Die Gespenster der Tele-Kommunikation. (Daß Schriftstücke und -sätze sich verlieren können, verwischen, verschlieren, vergehen oder einfach nur verschwinden.) Die Berührungen, von der Weite her, auf die Haut, die mit der Feder oder dem Skalpell geritzte Haut, die beschriebene Haut, Zauber- oder Gespensterszenen (F. Kafka), eine Kausalität, die aus der Ferne wirkt: „actio in distans“ wie Nietzsche in seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ schrieb, darin der Aphorismus lautet „Die Wirkung der Weiber aus der Ferne“.
„Dem Schiffe gleichend, welches mit seinen weißen Segeln wie ein ungeheurer Schmetterling über das dunkle Meer hinläuft! Ja! Über das Dasein hinlaufen! Das ist es! Das wäre es! – – Es scheint, der Lärm hier hat mich zum Phantasten gemacht? Aller große Lärm macht, daß wir das Glück in die Stille und Ferne setzen. Wenn ein Mann inmitten seines Lärms steht, inmitten seiner Brandung von Würfen und Entwürfen: da sieht er auch wohl stille zauberhafte Wesen an sich vorübergleiten, nach deren Glück und Zurückgezogenheit er sich sehnt – es sind die Frauen. Fast meint er, dort bei den Frauen wohne sein besseres Selbst: an diesen stillen Plätzen werde auch die lauteste Brandung zur Totenstille und das Leben selber zum Traume über das Leben. Jedoch! Jedoch! Mein edler Schwärmer, es gibt auch auf dem schönsten Segelschiffe so viel Geräusch und Lärm, und leider so viel kleinen erbärmlichen Lärm! Der Zauber und die mächtigste Wirkung der Frauen ist, um die Sprache der Philosophen zu reden, eine Wirkung in die Ferne, eine actio in distans: dazu gehört aber, zuerst und vor allem – Distanz!“ (F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft)
Über den Wassern zu gleiten, in Stille, in den Raum gesetzt, im Element, eleatisch, und das „Lied auf dem Wasser zu singen“, geschrieben von Graf Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg, vertont von Schubert. Dies wäre die Variante des Sturms und Drangs oder der deutschen Romantik, zu einer Zeit als sich die Brüche noch kaschierten (Allenfalls Hölderlin und Kleist ahnten oder wußten sogar vom Riß, der durch die Welt klafft.) Über das Dasein hinlaufen, gleitend, schwebend und die Schwerkraft aussetzend. Tänzerische Freigeisterei des protestantischen Pfarrsohnes. Jene „Verzückungsspitzen des Daseins“, die bei Nietzsche teils mit dem Dionysischen und aber in der Formung ebenso mit dem Apollinischen besetzt sind. (Dunkler Urgrund) Schleier und Segel und Tuch (voile, wie Derrida die Homophonie ausmachte): das ist: der Fetisch. Ein Stück Stoff, das zum Phantasieren und dann weiter zum Denken reizt. Hylemorphismus, der sich in unseren Phantasmen gestaltet. Phantasmagorie, Feerien und wie die Wahrheit ein Weib ist, das Gründe hat, seine Gründe nicht sehen zu lassen, so schrieb Nietzsche. Diesen Vorgang nennen wir: Verschleiern und Spiel der Schleier. Das Weibliche ist bei Nietzsche nicht bloß empirisch und auf der Ebene der Fakten zu lesen, sondern es ist Metapherntrieb. Für einen Begriff von Wahrheit, der die bloße adaequatio-Formel übersteigt. Ein Text, darin die Ausrufezeichen branden.
In den Handschriften, in den Postwürfen und in den Schüben des Denkens und Imaginierens distanziert sich im Prozeß der Zeit das Geschehen, löst sich in Schrift und Literatur auf, rinnt zum Bild oder zu kryptischen Zeilen – einem Leertext, der im Zug der Zeit unlesbar geworden sein wird. Futurum exactum.
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„Ein Brief war einzuwerfen oder zu zerreißen“
(W. Benjamin)
Aus den Tagebüchern Franz Kafkas, im Jahre 1913:
„13. August. Vielleicht ist nun alles zu Ende und mein gestriger Brief der letzte. Es wäre unbedingt das Richtige. Was ich leiden werde, was sie leiden wird – es ist nicht zu vergleichen mit dem gemeinsamen Leid, das entstehen würde. Ich werde mich langsam sammeln, sie wird heiraten, es ist der einzige Ausweg unter Lebendigen. Wir zwei können nicht für uns zwei einen Weg in einen Felsen schlagen, es ist genug, daß wir ein Jahr lang daran geweint und uns abgequält haben. Sie wird es aus meinen letzten Briefen einsehn. Wenn nicht, dann werde ich sie gewiß heiraten, denn ich bin zu schwach, ihrer Meinung über unser gemeinsames Glück zu widerstehn und außerstande, etwas, was sie für möglich hält, nicht zu verwirklichen, soweit es an mir liegt.
Gestern abend auf dem Belvedere unter den Sternen.
14. August. Es ist das Gegenteil eingetroffen. Es kamen drei Briefe. Dem letzten konnte ich nicht widerstehn. Ich habe sie lieb, soweit ich dessen fähig bin, aber die Liebe liegt zum Ersticken begraben unter Angst und Selbstvorwürfen. Folgerungen aus dem ‚Urteil‘ für meinen Fall. Ich verdanke die Geschichte auf Umwegen ihr. Georg geht aber an der Braut zugrunde.
Der Coitus als Bestrafung des Glückes des Beisammenseins. Möglichst asketisch leben, asketischer als ein Junggeselle, das ist die einzige Möglichkeit für mich, die Ehe zu ertragen. Aber sie?
Und trotz allem, wären wir, ich und F., vollständig gleichberechtigt, hätten wir gleiche Aussichten und Möglichkeiten, ich würde nicht heiraten. Aber diese Sackgasse, in die ich ihr Schicksal langsam geschoben habe, macht es mir zur unausweichlichen, wenn auch durchaus nicht etwa unübersehbaren Pflicht. Irgendein geheimes Gesetz der menschlichen Beziehungen wirkt hier.
19. Dezember. Brief von F. Schöner Morgen, Wärme im Blut.
20. Dezember. Kein Brief.“
Was für Szenarien von Nähe und unendlichem Aufschub! Existenz als Literatur? Die geschriebenen Briefe, die zu einem Text werden. Oder aber eine Nähe, die lebbar sein müßte. Die Haut ineinander, und Gleiten und Ausfluß von Sekret. (Auch Wasserhaftes, dieser Stoff.)
„Gestern abend auf dem Belvedere unter den Sternen.“ Anderswo. Entgleitend.