Das Vorspiel und im weiteren Zug die gesamte Oper erfolgen als ein Akt der Literarisierung und der Bild-Imagination. Romantik erweist sich als (bürgerliches) Phantasma. Zumindest in einem Teil dieses Vorgangs, der sich als romantische Oper bezeichnet. Es entwickelt sich in dieser Darbietung ein seltsames Spiel zwischen saturierter Bürgerlichkeit und dem Mythos. Bilder in Bildern, so stellt sich der „Fliegende Holländer“ in Philipp Stölzls zweiter Operninszenierung in der Staatsoper Berlin dar. Das Vorspiel schmettert kraftvoll dahin, und die junge Frau Senta kommt mit dem Kronleuchter in der Hand in einen Raum hineingeschlichen, der eine Mischung aus großbürgerlichem Salon und einer viktorianisch anmutenden Bibliothek darstellt. Sie steigt ins Regal hinein und nimmt eines der Bücher heraus. Heimlich und hingestreckt in einer großbürgerlichen Wohnzimmerbibliothek des 19 Jahrhunderts, wie sie sich in tausenden Haushalten derer, die vermögend sind, befindet, liegt die junge Frau, räkelt sich halb lasziv und blättert lustvoll in dem Buch – inmitten der Bibliothek liest sie im Halbdunkel verstohlen, kriecht unter den Tisch, drückt sich an den Sessel, und im Hintergrund hängt ein überdimensioniertes Gemälde von Meer, Felsen und Klippen: seewärts. Aus dem Buch, aus der Phantasie der Senta steigt sozusagen die Geschichte vom ewigen Seefahrer, von Erlösung und Tod samt einem Jenseits von bürgerlicher Ehe auf.
Stölzl eröffnet den „Fliegenden Holländer nicht als klassisches Seestück mit Schiff und Matrosen, sondern es durchdringen sich in seiner Inszenierung die bürgerliche Welt des 19. Jahrhundert und der Mythos vom verfluchten Seemann samt die rauer See. Nachdem das Vorspiel endet, schiebt sich das düster-romantische Bild in dem Salon beiseite und zum Vorschein kommen die gestrandeten Seefahrer, denen der Wind nicht hold war, und die plötzlich dem Holländer begegnen, während der Steuermann nicht die Wacht hielt – jenem von Satan zum ewigen Umhertreiben verfluchten Seefahrer, der sich zu viel anmaßte und zur Strafe nur alle sieben Jahre an Land darf, um sein Erlösungsglück zu versuchen, ein Mädchen zu freien, das ihm treu bis in den Tod ist, denn das schönste am Wesen des Weibes sei – bekanntlich – die Treue. Sterben darf der Seemann nur, wenn er diese Frau, die bereit ist, sich bis zur Selbstauslöschung hinzugeben, findet.
Senta liest diese Geschichte vom unerlösten Seemann, imaginiert, und da ist dieser Holländer: Kraftvoll und doch bedürftig. Er steigt in die Welt des bürgerlichen Salons hinein, und beziehungsreich zerschlägt er im Gesang den in der Bibliothek plazierten Globus. Aber es ist nicht der Holländer, der diese Welt in Trümmer legt, sondern die Phantasie Sentas destruiert den Habitus der bürgerlichen Ordnung.
