Archiv – das klingt nach staubigen Regalen, nach Akten, Ordnern, vergilbten Folio-Bände und nach Papier, das im Laufe der Zeit mit Schimmel befallen ist. Hustend wenden wir uns fort. Es erinnert an gespenstisch leere Gänge in Kellern oder hohe Räume, durch die von Zeit zu Zeit eine graue Gestalt huscht, die einen dieser Ordner aus seiner unverrückbaren Ordnung heraus zieht, um zu recherchieren. Den Schreiber Bartleby stellen wir uns vor, der an einem solch abgelebten Ort arbeiten könnte, oder Sonderlinge in einer Inszenierung von Christoph Marthaler, der das, was aus der Zeit gefallen und ganz und gar sich dem Modernen zu entziehen trachtet, auf die Bühne bringt und hineinsetzt in die Fünfziger- oder Sechzigerjahre-Bühnenbilder von Anna Viebrock.
Es gibt Begriffe, mit denen assoziieren wir wenig Ansprechendes. Wenngleich das Archiv eben doch bitter notwendig ist, um Vergangenheit in ihren Details und Ausprägungen auszumessen und zu verstehen oder gar, um aus diesem Blick des Archivars heraus einen völlig neuen Dreh zu lesen. Wer sich je intensiv mit den Statistiken über preußische Landwirtschaft und Bevölkerungsentwicklung im 18. Jahrhundert befaßte und im Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz sich aufhielt, um einen Vortrag zu diesem Thema sich anzuhören, weiß um den Reiz und zugleich die für den Nichteigeweihten unendliche Ödnis des Themas. Wer aber je in die leuchtenden Augen des Referenten blickte, der in diese Sache sich versenkte, und wer die wohlgestellten Nachfragen der informierten Zuhörer vernimmt, weiß ungefähr, was ich meine.
Foucault und Derrida etwa waren auf ihre Weise Freunde des Archivs. Foucault wollte gar in das Archiv auch die Aussageformationen hineingenommen wissen und verstand das Ensemble von Aussageformationen selbst bereits als Archiv. Ein Archiv versammelt als System also nicht einfach bloß Texte und Dokumente, aus denen heraus wir Wissen ziehen, sondern vielmehr fördert es oder hindert zuallererst die Bedingungen, unter denen wir bestimmte Aussagen formulieren oder eben nicht aussprechen können. Das Archiv ermöglicht zu einer bestimmten Epoche ein bestimmtes Sprechen und damit bestimmte Diskurse, und es schließt aus, was wir nicht sagen können:
„Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht. Aber das Archiv ist auch das, was bewirkt, daß all diese gesagten Dinge sich nicht bis ins Unendliche in einer amorphen Vielzahl anhäufen, sich auch nicht in eine bruchlose Linearität einschreiben und nicht allein schon bei zufälligen äußerlichen Umständen verschwinden; …“ (M. Foucault, Archäologie des Wissens)
Bis zu diesem Punkt sprang die Hälfte der Leser bereits ab. Wer aber hier noch am Ball blieb, wird nun mit einem feinen Tip und Hinweis belohnt. Ähnlich wie beim Begriff des Archivs mag es manchem gehen, wenn er den Titel „Zeitschrift für Ideengeschichte“ liest. Man denkt schweifend wieder ein wenig an Foucault, der ab dem Jahre 1970, als die Wellen des wilden Jahres 68 und das Gesicht im Sand verschwappten und unter dem Strand wieder das Pflaster zum Vorschein kam, auf den Lehrstuhl Geschichte der Denksysteme am Collège de France berufen wurde. Der wilden Praxis folgte die Arbeit der trockenen, öden Theorie. Mitnichten!
