Zum Jahresbeginn, als Auftakt für ein großes Lob der Acedia, die uns auch dieses Jahr wieder begleiten wird, gleichsam auch als Hommage an Hans Castorp, sei eine Stelle aus Monika Zeiners „Die Ordnung der Sterne über Como“ zitiert. Mit Hans Castorp bzw. dem „Zauberberg“ müßte dieser Blog im übrigen ebenfalls sich beschäftigen: 100 Jahre Erster Weltkrieg und das heißt: vor 100 Jahren zog Hans Castorp von seinem Zauberberg weg in die Schlachtfelder Flanderns oder der Champagne oder sonstwo hin.
Text-Passagen wie diese – als Reflexionseinschübe des Gelehrten Breitenbach ins Bild gebracht – sind natürlich genial und treffend, und sie hängen, wenn ich denn schon auf Hans Castorp verweise, sicherlich auch ein wenig mit der im „Zauberberg“ auftretenden Madame Chauchat (die wohl eher ein heißer Kater und keine heiße Katze ist) zusammen, die von Castorp begehrt wird, jene Frau vom guten Russentisch. Aber zurück zu Zeiner und der Rede des Gelehrten Breitenbachs:
„‚Der Liebende trägt in seinem Herzen das Bild der Geliebten, er nährt es Tag für Tag, er betet es an, er schmückt es in seiner Imagination aus, bis es vollkommen wird, gottähnlich, gleichzeitig verzehrt er sich vor Sehnsucht nach ihm, weil er es besitzt und doch nicht besitzen kann, er verzehrt sich nach einem einzigen Blick, er schläft nicht, er isst nicht, alles, was er tun kann, ist, an sie zu denken, seine Gedanken sind rotierende Spiralen, die ihn immer tiefer in sein eigenes Inneres hinein- und hinabziehen, ihn ins eigene Selbst, in den Tiefengrund des Ichs hinabreißen, und dann, eines Tages‘, Breitenbach änderte die Tonlage ins Sanftere, klimperte mit seinen Fingern in der Luft, steckte sie dann wieder in den Hosenbund, ‚wir sehen vor uns den Hof Kaiser Friedrichs II. von Sizilien, es ist ein Sonntag nach dem Kirchgang, hohe, von Sonnenschein durchflutete Frühlingsluft, ein Falke zieht seine einsamen Kreise, eine Kapelle von Spielleuten singt ein Lied, an diesem Morgen nun, nach wochenlangem warten, begegnet er ihr. Es ist die Frau aus Fleisch und Blut, das Modell seines phantasmas, wenn Sie so wollen. Sie spaziert an ihm vorüber, hautnah, er kann den Lufthauch spüren, den ihr Kleid im Vorüberwehen produziert, Brokat und Samt, es wogt schwer durch die milde Luft, ihr Kopf ist anmutig geneigt, ein Blick von ihr, ein Augenaufschlag, wäre die Erfüllung. Und er. Was macht er?‘ Breitenbach spreizte die Ellenbogenflügel und schien abheben zu wollen. Die Hörer saßen nach vorne gelehnt, hingen mit ihren Blicken an ihm, damit er es nicht tun konnte.
‚Nichts“, rief Breitenbach. „Er macht nichts! Er schlägt die Augen nieder. Er sieht sie nicht an. Er geht an ihr vorüber, ohne ihren Blick zu erwidern. Und warum?‘
‚Um sein inneres Bild nicht zu zerstören‘, sagte Tom
‚Sie sagen es‘, sagte Breitenbach.
‚Der Idiot‘, sagte Marc.
‚Nein!‘, Breitenbach schüttelte den Kopf, ‚es ist dies die Geburtsstunde der Phantasie, es ist dies die Vorwegnahme des Subjekts, es ist die die Befreiung des Denkens, im 13. Jahrhundert, denken Sie nur, im sogenannten tiefsten Mittelalter.‘“
Welch geniale Passage! (Sieht man einmal von den zahlreichen aufeinanderfolgenden „sagte“ und „sagen“ ab.) Verdichtung im Bild und Exzesse der Innerlichkeit als Geburt nicht nur des Subjekts, sondern zugleich der autonomen Kunst. Jegliche gesellschaftliche, ästhetische, stilistische Verfeinerung geschieht in dieser Struktur. Wer dazu nicht fähig ist, verbleibt am Ende im barbarischen Mittelalter seiner oder ihrer Unmittelbarkeit gefangen. Es ist jenes Phantasma, das das Subjekt erst als Bei-sich-Seiendes im Anderen möglich macht, und zugleich liegt darin die Gefahr objektloser Innerlichkeit oder der bitteren Acedia, wenn nicht ebenso die Strukturen der Bilderzeugung mitgedacht werden. (Wir denken nur an Dürers Stich „Melencholia II“.) Die Welt der Bilder und die des Realen gehen nicht immer kompatibel. Der griechische Bildhauer Pygmalion in Ovids „Metamorphosen“ versuchte diesen Gegensatz auf seine Weise zu bewältigen, indem er eine Statue ins Leben betete. Doch ist uns heute die Region der Götter und ihrer Wundertaten fern. Pygmalion ist nicht der Inbegriff des Künstlers, sondern am Ende dessen Gegenteil. Er betreibt nicht die Autonomie, sondern die Souveränität der Kunst. (Eines der Projekte der Avantgarden der Moderne: von den Surrealisten über die Situationistische Internationale bis hin zu Beuys oder dem Schreihals Meese.)
