Pariser Ansichten (2) – Camus und Foucault, auf meinem Weg in die Unterwelt

Orphisch verdreht, die alte Leier, die alten Lieder, es blüht der Flieder. Wieder. Jedes Jahr wieder. Na gut. Ich pflege den Ennuie, der zum Spazieren unerläßlich ist. Absurder Baudelaire-Abklatsch zwar, aber es geht nicht anders und unerläßlich für mein Unterfangen, in jener Großstadt Paris zu wandeln. Pathos als Bathos als Pseudopathos.

[Nach Hegels Ästhetik ist Pathos ein für die Kunst Unerläßliches:
„Das Pathos nun bildet den eigentlichen Mittelpunkt, die echte Domäne der Kunst; die Darstellung desselben ist das hauptsächlich Wirksame im Kunstwerke wie im Zuschauer. Denn das Pathos berührt eine Saite, welche in jedes Menschen Brust widerklingt, jeder kennt das Wertvolle und Vernünftige, das in dem Gehalt eines wahren Pathos liegt, und erkennt es an. Das Pathos bewegt, weil es an und für sich das Mächtige im menschlichen Dasein ist.“ (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik)
Baudelaires Ennuie und Hegels Pathos der Kunst in eine Konstellation bringen. Gegensätzliches zusammensetzen Schnittstelle: Karl-Heinz Bohrer?)]

 Ich steige in die Tiefe, in die Hölle, ich steige in die Metro, fahre zwei Stationen, steige wieder aus, schlendere den Boulevard entlang, daran am Rand zur Fahrbahn grüne Mülltonnen stehen, die zu den Häusern gehören. Die Papierkörbe der Stadtreinigung jedoch sind mit durchsichtigen Plastiksäcken ersetzt, damit niemand große, schwere, explosive Gegenstände hineinlegen kann.

Distanz und Teilnahmslosigkeit: Lediglich zu registrieren. Augen wie Photoapparate. Ich bin ein Fan der Google-Datenbrille, die ständig Bilder macht – gerade fürs diskrete Ablichten von Menschen unerläßlich, weil dieses Gerät noch relativ unbekannt ist. Verstecke für Photoapparate ersinnen, wie dies Walker Evans in New York für seine Subwayphotos tat. Aber diese Brille sollte und darf eigentlich nicht für jeden bestimmt sein. Das Problem liegt in der Masse. Andererseits schätze in den elitären Herrenreitergestus des Pseudo-Nietzscheianers wenig. Sich fern halten. Geht das? Statt solidaire solitaire, wie Camus es in „Der Fall“ oder „Der Fremde“ entwickelte und wie er es in „Die Pest“ wieder umkehrte. Wenn ich Camus wiederläse, lösten diese Romane dasselbe bei mir aus wie damals beim 16jährigen? [Das Verb ennuyieren liebte ich als Jugendlicher und gebrauchte es fein affektiert.] Das Pathos und dieses so direkt Existenziale wären, was Jugend aufwühlt wie sonst nur Wedekinds „Frühlingserwachen“ oder Goethes „Werther“, und schmölzen am Ende und im Prozeß des Alterns dahin. Ungerecht sicherlich, daß Camus von Foucault geschmäht wurde. Foucaults Kritik am Humanismus ist nicht von der Hand zu weisen, und es kam mittels poststrukturaler Philosophie ein neuer Ton ins Denken der französischen Subjektphilosophie. Im Nachgang aber sind die alten Debatten eben nichts als alt und vergangene Dispute: als säße man in den späten 70ern noch im Café de Flore oder im zehnten Stock des Seminars im Turm, und es könnte dennoch Camus heute vielleicht in einem anderen Licht noch einmal gelesen werden. Abgeklärter sind wir geworden. In den Jahren. Was tun? Nach dem Flanieren? Nach dem Flanieren ist Schreiben der bessere Stil.

„Für den Intellektuellen ist unverbrüchliche Einsamkeit die einzige Gestalt, in der er Solidarität etwa noch zu bewähren vermag. Alles Mitmachen, alle Menschlichkeit von Umgang und Teilhabe ist bloße Maske fürs stillschweigende Akzeptieren des Unmenschlichen. Einig sein soll man mit dem Leiden der Menschen: der kleinste Schritt zu ihren Freuden hin ist einer zur Verhärtung des Leidens.“
(Adorno, Minima Moralia)

Dies schrieb Adorno 1944 im US-amerikanischen Exil an der Pazifikküste in den „Minima Moralia“ Der Aphorismus heißt „Herr Doktor, das ist schön von Euch“ – jener Satz des Famulus Wagner aus dem „Faust“. Ähnliches gilt für den Photographen: unverbrüchliche Einsamkeit beim Spazieren. Wobei ich Adornos letzten Satz skeptisch lese. Leid wird sich so oder so perpetuieren. Den Menschen die gesellschaftlichen Widersprüche, die eigentlich eklatant vor Augen liegen, wieder und wieder vorzuhalten. Ja, richtig, aber bei vielen Linken führte diese Sicht zu einer vollständig humorbefreiten Haltung. Die neue Frankfurter Schule war in diesem Sinne ein Ausbruch aus dem versteinerten Korsett, ein Weg aus dem Stillstand. Wie auch der frühe Punk und ein daran gekoppelter politischer Hedonismus. Diesen Genuß zu schätzen, gar zu zelebrieren und den Gebrauchswert nie gering zu achten, wußten immer schon die Pariser Intellektuellen (Na ja, einige und einige Deutsche auch. Ist ja eine Typusfrage und keine der Nation nur.) Freilich brauchtʼs dafür in Paris Geld. Ansonsten isste zähes Fleisch, das sich Entrecôte nennt, mit dürftigen Pommes, die an den Enden braun oder schwarz geraten sind, daß ich erst dachte, da hätte jemand Stücke von Schwarzwurzeln zugetan oder angeklebt (wo immer diese Färbung herrühren mag) und Salatblattbeilage. Klägliches Mahl. Auch nicht so schön. Da lieber deutschen Spargel. Zeit ist.

Mein Grandhotel Abgrund – auch am Platz der Republik, wo in Paris der soziale Protest traditionell seinen Ort hat. Bis heute hin, bis zu Nuit Debout. Eine gute Sache. Sicherlich.

 

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