Sie träumt sich fort, entzieht sich ihrer bürgerlichen Welt, teils als verwöhnte Göre, wenn ihre Amme sie im zweiten Aufzug zur Arbeit zwingen will, teils als eine, die ahnt, welches Schicksal für sie als Frau vorbereitet ist. Es besteht der Chor der Frauen nicht mehr aus Spinnerinnen, sondern als Dienstmädchen ausstaffiert treten die Frauen auf. Mit Staubwedeln soll das bürgerliche Interieur, soll die gute Stube gereinigt werden. Doch alles Imaginieren Sentas nützt nichts, denn es kehrt nach langer Fahrt der Vater mit einem Bräutigam zurück, der sich die Tochter für Schätze und Geld erbat. Aber wer da in die bürgerliche Stube eintritt, ist keinesfalls der schmissige, erlösungsbedürftige Holländer, ein verwegener Geselle, ein kraftvoller Mann in Seemannsmontur aus düsterem Öltuch (gesungen von Michael Volle), sondern ein Halbtoter, ein schon im Leben erstarrter Leichnam, der bürgerlichen Welt entsprungen, in einem feinen Regenmantel wird Senta als Mann aufgezwungen. Diese Aufspaltung der Figuren und der Szene, die Stölzl in seiner Inszenierung vornimmt, ist dem bürgerlichen Charakter dieser „romantischen Oper“ angemessen: einmal im Vordergrund des großbürgerlichen Salons der untote Bürger als Ehemann in spe, dazu eine halbohnmächtige Senta, schreckensbleich, und im Hintergrund, dort wo sich das Gemälde zur Seite schob, der kraftvolle mythische, verwegene Holländer, der wiederum in einem Salon steht, der dem ersten Salon zum Verwechseln ähnelt, und eine Senta, die ganz Mädchen in ihren Träumen und ihrer wild-verwegenen, ausbrechenden Phantasien ist. Zweimal Senta, zweimal Holländer, zweimal der Salon, so geht die Formel. Doch am Ende addiert sich in dieser Welt des 19. Jahrhunderts, die über den Tauschwert funktioniert – Schätze gegen Braut, Braut gegen Erlösung vom ewigen Umhertreiben, Erlösung gegen Leben – nichts. Es bleibt der Tod. Senta, ihrer Bilder und ihrer Phantasien beraubt, nimmt sich im bürgerlichen Salon das Leben, und zwar in der Weise, daß sie sich selbst tötet. In einer ihrer letzten Phantasien fallen die untoten Seemänner des Holländers über die bürgerliche Hochzeitsgesellschaft her und strecken alles nieder, was lebt: und ein Schiff mit acht Segeln und fünfzig Kanonen an Bord – nur daß es sich bei der kleinen Senta nicht um ein Spülmädchen handelt. Aber Frau bleibt Frau – über die Klassengrenzen hinweg.
Vielfach zitiert die in ihrem Konzept gelungene Inszenierung die Epoche des 19. Jahrhunderts an: sei es, wenn im Hintergrundbild des Seestücks mit Matrosen und Holländer das Gemälde von C. D. Friedrich „Gestrandete Hoffnung“ hängt, ein Seestück im Seestück sozusagen, sei es über das düster-romantische Naturbild im Salon, den Globus, die Folianten, die schweren Möbel, im Habitus von Vater und der Hochzeitsgesellschaft. Und immer wieder verweist Stölzl auf das Moment des Mythos als Erzählung und Inszenierung innerhalb des bürgerlichen Interieurs.
Es ist das ziellos irrende Schiff samt dem unerlösten, verfluchten Seemann, die die Phantasie beflügeln. Als Geschichte und Mythos älter als die bürgerliche Welt. Daß es sich hierbei um einen Mythos von der Erlösung eines Mannes durch das Weib handelt, den Männer ausformulierten, bildet neben den Aspekten des Phantasmas einen zweiten Problemkreis Solche Mythen der Erlösung des Mannes durch die Frau strukturieren eine bestimmte Weise des Denkens, so auch im Bild vom Fliegenden Holländer. Verwunderlich an diesem Erlösungsmotiv, das (nicht nur) Wagner entfaltet, bleibt der Stellenwert, den die Frau in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhundert besitzt. Nach der Erlösung verfällt die Frau in der Regel dem Tod und wenn nicht das, so verschwindet sie, falls nicht in einer Wand oder einer Kammer, dann doch in der Unsichtbarkeit des bürgerlichen Oikos. Die weibliche Leiche. Aber ich liebe sie: diese weiblichen Leichen – Orpheus betreibt Thanatosforschung, wie ich an dieser Stelle schrieb.
