (eindeutigen) Sinnhorizonts, somit des (eindeutigen, über Wissen verfügenden) Subjekts. Wie und wohin auch immer dekonstruiert. Sehr sehr (sehr sehr sehr) grob gesagt. Bitte niemals im Seminar verwenden, danke.

  37. Ist halt wie mit den Begriffen Idealismus und Materialismus. Fichte, Schelling und Hegel einfach nur als Idealisten zu bezeichnen greift deutlich zu kurz.

    Poststrukturalismus und Dekonstruktion sind z.B. Möglichkeiten des Benennens. Wobei auch dort wieder Streit aufkommt: Foucault hat sich meines Wissene eher nicht als Poststrukturalist gesehen und diesen Begriff kritisiert, so wie er überhaupt jene Zuordnungen vermeiden wollte. Das beste ist in solchen Fällen eh, die Texte selbst sprechen zu lassen und sie zu lesen. Und dann kann man eben das, was in dieser Zeit geschrieben wurde, unter solchen Begriffen wie Postmoderne, Spätmoderne, Dekonstruktion, Strukturalismus, Poststrukturalismus verordnen. Sie dienen halt für eine Groborientierung. Und wenn jemand postmoderne Philosophen sagt, werden die meisten verstehen, daß damit nicht Karl-Otto Apel gemeint ist. In diesem Sinne muß man halt immer auf die Kontexte schauen. (Wobei spitzfindige Menschen dann auch wieder sagen können, daß gerade Apel zur Postmoderne gehört, weil sein Denken eben auch Resultat und Reaktion auf solche Auflösungsprozesse oder besser Diversifizierungen von Vernunft ist. Was ja nicht einmal falsch ist.)

  38. Und was den Wokismus betrifft: Es ist in der Tat so, daß es z.B. sinnvoll sein kann, wenn Menschen, die unter der Erfahrung der Diskriminierung leiden, sich einen sicheren Raum schaffen wollen, wo sie untegestört und unter sich ihre Erfahrungen austauschen wollen. Dagegen wird niemand etwas einwenden und wenn, dann wären solche Einwände zu entkräften mit den Hintergründen, weshalb eben Frauen gerne unter sich in einem Frauencafé verweilen, wenn sie es denn wollen. Nur kann man daraus eben nicht die Forderung ableiten, daß alle Räume irgendwie safe sein müssen oder daß überall, wo das nicht der Fall ist, Triggerwarnungen angebracht werden sollten. Jetzt sogar schon vom WDR vor dem Schimansik-Tatort „Duisburg Ruhrort“. Jener Dogmatismus, von allen Seiten im übrigen, ist das Problem. Leben bedeutet immer auch Konfrontation mit Dingen, die einem nicht gefallen und moderne Gesellschaft bedeutet das Miteinander von unterschiedlichen Gruppen – oder eben auch: den Streit. Auch das gehört dazu. Auch unliebsame Meinungen. Niemand muß es gut finden, wenn Schwule heiraten. Er muß es nur eben dann hinnehmen, wenn das Gesetz solches zuläßt.

  39. Amen Bruder, bin da ganz deiner Meinung.

    Im übrigen befremdet mich dieser ganze Sprachfetischimus erheblich. Gibt es wirklich Leute, die ernsthaft glauben, Sprache könne die materielle Realität verändern? Abra kadabra…. Tischlein deck dich… das ist doch Glaube an Magie.

    Und meint man wirklich, wenn man „Forschende“ statt Forscher sagt, seie einem bewusster, dass es auch Forscherinnen gibt?

    Ich denke jedenfalls am beide Geschlechter, wenn ich von Radfahrern und Autofahrern sprechen höre, weil der Kontext das i.d.R klar macht. Wenn ich von Radfahrenden und Autofahrenden sprechen höre, denke ich an geifernde Feministinnen, weiter nichts.

  40. Mit der woken Linken ist es wie mit der nds-Linken, der K-Gruppen-Linken, younameit: Inhaltlich Richtiges vermengt sich aufs Unguteste mit zuzementiertem Denken: ich, ich alleine habe recht, ich, ich alleine weiß den Weg ins Paradies, und wer ihn nicht mit mir gehen will, der kann aber was erleben…

    Diese linke Dummheit kehrt seit Robespierre, seit Cromwell immer wieder, es ist die Kläglichkeit des ewig Gleichen. Auch die woke Linke wird entmüllt werden, so wie alle linken Movements vor ihr, auch für die woke Linke gilt, was für alle anderen Linken vor ihr galt: gottseidank wird man sie entmüllen, und auch für die woke Linke gilt das, was „Herbst in Peking“ im Sommer 1990 so herrlich sang, als es galt, den real existierenden Sozialismus zu verklappen: „man wird die roten Götter schleifen, viele werdens nicht begreifen…“

    Ich sage das ohne jeden Triumph. Es wird einfach nur wieder eine weitere linke Niederlage sein. Wohlverdient und unvermeidbar, dennoch: Für alle, die auf eine bessere Welt hoffen, ist das letztlich einfach nur ein Anlass zur Trauer. Mir völlig unbegreiflich, wie man zum zwanzigsten Mal mit dem Kopf an die Wand rennen kann – die letzten 19 Male war es schließlich zu und zu schön, als der Schmerz endlich nachließ.