Welche Welt jeweils höher zu schätzen sei – die der Bilder und die des Realen –, läßt sich pauschal und generalisierend kaum sagen. Denn das hängt von den Umständen ab. Allerdings entsteht aus den Sublimierungen und den Bilderzeugungen (die immer Fixierungen sind) manches Mal gelungene Kunst, die das Wesentliche sagt, wenn auf gekonnte Weise dieser eine Augenblick, dieses nunc stans, diese Unendlichkeit in einem einzigen, einmaligen sowie unwiederholbarem Datum auf der Zeitachse, rückblickend vergegenwärtigt, in die Präsenz gebracht wird.
In diesem Sinne wünsche ich Leserinnen und Lesern einen feinen Auftakt ins Jahr 2014. Bewahren Sie sich die Acedia, und lernen sie, wie man tritt- und stilsicher eine Bewohnerin, ein Bewohner des Grandhotel Abgrund wird und sich dieses Ortes als würdig erweist. Oder besser: Lernen Sie es nicht, denn sonst würde es uns wenigen Bewohnern hier zu voll!
„Lernen Sie es nicht, denn sonst würde es uns wenigen Bewohnern hier zu voll!“
Ganz leer ist es am Abgrund nie und ein paar Sitzplätze würden sich schon noch füllen. Wer zu spät kommt, den bestraft der Stehplatz. Gedrängel am Abgrund ist allerdings lebensgefährlich…
Dank für den schönen Text und das aus einer vermeintlich leichten Perspektive heraus erfolgte Darstellen der Kunst und des inneren Erlebens derselben… ein still Liebender mit all seinem Phantasma ist in der Tat ein Künstler wie Hans Castorp – ein Phantast, dem das REALISIEREN seiner Vorstellungen schwer fällt, unmöglich ist. Solchermaßen gewürfelte Menschen sind eben nicht unmittelbare Hierundjetztgenießer, ebensowenig wie das Wunderkind in Manns gleichnamiger Erzählung, von dem die spitznäsige Klavielehrerin („…in den Jahren, da die Hoffnungen sich schlafen legen und der Verstand an Schärfe gewinnt.“) sagen wird: „Er ist wenig unmittelbar.“ – natürlich ist er es! Denn er ist ein Künstler und sie nur eine technische Verwalterin.
Gleichzeitig drückt der „wenig Unmittelbare“, der Künstler, das Wunderkind etwas aus, was das junge Mädchen („..das…sich in einem gespanntem Alter befindet, in welchem man sehr wohl auf delikate Gedanken verfallen kann…“) ganz UNMITTELBAR zur Leidenschaft führt. „Es ist ja die Leidenschaft, die er da spielt!“ wird sie sagen. Wie das? Der wenig Unmittelbare, der reine Phantast drückt die zur Vollendung strebende Leidenschaft, gar das reine Begehren aus? Aber genauso ist es.
In dieser feinen, kleinen Erzählung Thomas Manns wird gezeigt, wie der Künstler im Werk selbst schon die ihn antreibende Ambivalenz ausdrückt und wie dieses Werk der Ambivalenz auf ganz unterschiedliche Resonanzkörper trifft: Auf den ausgetrockneten, den leidenschaftlichen, den reflektierten…
Und zuletzt: Ohne dieses Wissen um die Ambivalenz gibt es keine Kunst, die über das unmittelbare Darstellen des Objektes hinausgeht!
Ohne dieses Wissen um die Ambivalenz gibt es keine Kunst: Sehr richtig. Die meisten aber denken unidirektional und kommen über die nächste Ecke nicht hinaus.
Ich hoffe, ich schaffe es, den Zauberberg nun zum vierten Mal zu lesen und vielleicht darüber etwas zu schreiben. Aber ich will mir nicht zu viel vornehmen.