Philipp Stölzl lieferte, was die Bildsprache der Oper betrifft, eine in sich stimmige, großartige Inszenierung – großartig deshalb, weil er Wagner über sich selbst aufklärt und auf den Punkt bringt. Wagner, der reinrasselige Romantiker; die romantische Oper und die romantische Erlösung bilden in ihrer Durchdringung die bürgerliche Farce. Wunderbar auskomponiert und als Szene angeordnet, als die untoten Matrosen über die widerliche, besoffen grölende Hochzeitsgesellschaft herfallen, aus dem Gemälde heraus in den Salon springen, die Bürger und Halbbürger ins Gemälde hineinziehen und: metzeln. Was aber als letzte Gewalttat und als Szene zurückbleibt, ist die tote Senta, aus der das Blut austritt.
ohne auf die Inhalte eingehen zu vermögen, finde ich den Text sehr gelungen. Unwissenheit, was Musik betrifft, vortäuschend, gewinnt, was Sie schreiben, selbst eine musikalische Qualität. Offenbar hat jener Opernbesuch sich ausgewirkt auf Ihre Sprachrhythmik – Glückwunsch!
Oper ist insofern komplexer als ein Konzert, weil es auch um die Visualierungen geht. Zu diesen kann ich qua Ausbildung und Arbeit einiges beitragen. Der Stoff, den der Regisseur interpretiert, wird in bestimmte Bilder übersetzt, deren Stimmigkeit, deren Kraft, deren Komposition die ästhetische Kritik aufgreift und in einen Kommentar und in eine Lektüre bringt.
Eine Kritik über eine Mahler-Symphonie würde ich nicht verfassen.
Interessante Kritik, die mich beinah geneigt macht, jetzt doch wieder mal Wagner zu hören und zu sehen, nachdem ich seiner >>> seit dieser Inszenierung geradezu elend überdrüssig wurde.
Nur eine Bemerkung zu einer Ihrer Aussagen:Nach der Erlösung verfällt die Frau in der Regel dem Tod. Das, in der Tat, ist nicht nur ein patriarchales, sondern insgesamt christlich-jüdisches Motiv; auch der „erlöste Mann“ geht dahin (und wartet dann auf die Auferstehung). Das Christentum denkt – wie andere Religionen ähnlich – Erlösung fast imer als etwas, das erst mit dem und nach dem Tod geschieht; damit verbunden ist der „Gedanke“ der Prüfung. Welche politische Funktion so etwas hat, kann man u.a. bei Marx nachlesen, und welche psychologisch-moralische, zugespitzt bei Nietzsche.
Übrigens ist auch der Mann, der durch eine Frau erlöst wird, ein stehender Topos, allerdings „pagan“.
Was die musikalische Darbietung betrifft, so kann ich dazu nicht viel schreiben, weil ich mich in der Musik nicht gut auskenne. Die Inszenierung, also das Moment der Visualisierung, scheint mir aber bei Stölzl im großen und ganzen gelungen. Seine Idee, ein Bild innerhalb eines Bildes zu erzeugen, kam an keiner Stelle aufdringlich oder gewollt bei mir an.
Daß Sie in diesem Zusammenhang Marx und Nietzsche nennen, gefällt mir, denn beide bilden die zwei Seiten ein und derselben Medaille: sie beleuchten die Ebene der Strukturierung von zwei unterschiedlichen und doch zusammengehörenden Perspektiven; Marx als auch Nietzsche reflektieren in ihrer Weise auf die Bedingungen eines solchen Motivs. Bei aller Differenz, die zwischen beiden besteht, empfand ich es immer als unangemessen, wenn man sie in eine Front-Stellung brachte, so daß das eine das andere apodiktisch ausschloß. Was das christlich-jüdische Motiv betrifft, so sehe ich das ähnlich. Meine Kritik der Oper hat dieses patriarchale Moment sicherlich überspitzt. Wesentlich bei Stölzls Interpretation des Holländers scheint mir der Blick auf die bürgerliche Gesellschaft zu sein. Das Dargestellte wird nicht in die Vorzeit eines 15. Oder 16. Jhds verlagert, sondern spielt eben im 19. Jhd.