Die „Zeitschrift für Ideengeschichte“ wurde im Jahre 2006 gegründet, sie feiert also 10jähriges Jubiläum, 10. Jahrgang. Ein Anlaß zum Feiern – und ganz zu recht. Hatte die Gruppe „Poetik und Hermeneutik“ 1987 gediegen einem ihrer Tagungsbände noch den Titel „Das Fest“ gegeben, so hieß das letzte Heft des Jahres 2015 bei den Ideengeschichtlern verwegen „Die Party“, und passend zum Heftthema gab es zudem am 18. Februar im Literaturhaus Berlin ein Jubiläums- und Jubelfest. Überhaupt sind die Themen dieser vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift vielversprechend. Titel wie „Schändung“, „Spinoza“, „Kampfzone“, „Exil“, „Das Dorf“, „Wahrheit“, der etwas polemisch-böse Slogan „Kommissar Lukács“: Aber immerhin – dieser zu Unrecht in Vergessenheit geratene „Adorno des Ostens“ wurde einmal wieder genannt. Vielleicht, um sein Denken fruchbar zu machen. „Droge Theorie“, „Konservative Ästhetik“, „Abgrund“: Man öffnet jedes dieser Hefte wie eine kleine Wundertüte, das Preziosen und Trouvaillen zu ihren Gebieten bereithält. Spielzeug und Texte, die Assoziationen wecken und mir etwas zeigen, das ich so bisher nicht sah. Beim Lesen Neuland entdecken. Wie lebt es sich im Dorf? Heideggers Hütte, Feld-, Wald-, Wiesen- und Dorf-Ontologie. Und ausgehend von Robert Walsers Erzählungsband, erfahren wir etwas über Dorfgeschichten in der Literatur des 19. Jahrhundert oder lesen Ethnologisches aus Neuguinea und von der „Idiotie des Stadtlebens“.
Jedes der Hefte hält ein herrliches Sammelsurium, sprudelndes Wissen bereit – nicht nur für den interessierten Laien oder den Wissenschaftler, sondern für alle, die neugierig auf Welt sind. Wissen, das in den Archiven bewahrt liegt, das wir beim Ausgraben von Nebensächlichem oder von Schätzen nun aber finden. Und weil es nicht nur die Neugier gibt, heißt das aktuelle Heft dann, frei nach einem – freilich eher despektierlich gebrauchten – Wort von Nietzsche eben auch mal „Altgier“. Im Abstieg zum Alten und zum skurril Gesammelten, wie etwa das Museum der kleinen Dinge und der Tonscherben des Peter Rühmkorf, die er in seinem Arbeitszimmer in Hamburg-Övelgönne zusammentrug. Genau jenen Archiven und der Vergangenheit verschrieben, die uns durch eine überraschende Wendung oder einen literarischen Blick in neuem Licht gezeigt wird – etwa der in seiner Ästhetik geniale wie zugleich in seinen politischen Thesen zum Falkland-Krieg fragwürdige Karl Heinz Bohrer, der im aktuellen Heft literarisch-essayistisch von seiner Zeit im England der 60er, 70er wie auch der frühen 80er Jahre erzählt. Bohrer, der zum Fußball pilgert und vom Pop angetan ist, dem es im Journalismus und bei der FAZ zu eng wurde. Bohrer – ein Halbachtundsechziger. Mir zumindest hat diese Schreibweise Lust darauf gemacht, auch seine Biographie „Granatsplitter“ zu lesen. Denn Bohrer versteht zu schreiben.
