Der River Lea streift die Stadt London und „ihre Abseits liegenden Geschichten“, er berührt kein Zentrum oder durchdringt die Metropole, sondern er fließt vorbei. Er verliert sich und mündet schließlich in der Themse. Brachland, das sich mit Natur, Menschenseelen und den Rückständen von Zivilisation mischt, findet sich an den Ufern dieses Flusses. Weggeworfenes Papier, schmutzige, in Fetzen gerissene Lumpen liegen zwischen den Gräsern. Obdachlose lagern am Ufer, Irrsinnige oder eigentümliche Gestalten, die aus der Gesellschaft gefallen sind, begegnen der Erzählerin. All das streift das Ich jedoch nur am Rande, es nimmt zwar wahr, aber diese Menschen gleiten wieder vorüber, sie geraten kurz in den Blick, werden zu einer Erzählung und sie verschwinden wieder. Eine triste Landschaft. Endspiel-Atmosphäre – aber poetisch. Ein Endspiel, das in der Ödheit der Orte durchaus seine Reize preiszugeben vermag. In diesen verlorenen Zonen Londons entdeckt die Spazierende eine Schönheit der Stille und des Abgeschiedenen. Nichts, was stört, denn hierhin treibt es keinen Touristen, keine neugierigen Zuschauer. Hier ist nichts schön, nichts sehenswert, nichts, was einen Betrachter halten könnte, um vor einer schönen Landschaft zu verweilen und die Ankerpunkte der Szenerie zu suchen, nach denen sich das Bild strukturiert und seinen Aufbau findet. Von den Tristesse-Bildern der Vorortzonen her erinnert mich dieser beschriebene Leere an das London aus Aki Kaurismäkis I hired a Contract Killer.
So erwandert die Erzählerin Tag für Tag diese Wege, immer ein Stück weiter als bisher, über das alte Ziel hinaus, und während dieses Spazierens findet sie in der Imago einen Teil ihrer Kindheit wieder. Siedlungen, Fabriken: ein Reigen von Eindrücken, eigentlich Unverbundenes rückt plötzlich in Korrespondenz und bedeutet Persönliches. Die Kindheit am Niederrhein in den 50er Jahren. Mosaikhaft entstehen Eindrücke. Stumm deuten diese Impressionen auf eine Vergangenheit, die sich Stück für Stück am Detail eröffnet, sich in Anzeichen zeigt – eine Anamnese. Doch erst die Ferne leistet diese Erinnern, erst beim Spazieren wird das Ich heimisch „und stieß mit immer größerer Hingabe den Blick in die kleinen Dinge, die unbeachtet am Wegrand lagen, Verlassenes und Ungeborgenes, Verlorenes und Verworfenes, das da vor sich hin zerfiel und unkenntlich wurde.“ Dieses Spazieren, Blicken und Schauen ist fast eine Bußübung.
Nicht nur jenes Brechtsche „Verwisch die Spuren“ mag als Leseanweisung für Städtebewohner gelten, sondern ebenso die Direktive, diese Spuren am Wegrand der Brachen lesen zu lernen. Nicht anders als die indigenen Bewohner der Naturwelten im Dschungel oder in Savannen die Zeichen der Natur zu lesen wissen, gerät hier der Müll der Zivilisation, der sich an den Rändern der Städte türmt, ins Blickfeld und wird zum Zeichen. Doch sind diese gefundenen Dinge zugleich nur Anzeichen für etwas anderes, und diese Ding-Ontologie setzt in Kinsky Roman immer wieder aus. Verdichtung und Verschiebung drängt es an einen anderen Ort, der nicht ganz von dieser Welt zu sein scheint. Daß Kinsky in ihren Betrachtungen das Pessachfest nennt, dürfte nicht bloß dem Zufall geschuldet sein. Oder eben doch und völlig immanent: das eigene Bewußtsein, das eigene Leben in eine Versöhnung bringen.