Was mich im Zusammenhang des Erlösungstodes und vor allem des Opfers interessiert, ist jener Erlösungskatalysator als Opfer, der dann selber nicht mehr auftaucht, sondern, insofern es eine Frau ist die sich hingibt, entweder im Tod oder in der bürgerlichen Ehe entschwindet und unsichtbar wird. Nun kann der Betrachter auf der Ebene des Faktischen sagen: Senta ist tot, sie brachte sich als Opfer, sie ist nicht mehr da, gab sich für den Holländer oder aber: sie entzog sich der bürgerlichen Ehe. Um dieses Nicht-mehr-da im Zusammenhang mit dem Opfermotiv freilich geht es mir. Und zwar vornehmlich im Modus der Kunst selbst, weshalb Inszenierungen von Opern und Theaterstücken (im Sinne dieser Ästhetik, die auf diese Bedingungen ihren Blick richtet) so bedeutsam sind: Sie können vom Regisseur fortgeschrieben werden. Bei einem Roman oder einem Bild ist das nicht möglich. Ich kann nicht im selben Gemälde weitermalen, sondern muß ein neues machen. Sicherlich bestünde die Möglichkeit Übermalungen auf Reproduktionen anzufertigen. Aber das bedeutet eine ganz andere Weise der Transformation. In einer Faust-Inszenierung jedoch: Da kann ich es so darstellen, daß Gretchen nicht gerettet, sondern gerichtet wird. Ein guter Regisseur kann ein Stück bis in seine kleinsten Bestandteile zu zerlegen. Dieser Umstand ziselierter Dekonstruktion macht Oper und Theater als ästhetisches Spiel so interessant. Ich bleibe im selben Medium, im selben Text und kann doch übersetzen.
Zur Interpretation als Theater:
Prinzipiell kann ich das mit jeder anderen Kunstform auch; denken Sie an die ständigen Wiederbearbeitungen antiker Mythen, sei es in der Bildenden Kunst, die sich dabei ebenfalls deutlich auf vorgängige Bildende Kunst bezieht – ein naheliegendes Beispiel ist Dalí -, sei es im Roman – der augenfälligste, weil selbst nie-Lesern geläufige Vertreter ist sicher Joyce mit seinem Ulysses, aber besonders in der klassischen Moderne Th. Mann sowohl mit dem Doktor Faustus als auch den Josephs-Romanen. Lediglich die Aufforderung durch einen,. sagen wir, Roman, sein Thema abermals neu zu gestalten, ist nicht so deutlich. Ein weiteres Problem ist, daß Sie, am Beispiel Wagners extrem gut zu zeigen, auf dem „Markennamen“ Wagner ziemlich gut auch dann dahinreiten können, wenn das schließlich Gezeigte mit Wagner-selbst nicht mehr viel zu tun hat; das Regietheater hat – zugleich mit großartigen Freiheiten – sich das oft schrecklich zunutze gemacht. Man geht in ein Stück von Hebbel, das aber eins von Castorf ist – im Sprechtheater problematischer als in der Oper, weil von ihr immerhin (meist) noch die Musik bleibt. Darum werden unter Zuschauern und Kritikern über die jeweiligen Interpretationen oft ganze Streitgetümmel ausgefochten, während die Interpretation eines Romans oft nur im Kopf der Leser:innen stattfindet und dort auch bleibt; „Kritik“ ist ziemlich oft nichts als die mehr oder minder umklausulierte, bzw. verstellte Darstellung eigener Geschmäcker, wozu auch moralische Prägungen gehören, die man weitergeben will. Aber gerade der Roman wartet immer wieder mit Neu- und Uminterpretierungen von Topoi auf; denken Sie an Christa Wolfs Kassandra. Was die Interpretation der Oper anbelangt, ist es interessant, nur einmal die vom Autor vorgegebenen