  41. Nicht seit Cromwell, seit Savonarola, wenn nicht seit den Zeloten.

    @“Nur kann man daraus eben nicht die Forderung ableiten, daß alle Räume irgendwie safe sein müssen oder daß überall, wo das nicht der Fall ist, Triggerwarnungen angebracht werden sollten.“ —– Da möchte ich ein Interview mit Steven Spielberg zum Thema Jugendschutz im Film einfügen. Er sagte, er wäre gegen Jugendfreigaben, z.B. auch dafür dass Kinder unter 10 den Weißen Hai oder Shoah sehen dürften. Wenn die beim Film gucken Angst bekommen und das aushalten und die Angst überwinden würde das ihren Reifungsprozess beschleunigen.

  42. @Sokal: In Anknüpfung daran wurden auch von naturwissenschaftlicher Seite als Angriff auf die dekonstruktivistische Richtung alle möglichen unzulässigen Übertragungen sozusagen in Gegenrichtung vorgenommen, die gar keinen Sinn ergeben, aber der Herabsetzung des Gegners dienten. Z.B. wurde behauptet, postkonstruktistische Archäologen hätten behauptet, Ramses der Große könne nicht an Tuberkulose gestorben sein weil im Alten Ägypten die Tuberkulose noch gar nicht bekannt gewesen sei. Die tatsächliche Aussage lautete aber, der heutige Tuberkelbazillus habe damals noch nicht existiert, also könne er nur an einer Vorläufererkrankung gestorben sein. Auf der gleichen Ebene stamme der Hund nicht vom rezenten Wolf ab, sondern von Wölfen des Eiszeitalters.

    Usw., in Zeitschriften wie Geschichte und Gesellschaft finden sich lange Auseinandersetzungen zu solchen Themen. Da wird leider oftmals so Einiges grob missverstanden.

  43. @Che: Da hat Spielberg in gewissem Sinne sogar recht. Vor allem aber sollten die Etlern wissen, was ein Kind sehen kann und was nicht. Das hängt sehr vom individuellen Charakter ab.

  44. @che „Nicht seit Cromwell, seit Savonarola, wenn nicht seit den Zeloten.“ Ironisch gemeint? Wenn ja – genau diese Haltung ist Teil des Problems, und sehr wesentliche (Mit)Ursache für das ständige Scheitern der Linken.

    Den Teil der Sokal-Debatte kenne ich nicht. ich kenne Latours Antwort an Sokal, und die war leider deutlich unterkomplex und ging nicht auf die Probleme ein (um nicht zu sagen sie war schlicht dumm). Und ich kenne Über-Butlerianer(innen), die ernsthaft glauben, durch Sprechakte Muskelaufbau betreiben zu können. Da wirds dann absurd. Klar: lunatic fringe, wer nimmts denn ernst. Aber auch ein solcher lunatic fringe verweist auf etwas.

  45. @“die ernsthaft glauben, durch Sprechakte Muskelaufbau betreiben zu können.“ Die sollen mal zu mir in den Kickboxkurs kommen, dann lernen sie wie mensch so was wirklich macht. Warnung: Sehr viele körperbetonte Frauen da die einem Playboy-Schönheitsideal entsprechen, dabei höchst selbstbewusst sind und sich über Gendersprech kaputtlachen. Und tätowierte männliche Bodybuilder.

    Die Sokal-Debatte bzw. ihre Folgen und Wurmfortsätze kenne ich aus Zeitschriften wie Ästhetik&Kommunikation. Geschichte und Gesellschaft und Historische Anthropologie, wie ich überhaupt den Dekonstuktivismus und Poststrukturalismus hauptsächlich anwendungsbezogen aus der Geschichtswissenschaft und Ethnologie kenne.

    Die meisten krassen Ultra-ButlerianerInnen habe ich als Twentysomethings kennengelernt, die noch kein stabiles Erwachsenenich ausgebildet haben und deshalb eine starke Ideologie zum Anlehnen brauchen. Wächst sich aus. Also eigentlich ein Postpubertätsproblem.

  46. Tja, das mit dem Auswachsen sehe ich inzwischen auch kritischer. Da bleibt leider vieles. Aber durch den tückischen Alltag geht manches sicherlich auch baden.

  47. Hallo Ihr alle

    tja, ob es sich auswächst? Abwarten. Wir werden demnächst jedenfalls ein Gesetz bekommen, wo die zutreffende Äußerung des satzes „Dieser Mann hat jene Frau vergewaltigt“ eine Straftat bzw ein Vergehen sein könnte, weil dieser Mann ja „in Wahrheit“ eine Frau „ist“. Und ihm (ätsch!) das Frau-Sein abzusprechen ist ja „hate speech“. Kathleen Stock hat folgende (ernst gemeinte!) Schlagzeile ausgegraben: „woman accused of exposing penis“ Soweit geht der Wahnwitz schon. Das alles mit Hilfe einer Lyssenko-Biologie (soll man nicht der Wisenschaft folgen, liebe Woke? Aber nur dort wo es passet und schmacket, nicht wahr?)

  48. PS: Die vom Gesetz vorgeschriebene Form wäre dann: „Diese Frau hat jenes Wesen-das-menstruiert vergewaltigt.“

    Ich habe noch die Hoffnung, das sich speziell die grünen,sozialdemokratischen und linken Frauen gegen diese widerwärtige Zumutung wehren.

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