Die Erzählerin beobachtet, sie sammelt Dinge, die sie am Wegesrand findet. Vor allem aber photographiert sie unablässig mit einer Polaroid-Kamera. Sie lichtet ab, was sie sieht und worin sie ein besonderes Moment wittert: das Sosein der Dinge, ihre Spur, ihre Lage im Raum – selbst dann, wenn diese Dinge niemand mehr betrachtet oder benutzt, geraten sie durch die Kamera bedeutsam. Die Polaroid ist das Prinzip direkter Verdoppelung, sie verwandelt ein Objekt in wenigen Sekunden in ein Bild und wir halten das Abbild einer Sache in der Hand. Das, was wir sehen, ist nicht das, was ist. Noch nie in der Geschichte der Menschheit war die unmittelbare Verdoppelung von Welt, war ihre Abbildung so direkt und so fix möglich. Aber diese Photographien dienen genauso der Beglaubigung des Wirklichen: daß es kein Traum sei, was sich da am Fluß zeigte. In diesem Kontext vermittelter Authentizität schließen sich Verbindungen ebenso zu Katja Petrowskajas Debütroman Vielleicht Esther und Helmut Lethens „Der Schatten des Fotografen“ als Bindeglieder: eine Literatur als Erinnerungsspur, in der das Medium der Photographie eine zentrale Rolle spielt. Sowohl in Kinskys und wie auch in Katja Petrowskajas Roman finden wir Photographien, die das Erzählen strukturieren.
„Mit einer kleinen, billigen Kamera nahm ich Fotos auf, die mich später beschämten. Wenn ich sie betrachtete, kam es mir fast unanständig vor, diese Bruchteile fremder Leben, diese Abbildungen flüchtiger Gesten, zielloser Blicke, lauernder Körperhaltungen in meinem Zimmer aufzubewahren, Lebensschnipsel völlig unbekannter Menschen, die nichts von dieser vorläufigen Unvergänglichkeit eines Ausschnitts ihrer Zeit in meiner Hand ahnten.“
Die Photographien bilden bei Esther Kinsky wie auch bei Katja Petrowskaja ein Zentrum des Romans. Um die Bilder herum wird eine Geschichte erzählt, sie sind Aufbewahrungs- und Erinnerungsorte, unmittelbare Visualisierungen. Photographien sind Präsenz des Abwesenden, vergegenwärtigte Vergangenheit. Dasein dessen, was einmal war. Die Photographie ist das einzige Medium, das uns ein realistisches Bild liefert von dem, was längst vergangen ist. Aber es ist ein Bild im Stillstand. Fixierte Zeit. Womöglich gerät gerade deshalb Dichtung, die mit Photographien arbeitet, immer einen weit Ton melancholisch, weil sie vom Vergänglichen handelt und dieses Vergehen explizit zum Thema macht.
Kinskys Roman sind zwei Photographien vorangestellt, er beginnt insofern nicht mit Sprache, sondern mit zwei Bildern. Das erste Photo, verschwommen an den Rändern, im Sepia-Ton gehalten, und lediglich im Zentrum scharf, darin sich ein Kind inmitten eines Gartens findet. Darunter geschrieben: dem blinden Kind. Das Kind schaut, den Kopf leicht nach oben geneigt, die Augen in die Höhe gerichtet, aber wie aus toten Augenhöhlen heraus ins Nichts oder in den Himmel blickend, während um es herum wie in einem schlierenden Strudel die Unschärfe der Welt sich ins Werk setzt. Sehen ohne zu sehen: Blindness and Insight. Die zweite Photographie zeigt eine Landschaft mit Fluß, von einem leicht erhöhten Standpunkt aufgenommen, im Hintergrund Strommasten sowie eine Halde. Schemenhaft zu ahnen sind Industrie- oder Gewerbebauten: eine Landschaft, wie man sie am Rand vieler Städte findet, wenn Fluß, Gewerbegebiet und Natur ineinander übergehen und sich die Stadt immer mehr in die Naturräume verliert.
