25 Jahre Internet: vorne Porno – hinten Adorno

Am 12.3.1989 tätigte Tim Berners-Lee am CERN (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire) Überlegungen zu einem verteilten Hypertext-Netz und expedierte dieses per Tathandlung in die Realität. Daraus wurde das World Wide Web (gemeinhin als WWW bezeichnet). Guter Gemeinplatz, oft wiederholt, selten durchdacht: Eine technische Revolution, wie sie nur mit der Schrift, dem Buchdruck, der Fotografie und damit korrespondierend mit dem Computer einherging. Unser Bild von Identität und von Daten- bzw. Schrift-Kommunikation änderte sich mit einem Schlag. Zwischen dem Aufdampfen von Briefen durch irgendeinen Geheimdienst dieser Welt und dem Abfangen von Daten im Raum des Digitalen, die offen wie eine Postkarte in der Hand des Briefträgers und seiner gesamten Postmannschaft liegen, stehen Welten: mithin ein qualitativer Sprung. Und es öffneten sich damit zugleich die Weiten und die Subtilitäten der digitalen Kommunikation.

Was hat uns das Internet gebracht? Alles: wir können lesen, versenden, bestellen, Bildchen gucken, Töne hören, interagieren, Texte oder Literatur schreiben, die sich über das Buch hinaus erweitert. Auf die wirklich innovativen Projekte, wo sich Netz und Buch verzahnen und sich ein neues Medium entwickelt, warten wir allerdings noch. Einen ersten Ansatz, die Schrift des Internets und die der Literatur zu verquicken, machte zum Ende der 90 Jahre der Schriftsteller Thomas Hettche mit seinem Projekt Null. Auch in dem Blogs von Alban Nikolai Herbsts „DschungelAnderswelt“  und bei Aléa Torik  kreuzten sich das Internet sowie die Literatur. Mit dem Erscheinen des Romans „Aléas Ich“ ging dieses wunderbare Spiel mit Autorenschaft und Identität leider zu Ende. Es war ein schönes, tief philosophisches Spiel, das am Ende aber, wie auch die Texte von Herbst am Bucher selber haften blieb, das weiterhin als Referenzmedium diente.

Bei dem Schriftsteller Alban Nikolai Herbst läuft diese Form von Schreiben im Internet auf eine besondere Form des Tagebuchs hinaus: Der Schriftsteller stellt sich – ob als fiktive oder reale Figur: das ist nicht immer auszumachen – der Öffentlichkeit aus, inszeniert sich als Schriftsteller und als Figur Alban Nikolai Herbst bis in die Details seines Alltags hinein, bis in die Verletzlichkeiten, die Eitelkeiten, die Größe, die Kleinteiligkeit eines Denkens samt der dazugehörenden Analyse, Vortragsankündigungen, Gedichte, Prosazeilen, Skizzen und Überlegungen, Notizen und „Geschichten aus der Produktion“: die Produktivkraft des Schriftstellers wird zur offenen Form, und jeder kann sofort und in Echtzeit mitlesen, wo die Gedanken gerade stehen und wie sie im Augenblick des Schreibens fließen, anders als bei den meist posthum herausgegebenen Aufzeichnungen und Notaten eines Schriftstellers, wo der Abstand zwischen Ereignis, Reflexion und der Lektüre in seiner Nachträglichkeit uneinholbar wird. Ob es die Lebenszeit zuläßt, ein solch intensives, ausuferndes, sich verschlingendes, rhizomartiges Projekt, wie Herbst es betreibt, beständig zu verfolgen, sei dahingestellt. Vieles der Beschreibungen ist eben auch schlichtweg langweilig zu nennen, gehört aber zum System, den Schriftsteller in jeder Regung zu zeigen. (Und in welchem Blog ist es nicht der Fall, daß es langweilige Passagen gibt? Der meinige eingeschlossen.)

Ebenso gibt das Internet dafür Raum, daß nun jedermann eine Buchkritik oder eine Ausstellungsbesprechung schreiben kann. Die meisten Blogs, die das machen, sind eher schlecht, ich lese denn doch lieber die FAZ oder in anderen einschlägigen Organen der von den Internethypern totgesagten Zeitungswelt nach. (Wenngleich auch dort mancher Kritiker dümpelt, der auf dem Niveau eines von Kulturwissenschaftlern betriebenen Literaturblogs seinen Text fabuliert.) Wer mir einen guten Literatur-Blog nennt, der mit guten Essays und Besprechungen aufwartet: ich bin da ganz Ohr.

Aber die Tücken und Weiten des Internets halten nicht nur die Literatur bereit und es tummeln sich darin nicht nur die mal mehr mal weniger literarisch inspirierten Blogs, sondern es gibt dort ebenso das Reich des Trivialen. Das Schöne an unseren kulturindustriell geprägten Zeiten: jeder wird bedient, für jeden ist etwas vorhanden. Und weil das ebenso die konservative Kulturkritik anzieht, so sind die digitalen Zonen zugleich ein selbstreferentielles System, das sich beständig im Akt einer Autopoiesis selber hervorbringt, indem es sich mit sich selber beschäftigt und sein eigenes Wirken zum Thema macht. So dieser Beitrag, so viele andere Blogs. Von dieser autopoietischen Struktur lebt dann zugleich ein ganzer Buchmarkt.