Regieanweisungen mit dem zu vergleichen, was auf der Bühne gezeigt wird. Es ist eine wirkliche Frage, ob eine Regieanweisung zur Partitur gehört oder nicht; aber man kann auch – und das ist gängige Praxis – ganze Musikteile streichen, und das Gezeigte und Gehörte bekommt einen anderen Charakter. Insofern ist es für die Kritiker sinnvoll, wenn sie auch mal hineinschauen in die Partitur. Wobei ich alles andere als ein Vertreter des „Authentischen“ bin; es ist sehr oft objektiv nötig, etwas zu streichen, wenn ich den Geist eines Kunstwerks für die Gegenwart erfassen will – schlichtweg deshalb, weil sich die Wahrnehmungsverhältnisse der Rezipienten mit den Jahrzenten, die unterdessen nicht selten Jahrhunderte sind, grundsätzlich geändert haben. Doch bleibt dies alles immer, prinzipiell, im Ungefähren des Meinens, eine Frage der persönlichen künstlerischen Einschätzung. Etwa keiner, der Max Ernsts „Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind“ sah- >>>> hier im Vergleich zu Schnorr von Carolsfeld -, wird noch auf zum Beispiel mittelalterliche Malerei so gucken können, wie ein mittelalterlicher Maler das wahrscheinlich wollte.
Man kann jedenfalls, was Sie allein dem Theater zuschreiben, auch anderswo erleben; denken Sie in der Popularliteratur an die Weiterschreibungen von Stokers Dracula, da ist das gerade inflationär geworden; aber die Rezeption kostet mehr Zeitaufwand, was dem Umstand entspricht, daß auch, den Roman zu schreiben, in aller Regel sehr viel mehr Zeit braucht, als ein Theaterstück zu inszenieren. Heikler, nämlich eigentlich musikalisch wird es, wo Romane, aber auch Gedichte sich auf vorgegangene, von berühmten Vorfahren perfektionierte Formen, bzw. Rhythmen beziehen und diese variieren. Das ist oft nur detaillierten Kennern erkennbar. Getan aber wird es. Nicht wenige Romane sind wieder- und wieder- und wiederInszenierungen eines ständigen Themas.
Diese Antwort ist nun doch länger geworden als mancher Blogtext, doch egal:
Ja, das ist alles richtig, was Sie zur Wiederinszenierung, zur Wieder- und Neubelebung eines alten Themas, eines antiken Mythos, eines Stoffes schreiben. Das läßt sich über verschiedene Werk bis ins Detail eines Gedichtes zurückverfolgen. Wer eines von Celan liest, der hört eben auch den Text Rilkes und vor allem Hölderlins heraus (siehe z.B. „Tübingen Jänner“). Es gibt Romane, Bilder, Filme, die beziehen sich auf andre Romane, Bilder und Filme. Es gibt Stoffe und Motive, Figuren der Mythologie, die werden variiert, weitergeschrieben, weiterentwickelt, übermalt; und auch der Goethische Faust ist bereits eine solche Variation, eine Umschrift, und Max Ernst ist von seinem ganzen Werk her ein gewitzter und kluger Übermaler – man denke an seine Collagen. Diesen Umstand, der zwischen Zitat, Umschrift und Weiterbelebung sich bewegt, mag der Begriff der Selbstreferentialität beschreiben. Ebenso lebt die Populärkultur, der Pop davon. Das geht bis in banalste Momente, wenn Grace Jones Lady Gaga beschuldigt, bloß eine Kopie ihres Looks aus den 70er Jahren zu sein – mit anderen Worten: sie imitiert zu haben. Ich würde, wenn diese Meldung so denn stimmt, sagen, daß Jones im allgemeinen das Wesen des Pop und im speziellen die Figur Lady Gaga nicht ganz begriffen hat.