Auf der gegenüberliegenden linken Buchseite steht ein Zitat des Schriftstellers Iain Sinclair: „The ultimative condition of everything is river.“ Das (fälschlich) Heraklit zugeschriebene „Alles fließt“ mag da als Philosophie und Sicht eines Lebens nachhallen. Photographien freilich sind genau das Gegenteil von Fließen und Fluß. Sie halten unwiederbringlich verfließende Zeit fest, das verrinnende Leben, und frieren den Augenblick ein: Erinnerungsbilder, die bleiben sollen. Wenn wir diese Bilder, die wir in unsren persönlichen Photoalben finden, betrachten, steigen wir immer wieder in denselben Fluß, sehen uns im Portrait als das, was wir einmal waren und kommen doch als andere wieder heraus, weil wir als Betrachter den Abstand zwischen uns damals und uns heute mitdenken. Wir sind gealtert.
Auch Literatur kann ein solches Erinnerungsmedium sein. Jedoch werkelt die Literatur anders, metaphorisiert den Fluß, so wie im Zitat von Sinclair, der, Vorbild für Kinskys Spazieren, ebenfalls den Osten Londons durchwanderte und dessen Landschaftsbilder in Literatur Seelenbilder sind – nicht anders als die Prosa Kinskys. Iain Sinclair ist in der BRD sogut wie unbekannt, Der Rand des Orizonts erschien letztes Jahr bei Matthes & Seitz. Liest man sein zusammen mit Rachel Lichtenstein geschriebenes Buch Rodinskys Raum, entdeckt man einige literarische Bezüge zu Esther Kinskys Am Fluß: Diese Momente des Rätsels, das Spiel zwischen Dokument und Fiktion bestimmt beide Texte. Schritte man noch einmal die von Kinsky beschriebenen Wege in Londons Osten ab, würden wir sicherlich das eine oder andere beschriebene Detail wiedererkennen.
Aber was nützt solcher Realismus einer Literatur, die aufs Wiederkennen von Orten angelegt ist, wenn es gar nicht darum geht, realistisch abzubilden? Literarische Landschaften sind keine realen Landschaften. Für Charles Dickens benötige ich keinen Stadtplan Londons, um die Szenerie zu begreifen, wie einst Nabokov das postulierte. Kinsky geht es um etwas anderes. Erinnerungen sind auf keinem Stadtplan verzeichnet. Allenfalls, wenn der Finger die Straßen abfährt, blitzen Imaginationen auf.
Dabei wirkt in diesen sprachlichen und photographierten Bildern eine mehrschichtige Phänomenologie: es sind nicht nur die Zustände der Seele, die sich in den Dingen spiegeln, sondern zugleich zeigen sich die Dinge und die Örtlichkeiten, gewinnen – zumindest für den Moment – Gestalt: Das heruntergekommene Viertel, in dem die Erzählerin lebt, mit seinen Geschäften, die dort ansässigen kleinen Händlern, der Wohltätigkeitsladen für bosnische Flüchtlinge, der Händler Greengrocer Katz (der ebenfalls in Lichtensteins und Sinclairs Text vorkommt) sowie die frommen Juden, die bei Katz einkaufen und sich zum Ende des Romans auf das Pessachfest vorbereiten. Rätselhaft, fremd und ohne Bezug.
All das, was von Kinsky an Spaziergängen und an Ortswechseln erzählt, bleibt seltsam aus der Zeit gehoben. Trotz eingestreuter Daten wie dem Bosnienkrieg. Kaum gibt es ansonsten Aufschluß, wann all das, was das Ich erzählt, sich abspielt. Nichts Gesellschaftliches aus dem wuchernden London, allenfalls die Armut des Viertels. Wir wissen höchstens, daß die Erzählerin am Niederrhein aufwuchs „Meine Kindheit lag an einem Fluß“, vermutlich in den 50er Jahren. Wir erfahren, daß sie ein Kind hatte, mit dem sie irgendwann für eine Zeit lang nach Kanada auswanderte. Wir lesen von ihrem Vater, der zum ersten Mal in seinem Leben mit Tränen im Gesicht am Flughafen in Deutschland dastand, als sie sich von ihm verabschiedete. Doch es berühren diese Tränen die namenlose Erzählerin unangenehm. Abschiede, wie unter einer Lupe oder aus dem Eis herauskristallisiert und vergrößert. Dann Reisen nach Israel, nach Polen. Bußübungen und Judentum.
