Assoziationen – Grenzen der Gemeinschaft (2)

kafka5jahreDer Journalist Nils Markwardt wies vor einigen Wochen bei Facebook auf einen Text von Franz Kafka hin, der im „Merkur“-Heft Oktober/November 2013 mit dem Thema „Wir? Formen der Gemeinschaft in der liberalen Gesellschaft“ abgedruckt wurde.

Gemeinschaft

„Wir sind fünf Freunde, wir sind einmal hintereinander aus einem Haus gekommen, zuerst kam der eine und stellte sich neben das Tor, dann kam oder vielmehr glitt so leicht, wie ein Quecksilberkügelchen gleitet, der zweite aus dem Tor und stellte sich unweit vom ersten auf, dann der dritte, dann der vierte, dann der fünfte. Schließlich standen wir alle in einer Reihe. Die Leute wurden auf uns aufmerksam, zeigten auf uns und sagten: ‚Die fünf sind jetzt aus diesem Haus gekommen.‘ Seitdem leben wir zusammen, es wäre ein friedliches Leben, wenn sich nicht immerfort ein sechster einmischen würde. Er tut uns nichts, aber er ist uns lästig, das ist genug getan; warum drängt er sich ein, wo man ihn nicht haben will. Wir kennen ihn nicht und wollen ihn nicht bei uns aufnehmen. Wir fünf haben zwar früher einander auch nicht gekannt, und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird, ist bei jenem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet. Außerdem sind wir fünf und wir wollen nicht sechs sein. Und was soll überhaupt dieses fortwährende Beisammensein für einen Sinn haben, auch bei uns fünf hat es keinen Sinn, aber nun sind wir schon beisammen und bleiben es, aber eine neue Vereinigung wollen wir nicht, eben auf Grund unserer Erfahrungen. Wie soll man aber das alles dem sechsten beibringen, lange Erklärungen würden schon fast eine Aufnahme in unsern Kreis bedeuten, wir erklären lieber nichts und nehmen ihn nicht auf. Mag er noch so sehr die Lippen aufwerfen, wir stoßen ihn mit dem Ellbogen weg, aber mögen wir ihn noch so sehr wegstoßen, er kommt wieder.“

Die Prosa bringt das Prinzip der Gruppenbildung in eine bündige Miniatur. Dieser Mechanismus der Exlusion leuchtet – zunächst – intuitiv ein. Kafkas Parabel ist auf den ersten Blick einfach, sie reduziert das Komplexe auf ein deutliches Bild und führt in dieser Weise den Dezisionismus ad absurdum. Solches Verhalten fängt im Kleinsten an, im Kindergarten nämlich, wenn sich Kids zusammentun und wenn sie andere zugleich ausschließen. Du nicht! Und wird, wie der Erzähler richtig feststellt, zu lange über Gründe diskutiert, käme ein Gespräch fast einer Aufnahme gleich. Willkür dient als Prinzip, um die Identität einer Gruppe auszubilden. Das strikte Nein und niemand begründet.

Genausogut ließe sich diese Parabel aber völlig anders lesen. Daß in eine intakte Gruppe, in einen sinnvollen Zusammenhang etwas Fremdes eindringt. Ein Etwas, das jenes Zusammenspiel sabotiert. Zwar ergab sich diese gelungene Konstellation durch einen Zufall, aber da sie nun einmal besteht und funktioniert, scheint es fahrlässig, solches Gelingen zu stören. Kafka selbst war empfindlich gegen Eindringlinge, was seine Situation in der elterlichen Wohnung betraf. Die Schwestern lärmten, die Eltern rumorten. Man lese in „Die Verwandlung“, wie dort die Zimmer angeordnet sind und gleiche es – sozusagen Binder-positivistisch – mit Kafkas Wohnsituation in Prag ab. Und auch seine späte Erzählung „Der Bau“ findet starke Bilder für den Solipsismus. Ein grabendes Tier, das daran frickelt, sich abzuschotten. Gemeinschaft mit sich, seinen Sinnen und seinem ungeteilten Selbst. Ein untrennbares Konglomerat. Der Mensch ist ein Widerspruch in sich.