Alles diese Wiederinszenierungen, Reaktualisierungen und Umpolungen geschehen in der Kunst häufig. [Zumal es keine creatio ex nihilo gibt.] Wobei ich große Teile des Pop nur bedingt bis gar nicht zur Kunst rechne.
Sie schreiben: „Heikler, nämlich eigentlich musikalisch wird es, wo Romane, aber auch Gedichte sich auf vorgegangene, von berühmten Vorfahren perfektionierte Formen, bzw. Rhythmen beziehen und diese variieren.“ An diesem Punkt widersprechen wir uns nicht. Und daß dafür (meist) eine ganz andere Zeit der Arbeit aufgewendet werden muß, als bei einer Inszenierung oder wenn ich ein Bild male, das sehe ich ebenso. Aber all dies war nicht der Punkt, worauf ich hinauswollte.
Mir ging es darum, im selben Medium zu verbleiben. Also den selben Text zu verwenden, dieselbe Partitur und das selbe Libretto zu benutzen. Das machen Goethe im „Faust“ oder Th. Mann im „Faustus“ ja gerade nicht. Weil es nicht geht. Es wäre dann derselbe Text, den sie abschreiben müßten, also eine Kopie – wobei Borges in seinem Text zum Don Quichote ja genau diese Frage nach absoluter Kopie und dem Originaltext stellt. Die Reaktualisierung arbeitet beim Roman und im Gedicht anders. Literatur ist eine Umschrift, die einen Text nimmt und ihn anders schreibt, umpolt, eine neue Gestalt gibt, und damit auch die Sicht auf den übermalten und benutzten Text verändern kann – dies liegt in der Natur dieses Mediums, und das ist ohne jede Wertung gemeint. (Das gilt allerdings für alle Künste, auch fürs Theater.) Es ging mir darum, verschiedene Verfahrensweisen unterschiedlicher Kunstformen herauszuarbeiten. Innerhalb der Partitur oder des Textes zu bleiben, diesen Text genau so wie er ist (selbst mit einigen Streichungen) zu verwenden. Deshalb mein Verweis aufs Theater und die Oper, der freilich nicht als eine Hierarchisierung gemeint ist. Nichts liegt mir ferner, als Künste nun gegeneinander ausspielen zu wollen. Die Zeitalter der Kunst-Hierarchien, wie sie pars pro toto Schopenhauer oder Hegel in je unterschiedlicher Weise betrieben, sind – zum Glück – vorbei. Allerdings bleibt immer noch die Frage, welche der Künste sich für welche Ausdrucksweise am besten eignet: Nur in der Oper kann ich über das Phänomen von Gesang und Stimme zwei oder mehrere Texte übereinander legen. Im Theater ergäbe das (in der Regel) ein Kauderwelsch. Im Gedicht wiederrum geht dieses Ineinanderverschränken, vermittels Einschüben etwa, anders. Aber es bleibt dabei: lesen kann ich es nur nacheinander, gleiches gilt für experimentelle Romane wie z.B. Mark Z. Danielewskis „Only Revolution“. Am Ende bin ich doch nur dabei, das Buch hin und her zu drehen und in den Spalten zu springen. Es in einer Lesung dann übereinanderzulagern und in eins zu lesen, ergäbe wieder einen anderen Effekt.
Auch Wagners Holländer ist ja die Variation eines bestimmten Motivs, das von Camões „Die Lusiaden“ bis zu Kafkas „Jäger Gracchus“ reicht. Ebenso borgte Wagner bei Heine. (Und man kann, wenn man mag, in Wagners Holländer ebenfalls den ewigen Juden mitlesen) Ich schätze, nebenbei geschrieben, solche Verweise und Umschriften sehr. Schriebe ich Romane, so wäre (unter anderem) Daphne und Apollon meine Geschichte, die ich schriebe und umschriebe. Seit ihrem Anblick in der Villa Borghese in jugendlichen Jahren. Die Transformation von Skulptur in Text.