Weniges nur wissen wir aus ihrer Biographie, manches schält sich als Ahnung hervor. Irgend ein einschneidendes Ereignis mußte passiert sein, von dem die Leser aber nichts oder nur in Andeutungen erfahren: weshalb die Erzählerin in den Osten Londons zog, in diesem Stadtteil mit Immigranten, Menschen am Rand der Gesellschaft, einer chassidischen jüdischen Gemeinde, den Frommen eben, die verschiedentlich in ihren Erzählkontexten auftauchen und nebenbei immer wieder die Zigeuner – früher, in der Kindheit am Rhein, noch mit struppigen Pferdchen und Wägelchen dahinziehend von Ort zu Ort, lagernd, später dann mit Wohnwagen und Automobil. Ebensowenig seßhaft wie die Erzählerin im Lauf ihres seltsamen Lebens.
Seßhaft ist das erzählende Ich höchstens am Ufer der Flüsse, wenn sie spaziert, die Gegenstände sammelt oder wenn sie photographiert. Leben in den Bildern. „Meine Spaziergänge am River Lea waren langsam und planlos. Ich schaute und horchte und suchte Erinnerungen. Ich machte Bilder und blätterte Schicht um Schicht von Erinnerung auf.“
Detailliert und sich verzweigend schildert das erzählende Ich in einer dichten, teils poetischen Sprache, die sich mit Wahrnehmung füllt, diese Tage in Londons Osten sowie in Andeutungen und als Abschweif die Zeit an anderen Orten der Welt. Auch diese Geschichte mäandert wie der Fluß und sucht sich ihren Weg: von der Quelle ins Meer und ohne Innehalten. Eine entrückte Literatur, manchmal eine stille Trauer, doch ohne Verzweiflung. Nichts wird hier melancholisch als Effekt zelebriert. Das Melancholische ist melancholisch – nicht mehr, nicht weniger. Kontemplativ wäre vielleicht der richtige Begriff.
Das Wahrnehmen von Welt reicht bis in die Klangfarben von Begriffen hinein. Da findet die Erzählerin einen Begriff wie „Gadenruhm“. Man vernimmt ihn, liest, stutzt, grübelt: sicherlich klar, die Erzählerin arbeitet als Übersetzerin, und genauso fremd müssen zunächst die Begriffe klingen, um sie mit ihrem Bedeutungshof übertragen zu können, wenn wir den Begriff von der einen in die andere Sphäre übersetzten; von der des Klanges in die des Sinns: Gardenroom.
Am Fluß schreibt diese Streifzüge durch die kurze Episode eines Lebens in einem manchmal lyrischen Ton atmosphärisch dicht und intensiv. Es ist diese Prosa einer Ding-Ontologie mit Empfindungsmehrwert meine Sache eigentlich nicht, denn das Beobachten lädt sich an manchen Stellen zu sehr mit dem fein Ziselierten und dem überhöhten Ton auf. Rilke-Sound, der schon damals flugs ins Kunstgewerbliche kippte. Aber trotz dieses feinen Tones gesteigerter Sensibilität funktioniert der Roman, kommen wir beim Lesen nicht aus dem Fluß. Etwas an dieser Prosa fesselt. Vielleicht ist es der Hang zum absichtslosen Flanieren, das den Blick schärft und das die Leser in den Bann zieht. Flüchtigkeit ohne Absicht und Intention: Alle diese von der Erzählerin gebannten und doch freizügig wieder aus der Fixierung entlassenen Momente zu beschreiben und mit dem eigenen Blick zu konfrontieren. Ein Erzählen als vermutlich biographische Spurensuche und eine Prosa, die keine Botschaft aufdrücken mag.