Gruppen können, wenn sie länger Bestand haben, Gemeinschaften bilden. So wie jene fünf Gesellen in Kafkas Parabel. Solche Allianz impliziert die Frage nach dem Eigenen und dem Fremden. Was bildet die vereinende Klammer, das Band, was ein- und ausschließt?

Zunächst kann man festhalten, daß Gemeinschaftsbildungen für komplexe Gesellschaften unabdingbar sind. Entsprechende Theorien dazu sind Legion, sie finden sich bei Hegel in seiner Rechtsphilosophie, in Ferdinand Tönnies Standardwerk „Gemeinschaft und Gesellschaft“, stark beeinflußt durch das „Marxische System, das mitbestimmend auf ihren Inhalt gewirkt hat“, so Tönnies. Wir lesen sie in Max Webers zum Werk gefügten Aufsatzsammlung „Wirtschaft und Gesellschaft“, bis hin zu Luhmann und Habermas legendärer Kontroverse Anfang der 70er Jahre, eine Art Soziologen-Battle. „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie“ fragte Habermas im Titel seines Aufsatzes polemisch. Am Ende läuft der unheilvolle Zusammenhang der Immanenz spätbürgerlicher Gesellschaft auf die „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ hinaus. Der gesellschaftliche Kitt bei Habermas verlagert sich, weg von der politischen Ökonomie und einer materialen kritischen Theorie der Gesellschaft, ins rationale Prozedere der Argumentationsfiguren bzw. in eine „Rekonstruktion des historischen Materialismus“. Sabbelkommunismus, wie wir damals witzelten.

Es gibt keine Gesellschaft ohne Gemeinschaften. Der Begriff „alle Menschen“ taugt nur bedingt, nicht einmal im religiösen Kontext funktioniert er. Die Gruppe der Rechtgläubigen schließt alle anderen aus. Insofern ist jede Religion orthodox. Der Mann Moses, der gewaltig vom Berg schreitet: Du sollst keinen anderen Gott neben mir haben. Diese Satzung gilt für alle monotheistischen Religionen. Man müßte schauen, ob solche Gemeinschaftsbildung qua Ausschluß nicht vielmehr eine anthropologische Konstante ist. Laut der Ethnologie kennen Naturvölker nur zwei Gruppen von Fremden: Gäste, die wieder gehen, und Feinde, die geschlachtet werden. Homers Ilias singt das grausame Lied vom Tod Hektors. Dazwischen bleibt nicht viel Platz für anderes.

Johannes Fried schreibt in seiner Biographie zu Karl dem Großen:

„Der Fremde, war er nicht Händler, Gesandter oder Gast, wurde in seinem Fremdsein kaum geachtet, eher als Bedrohung empfunden. Jede Kommunikation mit ihm fiel schwer und mißlang nur allzuhäufig. Es fehlten angemessene Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, um die Anderen in ihrem Anderssein erfassen und würdigen zu können.“

Solche Möglichkeiten der Referenzierung sind entscheidend. Und das prägt bis heute sich ein, auch in einer komplex ausdifferenzierten Gemeinschaft wie dem modernen Staat, der das Individuum und dessen (formal-bürgerliche) Freiheit zum Gegenstand hat.

Ganz anders konzipiert ist jene Phase von Individualität und Gemeinschaft bei Friedrich Hölderlin, wie er sie in „Brot und Wein“ dichtete:

„…immer bestehet ein Maß
Allen gemein, doch jeglichem auch
ist eignes beschieden;

Dahin gehet und kommt jeder,
wohin er es kann.“

Das Gemeinsame wird aufs Eigene zurückgeführt. Mit Heideggers Andenken-Vorlesung zu Hölderlin ließe sich vom „freien Gebrauch des Eigenen“ sprechen, den es zunächst einmal überhaupt zu erlernen gilt.