Was ist meine Devise für das Internet? Das ist schnell und klar formuliert: Ich bin ein Verfechter von Muschi-Content. Das meine ich nicht im Sinne all der Katzenblogger:innen, die das Netz bevölkern und viel Verkehr erzielen, was ja per se nicht schlecht ist, denn ich liebe den Verkehr, sondern im Bereich des Porno. Das Internet ermöglichte es mir zum einen, mich schreibend mit Theorie, Text und Kunst zu befassen und dies in einem beschränkten Bereich öffentlich zugänglich zu machen. Adorno, Hegel, Benjamin, Derrida: Essays zum Phantasma, zum Dandy, zum geglückten und vergänglichen Augenblick, zur Romantik, zur Dialektik und zum Rausch, und wie ich es mag, ohne System und ohne daß ich mich einem akademischen Zwang oder den Direktiven einer Zeitschrift beugen müßte, schreiben zu können.

Zum anderen bietet das Internet den einfachsten und vielfältigsten Zugang zur Pornographie. Es ist dies ein Rausch, und zugleich entleert sich im Strom der sexualisierten Bilder der Referent. Das sexualisierte Objekt, die gespreizte Vagina, die Brüste, kopulierende Menschen: sie entsexualisieren sich als bloßes Bild, als Repräsentation ohne Präsenz. Das macht für mich den größten Reiz aus. Leere Hüllen, käuflich, Warenform die bis in den Körper hineinreicht und diesen besetzt. Alles ist handhabbar und zugänglich. Jeder Fetisch und jedes Begehren finden ihren Ort, an dem sie sich austoben können. Freilich bringt dies auch einige Probleme mit sich. Angefangen bei sexueller Ausbeutung von Menschen.

Dennoch ist für die Lust im Internet vielfältig gesorgt. Zu keiner Zeit wurde es uns so leicht gemacht, das, was unser erotisches Plaisir ist, mit anderen zu teilen. Diesen Umstand grenzenloser Verfügbarkeit der Körper kann man als die äußerste Degeneration der Moderne fassen, so daß alles handhabbar und als Vorhandenes vorstellbar ist, aber es bedeutet dies zugleich eine Entgrenzung der Lust, wenn sich Menschen, die ähnlich denken und empfinden, über den Raum des Virtuellen hinaus treffen und ihr Begehren, ihre Wünsche und ihre Gedanken miteinander teilen.

Zudem gibt es in der Welt der Chats und der diversen Foren auf diversen Seiten eine Erotik des Textes. Kann Schreiben sexy sein? Im Internet gelingt dies sehr viel leichter als in der herkömmlichen Schreibweise des Briefes. Aber auch für dieses Schreiben im Internet will am Ende das passende Gegenüber gefunden sein, das darauf reagiert, wo ein Wort das andere findet und sich zwei Seelen, zwei Geister, zwei Körper im Rausch der Schrift sich ergänzen, erweitern. Und mit einem Male bemerken sie, daß sie sich gefunden haben. In den höchsten Augenblicken des Glücks treffen sich zwei solche Menschen in ihrer leiblichen Präsenz irgendwo in einem Café in Schöneberg, in Kreuzberg, im Prenzlauer Berg oder einfach im schlichten Steglitz und berühren sich – in all den Konnotationen dieses Begriffes. Das freilich ist selten. Aber es geschieht zuweilen durchaus. (Solche Momente werde ich demnächst in meiner „Poetik des Tabaks“ entfalten.)
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Als zärtlicher Ironiker formuliere ich es so: Muschi-Content und Adorno so lautet mein Fazit fürs Internet: Vorne Porno, hinten Adorno. Auf diese Weise lebt der Bewohner des Grandhotel Abgrund als ein heiterer Gast auf dieser Erde. Real und virtuell in einem.

2 Gedanken zu „25 Jahre Internet: vorne Porno – hinten Adorno

  1. Geht es nicht eigentlich darum, was für ein Internet wir haben wollen und wie wir es nutzen? Brauchen wir nicht ein Re­g­le­ment, das die Öffentlichkeit des „Gemeinguts Wissen“ gegen seine Privatisierung ebenso verteidigt wie die Privatssphäre der Kommunikation gegen staatliche Übergriffe? Pornographie – ebenso wie die erwähnte erotische Komponente – mögen sich sicherlich im „Rausch der Schrift ergänzen“, aber aus der Nase fließt kein Côtes du Rhône – und am Monitor kann man nicht riechen …

    Über diese „zweite digitale Phase“ schreibt sehr schön heute Felix Stalder in der „monde diplomatique“.

  2. Es ist richtig, daß es um die Frage geht, in welcher Welt des Digitalen wir leben wollen, mit anderen Worten, wie das Internet aussehen soll.

    „Gemeingut Wissen“ klingt zunächst sehr schön. Wenn jedoch Zeitungen im Internet Texte veröffentlichen, so ist das nicht für Umsonst zu haben. Ich bin hier strikt für Bezahlmodelle, sofern die Texte eine entsprechende Qualität aufweisen, was allerdings voraussetzt, daß die Menschen, die die Texte schreiben, für ihre Arbeit angemessen vergütet werden.

    Auf welcher Weise jemand sich sexuell erregt und welchen Fetisch sie oder er pflegen, sollte jedem selber überlassen bleiben, solange dafür keine Menschen mißbraucht und sexuell ausgebeutet werden. Die Welt des Internet bietet Möglichkeiten: ob jemand gerne lebensecht den Schoß einer Frau leckt oder lieber sich so Bildchen anschaut, bewerte ich nicht. Jeder nach seiner Facon. Verschiedene Foren für verschiedene Bedürfnisse und Wünsche bieten verschiedene Möglichkeiten.

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