„…, der Stadt, die ich in Jahren mühsam zu buchstabieren gelernt hatte, meine eigen Namen zu geben, Namen, die ich überhaupt erst im Gehen uns Sehen aus dem Netz der Erinnerungsrinnsale, dem Geröll der abgelagerten Bilder und Klänge und dem Gewebe ineinander verstrickter Wörter fischen und lesen muß.“
Auch dieses Setzen von Namen hat etwas mit dem Judentum zu tun. Mit der adamitischen Namensgebung, eine Art Gebet, und wir denken dabei an Walter Benjamins Theorie zur Sprachmagie. Erzählen ist Mystizismus.
Eine Buchkritik muß ihren Gegenstand notwendigerweise reduzieren und zurechtstutzen. Aus der Vielzahl der Eindrücke das Spezifische wählen, ist die Aufgabe. Mir fällt es in diesem Falle schwer, was zu fassen sei – das motivierte vielleicht auch die Länge dieser Kritik. In Esther Kinskys Am Fluß gibt es viele solcher Stellen, die nicht aus dem Kopf gehen, weil sie in ihrer exakten Wahrnehmung Reflexe auslösen. Körperliches Lesen. Und zugleich fließt der Text in seinen Beobachtungen dahin, könnte immer weiter in dieser Weise des Erzählens sich verströmen.
Darin steckt kompositorisch womöglich der Mangel des Buches. Denn wenig ist in der Prosa durch eine kontinuierliche Geschichte gedeckt, die Verknüpfungen gestalten sich lose und assoziativ reihen sich Fragmente, die zwar bedeutsam im Kontext sind, aber ebenso völlig anders hätten ausfallen können. Wie die Fetzen des Lebens, die wir reihen und in eine haltbare Ordnung zu bringen versuchen. Kontingenzbewußtsein. Literatur dieser Art, wie Kinsky sie schreibt, ist Kontingenzbewußtseinskompensation. Daß das Erzählen über den Schock hinweghilft, daß kein Sinn in allem sei. Die Juden, die Pessach feiern. Wir brauchen unsere Rituale und wir benötigen die Traditionen.
Doch der Roman löst diese sich forttreibende Erinnerungsskizze in Prosa, die niemals abbricht, weil Auge und Geist immerzu wahrnehmen, damit auf, daß er einen Schnitt setzt: Das Pessachfest ist für die Erzählerin ihr ganz eigener Aufbruch – es ist eben Frühling und damit die Zeit für einen neuen, für einen anderen Anfang. Genug und vollbracht. An den Ufern und durch die östlichen Viertel genügend flaniert, genügend gesichtet, genügend abgelichtet, und so zieht sie aus London fort, läßt ihre wenigen Habseligkeiten von den Möbelpackern verstauen und ins Irgendwo eines anderen Ortes abtransportieren. Und wie bereits am Anfang des Romans taucht auch am Ende beim letzten Spazieren wieder jener wirre König auf: der Mann, der mit den Raben spricht, irrsinnig und ein Prophet mit Tüchern um den Kopf geschlungen. Eine messianische Leere, die erzählerisch in einem wundervollen Bild von Natur sich bündelt: Der Ort, wo der Fluß ins Meer mündet und Wasser in Wasser unterschiedslos ineinander sich versteigt, ist eine Zone der Indifferenz. Bewegung ist das Wesen der Flüsse und Ströme dieser Welt. Sinnlich gehaltvoll verdichtet dieser Roman das Ziellose. In Melancholie und in Intensität. Eine großartige lyrische Prosa. Und ich bin bereits gespannt auf Kinskys Hain.
„Auch dieses Setzen von Namen hat etwas mit dem Judentum zu tun. Mit der adamitischen Namensgebung, eine Art Gebet, und wir denken dabei an Walter Benjamins Theorie zur Sprachmagie. Erzählen ist Mystizismus.“
Eins der Großprobleme der metaphysisch obdachlosen Moderne ist, dass ihre Bewohner, indem sie dieser Zeittendenz rein ästhetisch begegnen, tendenziös spinös werden (Gadenrum). Das ist der Punkt, wo auch Benjamin nicht mehr interessant ist, sondern sozusagen in esoterischer (sehr absehbarer, sehr ausrechenbarer) Reflexion sich – – ergeht.