Jene kleine Kafka-Parabel ist insofern als Auftakt zum Thema gut geeignet, weil sie Basales deutlich macht, aber zugleich in einer eigentümlichen Schwebe verharrt. Zudem ist das Motiv der Gemeinschaft zentral für Kafkas Literatur. Es durchzieht sein Werk in einer vielfachen Bündelung: In den drei großen Romanen „Der Verschollene“ – man denke an das „Naturtheater von Oklahama – in „Der Prozess“, wo ein Einzelner aus der Gemeinschaft entfernt und am Ende wie ein Hund getötet und abgelegt wird. Oder in „Das Schloß“, wo jener anonyme Einzelne namens K ins Dorf und damit in das mysteriöse Wesen Schloß Aufnahme begehrt. Im Naturtheater von Oklahama zeigt sich die Form der Gemeinschaft in einem Plakataufruf:

„‚Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Teater in Oklahama aufgenommen! Das große Teater von Oklahama ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf Uhr wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!‘“

Ein Feuerwerk an Ausrufezeichen und es wird ein Leben geboten, wo im Sinne einer gesellschaftlichen Utopie jeder nach seiner Façon und an seinem Platz, seinen Fähigkeiten gemäß, wirken kann; herausgelöst aus der gesellschaftlichen Entfremdung. Fast fühlt man sich beim Lesen dieses Aufrufes an das Diktum des jungen Marx in der „Deutschen Ideologie“ erinnert: eine Gemeinschaft der Freien, wird uns offeriert. Aber nicht bloß in literaturästhetischer Absicht:

„Und endlich bietet uns die Teilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, daß, solange die Menschen sich in der naturwüchsigen Gesellschaft befinden, solange also die Spaltung zwischen dem besondern und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht. Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden. Dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung, und eben aus diesem Widerspruch des besondern und gemeinschaftlichen Interesses nimmt das gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Einzel- und Gesamtinteressen, an, und zugleich als illusorische Gemeinschaftlichkeit, aber stets auf der realen Basis der in jedem Familien- und Stamm-Konglomerat vorhandenen Bänder, wie Fleisch und Blut, Sprache, Teilung der Arbeit im größeren Maßstabe und sonstigen Interessen – und besonders, wie wir später entwickeln werden, der durch die Teilung der Arbeit bereits bedingten Klassen, die in jedem derartigen Menschenhaufen sich absondern und von denen eine alle andern beherrscht.“

Eine Passage, die Kafkas Unbehagen an der Moderne ex ante auf den Punkt bringt. Nicht die Seinsvergessenheit bestimmt die Existenz, sondern die Ökonomie und noch genauer: das Konzept von Arbeit. Nach solcher Arbeit suchte Karl Roßmann, als er in Amerika ankam, und gerät in die seltsamsten Tätigkeiten, etwa als Page im „Hotel Occidental“. Abendländischer geht nimmer. Kafkas „Der Verschollene“ exerziert diese unfreie Existenz im „Stahlgehäuse des Kapitalismus“ bis zum Ende durch. Seine Erzählung deutet auf Entfremdung. Und auf eine wundersame Aufhebung in einer obskuren Gemeinschaft, die etwas von der Existenz des fahrenden Volkes hat. (Wir erinnern uns bei Kafka an die Zirkus-Szenen und die merkwürdigen Artisten.) Eschatologie zuckt am Himmel auf. Vor allem, wenn Kafka diese Zugfahrt ins Nirgendwo beschreibt. (Fortsetzung in Teil 3)

kafka-fronius

Teil 1 findet sich hier.

Bild 1: Wikipedia, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kafka5jahre.jpg
Bild 2: Franz Kafka‘ by Hans Fronius, qua wikipedia, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AKafka-fronius.jpg

2 Gedanken zu „Assoziationen – Grenzen der Gemeinschaft (2)

  1. Kafka, Karl der Große, Tönnies, der halbe Max Weber, Marx, Luhmann, Habermas, Heidegger und Hölderlin. OK. Teil 3 – W F Haug, Szondi, Müller (H.), Brecht, Marx, Kraus, Zille, Foucault, Bataille, öhh, Guattari und – öhh, Slovsky, Pawlov, Althusser und – öhh – – Vogl, Zizek, Groß und – Hegel, wieder; Castoriadis, Magris, Poe und Eco.

    – Felt was? – Etwas felt! – OK – – 2 h.

    Ich werde auch Teil drei studieren, mit einigem Behagen. Everett, Davidson, Fukuyama, Chomsky, Wolfe und Saussure (Whorf, Sapire, Brandom, Searle, Dummett, Durkheim, und – öhh – – Teil vier). Teil fümf, der Höhepunkt – in Teil fümf kommen dann die Frauen, hehe!

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..