Wir sind ganz wild darauf zu schauen, was im nächsten Heft kommt und möchten, sofern man nicht 2007 mit dem Sammeln anfing, ebenso erfahren, was in den alten Ausgaben geschrieben steht: Was ist nochmal Wahrheit, Baby? Was sind „Anfänger? Im „Party“-Heft erfahren wir zum Beispiel von einem fröhlich-wilden Faschings-Fest, das das Ehepaar Paul und Hannah Tillich unter dem Titel „Die Realdialektik“ im Jahre 1932 veranstalteten – den „Paulus unter den Juden“ nannten ihn die Teilnehmer dieses Denker-Kreises in Frankfurt-Niederrad spaßhaft, denn das Gros des Kreises waren jüdische Intellektuelle: Adorno, der bei Tillich Assistent war und seine Habilitation über Kierkegaard schrieb, Max und Maidon Horkheimer, Karl Mannheim, Walter Benjamin (gerüchteweise), Leo Löwenthal, Max Wertheimer. Aber auch Friedrich Pollock, Raoul Hausmann, Adornos Gefährtin Gretel Karplus und andere nahmen teil, tanzten, frönten Ausschweifungen, Alkohol und anderen Drogen. Selbst in der Partnerwahl und bei Freisprüngen nahm es mancher Gast nicht so genau, so hieß es, und ließ dem Untertitel der Feier „Durch Spruch und Widerspruch zur Einheit“ ein Fünkchen erotischer realitas angedeihen. Ein Jahr später war der schöne Zauber vorbei und den dialektischen Féerien folgte das Entsetzen, ein Spuk begann. Die Tillichs immigrierten zusammen mit Horkheimer und anderen in die USA. Kleine Nebengeschichten zur großen Weltgeschichte werden uns da präsentiert, die dennoch in den Details und in den unscheinbaren Aspekten eines Alltags von Intellektuellen den Blick für das Ganze uns öffnen. Als die Tillichs zusammen mit Freunden 1933 in New York Weihnachten unter dem Lichterbaum mit Kerzen feiern, die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium lesen und die schönen deutschen Weihnachtslieder singen, fließen bittere Tränen. Heimat hat mit Herkunft zu tun.
Weiterhin gibt es Photos von Feiern aus dem Hause des Suhrkampverlegers Siegfried Unseld zu sehen, die 60er und 70er Jahre: Habermas zusammen mit Luhmann auf einer Photographie, auf einer Couch hockend, wobei Habermas leicht angeschnitten aus dem rechten Bildrand herausfällt, Handke, Enzensberger, Raddatz, Johnson, Bloch – die alten Männer, die alte BRD, Handke noch jung und spackig, wie ein Jüngelchen ausschauend. (Während der Betreiber dieses Blogs in seinen jungen Jahren so wild und verwegen dreinblickte, dafür er dann im Alter, von der Last des Bloggens gezeichnet, immer unscheinbarer wurde, während Handke immer reifer und reifer aussah wie eine kurz vor dem Zerplatzen sich befindende Frucht mit Gesichtsfurche.)
Hans Bude schreibt eine „Soziologie der Party“. Das hartcoole Westberlin des Punk: neonhelle Babies und Blixa Bargeld: „Jeder Party ist eine Praxis von Behauptungen“. Nicht erst seit Felschs wunderbarem „Der lange Sommer der Theorie“ wissen oder ahnten wir immer schon, daß die Party die wahre Form der Philosophie ist – die Geburt der Philosophie: auch aus dem Geist des Symposions. Zumindest in ihren lichten, dionysischen Augenblicken: Zeit des Ereignisses, der stillgestellten Zeit, Zeit der Selbstdarsteller, wie der versunken Küssenden, der Labersäcke und der beharrlichen Erklärer. Mann erklärt Frau Welt. Mir waren immer die Frauen lieb, die dem Mann widersprachen und frech was entgegenhielten. Nicht das jammervolle Mansplaining anklagen und neben den 10 Geboten noch 130 weitere Moralregeln aufstellen, sondern Arsch hoch und selber was sagen. Auch die Party ist eine Weise des Ereignisses, vielleicht sogar im Lyotardschen Sinne, wie es für das Erhabene gilt: Geschieht es?
Die „Zeitschrift für Ideengeschichte“ ist ein großer Gewinn und ich rate jedem zu einem Abonnement. Sie erscheint im Verlag C.H. Beck und kostet im Jahr 48,- EUR. Die Hefte gibt es ebenso zum Einzelpreis von 14,00 EUR. Gerade diese Zeitschrift zeigt, wie sinnvoll es sein kann und wie klug man es veranstalten kann, bestimmte Themen zu bündeln und dabei doch auf eine digressive Weise zu behandeln. Vielfalt in Einheit.