Selbst der vergleichbar selbstbezügliche Handke ist da interessanter. Zumindest da, wo er sich tatsächlichen Erfahrungen – oft gerade: Gehend: Aussetzt.
„Es würde alles besser gehen, wenn wir mehr gingen.“ (Seume – aussm Kopf – so ca.). – Oder: Wenn wir mehr radelten! (Sag ich).
Die einzige Chance, in einem Roman der Welt zu begegnen, ist die des Ästhetischen. Welcher andere Modus bliebe innerhalb der Literatur auch sonst übrig? Moralische Erbauungsbücher liefert doch bereits Carolin Emcke. Das Erholsame und Feine bei Kinsky ist, daß sie diese Sprachmagie, das Judentum und das Flanieren nie überstrapaziert. Ich habe hier einen Aspekt herausgegriffen. Kinsky aber walzt ihn nicht aus oder errichtet darauf ganze metaphysische Kathedralen. Insofern trifft Ihr Einwand im Falle Kinskys nicht. Und was Verallgemeinerungen betrifft, so muß man sie immer wieder in ihrem Überflug und Überschwang auf die konkreten Fälle rückbinden, um zu sehen, was konkret gemeint ist. Kinsky löst diese Fragen des Erzählens sowohl bei „Am Fluß“ wie ich in „Hain“ auf eine interessante Weise. Und obwohl man eine Handke-Nähe mutmaßen kann, kommt man nicht in einer Sekunde auf die Idee, Handke zu lesen. Ein ganz anderer Ton, ein anderer Stil. – Ach es gibt so viele gute Bücher. Auch heute noch.
Apropos „Gadenruhm“: Gibt es bei Benjamin nicht auch den Sachverhalt des „produktiven Missvetständnisses“, den man hier hinzuziehem könnte? Durch einen solchen Moment der Störung betritt man einen abenteuerlichen Raum, einen Schauplatz neuer unvorhergesehener Konstellationen. Der Sinn steht nicht fest, gerät in einen semantischen Fluss, der auch die Einsicht in die Unabgeschlossenheit des Verstehens mit sich führt. Eine Art des Sehens, Denkens, Hörens und auch des Gehens, die von der Störung lebt. Kinsky wird m. E. in ihrer Prosa nie „spinös“, vielmehr lotet sie die Bedeutungsvielfalt der Wörter und ihrer Kombinationen aus, mit spielerischem Ernst sozusagen, was wiederum mit ihrer Tätigkeit als Übersetzerin zu tun hat. (Wie überhaupt das Thema des Übersetzens geradezu leitmotivisch das Buch durchzieht.)
Hinsichtlich dieser Offenheit, dieses Zurückweisens des definitiven ’so und nicht anders‘, ist es interessant, dass sie gerade eine urbane Randzone, ein „Niemandsland“ oder „Geheimnisland“ durchstreift und dabei allerlei Fundstücke, Eindrücke und eben auch Fotos zurückbehält, die sie dann zu entziffern versucht: eine Poetik des Zwischenraums, des Terrain vague. Und hierzu bedient sie sich nicht nur der Sprache, sondern auch der Fotografie, denn Fotos zeigen immer mehr, als der Fotograf im Sucher erkennt. Und diesem „Optisch-Unbewussten“ (Benjamin) ist die Geh- und Sehende auf der Spur. Insofern sind ihre Spazierrunden zum einen „Übungen in Erinnerungsbildung“, wie sie selbst schreibt, aber eben auch zum anderen Meditationen über das Sehen und den Sehenden, was Du ja auch sehr klar herausgearbeitet hast.
Gruß Uwe
So ist es – eine schöne Ergänzung und Erweiterung meines Essays und ganz im Sinne Kinksys, wie mir scheint.
Und auch in Celans Büchnerpreisrede kommt dieses produktive Mißverstehen ja vor, wenn das Kommode als das Kommende gedeutet wird. Bekanntlich arbeitete auch Celan als Übersetzer.