Billardkönigin um halb zehn

Jene Frau, die mich irgendwann in einem Streit einmal einen Lackaffenblogger nannte, schrieb mir angesichts eines Textes über Dresden, den ich ihr schickte und den ich mit dem Titel „Billardkönig um halb zehn“ betitelte, daß diesen Text kein einziger Leser und keine Leserin verstehen würden. Alles verkopft und zudem wirr durcheinander gewirbelt, so daß am Ende kein Mensch mehr begreift, wer eigentlich beim Billard gewonnen habe und was dieser Text überhaupt solle. Diese Frau hat ohne Zweifel mehr als recht, nicht nur in diesen Dingen (was ich ihr gegenüber niemals zugeben würde). Zudem wird mein nächster Text zu Wols ihre Einschätzung beweisen, ein Text, in dem sich die Ebenen mischen und verirren. (Er kommt am Sonntag in den Blog.) Alles ist nicht erleuchtet, sondern alles geht durcheinander. Kein Strom des Bewußtseins fließt, mäandert und treibt wie Faulkners wunderbarer Ol’ Man River mal sanft, mal wild dahin oder die Ketten einer hemmungslosen surrealen Assoziation, aus der alles, was nur mit Sinn versehen ist, ausgeschieden wird. Am Ende bliebe dann das Unbewußte als jener unaufhebbare Rest.

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Der Aufstand gegen die Zeit, die Rebellion gegen ihr Vergehen: Diese Auflehnung ist in Prosa, in Lyrik oder überhaupt in der Kunst gut in ein Bild, in eine Anordnung zu bringen. Manchmal auch fixiert diese Auflehnung sich in einer Photographie. Die Achse Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft prägt das Denken des Melancholikers. Die Melancholie ist das Leiden am Vergehen der Zeit: daß es nicht möglich ist, die Zeit angemessen zu denken, geschweige denn zu halten und dabei zu intensivieren: sei es in Bildern, in Prosa oder Tönen. Franz Kafka schrieb in seiner Prosa-Miniatur „Das nächste Dorf“:

„Mein Großvater pflegte zu sagen: ‚Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in der Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, daß ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß – von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen – schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.‘“

„Ein schööööner Tag …“ intonierte der breitschultrige Mann mit dem angegrauten Henriquatre-Bart fröhlich und bestimmt. Er haute die Spielkarten nacheinander auf den Holztisch, eins, zwei, drei, vier und noch eine fünfte Karte dazugehobelt. Er lachte. Die beiden anderen Männer schwiegen. Breitschultrig in seiner Lederweste und dem Holzfällerhemd orderte er ein weiteres Bier für die Skat-Runde und bestellte einen Brotkorb nach. Die vielfältig tätowierten Unterarme lagen ausgebreitet auf dem Tisch, der massive Kopf mit der Glatze schnellte hoch zur Kellnerin, als sie den Korb wegnahm: „Nee, nee, der bleibt hier! Nicht nur immer nehmen, auch mal geben!“ Die Kellnerin stellte den Brotkorb zurück. „Aber die hat es doch nur gut gemeint!“, beschwichtigte der Mann mit der Lederjacke, der gegenüber saß.

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Drei kräftig gebaute Männer, wohl Anfang vierzig, sitzen um den Kneipentisch in einer der Lokalitäten der Dresdener Neustadt herum, verzehren Brot und trinken Bier, dazu stehen, neben ihren drei Biergläsernen, drei Schnäpse. Ihr Skatkartenspiel ist vom Spielblatt altertümlich gemacht, spezielle, geschnörkelte Formen, die mir unbekannt sind, ranken auf dem Blatt. Wir sitzen neben ihnen, wir trinken Wein. Während es draußen ununterbrochen regnet. Dicht, grau, dunkel. Meine Augen ruhen auf ihrem Gesicht, ihre blau-grünen Augen betrachten mein Gesicht. Auf keiner der Photographien wird sie so schauen, wie sie jetzt gerade in diesem Augenblick schaut und blickt. Nicht nur, weil sich ihr Blick, wenn das Auge der Kamera sich auf sie richtet, verschließt, sondern auch deshalb, weil bestimmte Momente durch nichts zu fixieren sind. Es reichen die Worte und die Bilder nicht hin.

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Die Kugeln auf dem Billard mußten nur aufgebaut werden, in der richtigen Anordnung, die war nicht schwierig zu finden. Es erfolgte der Anstoß, und nachdem die Frau die Kugeln durch einen mehr oder weniger gezielten Stoß durcheinander wirbelte, ohne daß eine der vollen oder der halben Kugeln ins Loch sich bewegte, ging es daran, nun einzeln die Kugel einzulochen, die sich in der günstigsten Position befand. Die Stadt Dresden, die Lichter der Nacht in der Neustadt, der Regen, der Wein, eine Photographie-Ausstellung im Kupferstichkabinett reihen sich in der Zeit. Der Gang über die Augustusbrücke hin zur Neustadt. Der Queue lag mir leicht zwischen Daumen und Zeigefinger, ich bewegte ihn, spielte über Bande an, die Kugel schoß oder schob, so wie ich es wollte, berührte die Bande erneut und stieß dann auf die drei. So spielt zwar nicht die Profis, aber doch die, welche ein wenig zumindest dieses Kugelspiel beherrschen, während es ihr lediglich gelang, mit einem Stoß, den ich treffend als unkontrollierten Megastoß oder als hyperbolischen Schlag, vielleicht sogar parabolischen Überwurf bezeichnete, die weiße Kugel aus dem Feld zu hebeln. Das kostete einen Martini auf Eis. Vier Spiele absolvierten wir. Davon drei Gewinne für mich, und das eine Spiel verlor ich lediglich aus dem Grunde, weil es durch unglückliche Fügung außergewöhnlicher Umstände die schwarze Kugel ins falsche Loch verschlug.

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Nachdem ich dies aufgeschrieben hatte, fiel mir ein, daß es genau andersherum sich zutrug. Während der Blogbetreiber nicht eine einzige Kugel, die nicht mindestens drei Zentimeter vorm Loch lag, dort hineinbekam, stieß die Frau doch relativ gekonnt und gelassen, die Kugeln an ihre Zielorte, sogar zum Ende hin die schwarze Kugel, die 8, gelangte in das Loch, das vorgesehen war und wo sie ihren letzten und richtigen Ort fand, um ein Spiel siegreich zum Ende zu führen.

In die Nacht hinein schlenderten wir über die Marienbrücke. Der Regen hatte endlich aufgehört. Oder wir bemerkten nicht, daß es immer noch regnete. Den Schirm mit Raffael da Urbinos Engel auf dem Stoff, den ich im Kupferstichkabinett notgedrungen und unter dem Spott der Frau kaufte, benötigten wir nicht mehr, um uns zu schützen. Auf der Brücke verweilten wir lange, ohne den etwas entfernteren und nun doch eher oberseitig liegenden Canaletto-Blick groß zu würdigen, denn die Nächte sind manchmal zu intensiv, um immerzu der Kunst zu huldigen.

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