Was nun die Namen betrifft, so reiten wir in unseren Kritiken, Umschriften und Inszenierungen immer auf einem Namen daher, der als eine Art von Marke oder ticket to ride fungiert. Worum es bei diesem Ritt, der mal eine Torturritt, dann wieder ein sanfter Trab sein kann, geht, ist, ob das, was da präsentiert wird, funktioniert und ob es – sei’s als Werkkritik, sei es als Inszenierung – ästhetisch stimmig umgesetzt wird. Philipp Stölzl ist dies in seinem Blick auf Wagners „Holländer“ gelungen: Er hat Wagner – auch in seiner Bürgerlichkeit – beim Wort genommen und die Schichten des Dramas freigelegt, die auf die bürgerliche Welt verweisen – über den Mythos hinaus. Wie Wagner es gemeint hat: Das werden wir wohl nicht mehr erfahren, zumal es im Theater nie einen Urtext gibt, sondern nur dessen Lektüren, Interpretationen, Sichtungen. (Musik und Partituren nehme ich mal aus. Ich kenne mich in diesem Bereich zu wenig aus und äußere mich deshalb, wie ich es in diesem Blog mehrfach schrieb, nicht dazu. Aber Wagner schrieb schließlich keine Symphonie, sondern eine Oper.)
Um noch einen weiteren Aspekt aufzugreifen, um das Faszinierende dieses Mediums Theater/Oper zu zeigen: Aus einem schlechten Theatertext läßt sich mühelos ein gutes Stück machen. Das geht bei einem Bild oder einem Roman nicht. Ich kann als Interpret oder als Schriftsteller diesen Roman oder dessen Motive aufgreifen und einen neuen Roman schreiben. Doch nur ein Theaterstück kann ich innerhalb des gleichen Textes reaktualisieren. Ich nehme als Beispiel Brechts „Arturo Ui“. Es ist als Parabel auf den Faschismus mißraten, Faschismus samt seinem Aufkommen erschöpft sich nicht im Kleinkrieg einiger Karfiolhändler – mag man diese Reduzierung auch für einen dramaturgischen Kniff halten. Heiner Müller aber hat daraus in seiner Inszenierung am BE etwas herausgeschlagen, was ich so bisher nicht gesehen hatte. Er spielte es nicht mehr nur als moralsaures Lehrstück, das Betrachterin und Betrachter mit dem Zeigefinger vor der Nase fuchtelt. Innerhalb dieses Textes geht die Inszenierung mit dem Text über diesen Text hinaus: der bis zum Grotesken überzeichnete Ui in seinem Monolog, in der sich sein Körper plötzlich fast in sich selber verschlingt und verwindet und er ein Hakenkreuz bildet. Hier so geschrieben, klingt das zunächst eher platt, aber auf der Ebene des Performativen und innerhalb der Bildlichkeit der Müller-Inszenierung saß diese Szene.
Wie geschrieben: ich will mit diesen Ausführungen nicht das Theater gegen den Roman ausspielen oder vom Roman Dinge einfordern, die er qua seines Mediums so nicht leisten kann. So wie umgekehrt das Theater bestimmte Aspekte nicht zu leisten vermag, die der Roman kann. Und daß es sehr schlechtes und bemühtes Regietheater gibt, berechtigt jemanden wie Daniel Kehlmann noch lange nicht, dieses auf Sphagettischlachten und Kartoffelsalat zu reduzieren. Davon abgesehen, daß die Absicht von Kehlmanns Rede schnell durchschaut war.
„‚Kritik‘ ist ziemlich oft nichts als die mehr oder minder umklausulierte, bzw. verstellte Darstellung eigener Geschmäcker, wozu auch moralische Prägungen gehören, die man weitergeben will.“ Teils ja, das ist leider richtig. Gelingende Kritik aber (und das heißt: nicht nur Loben oder Zerreißen eines Werkes aus im Grunde dem Werk äußerlichen Motiven) will mehr und bewegt sich über den bloßen Perspektivismus, über das Meinens und den bloßen (subjektiven) Geschmack hinaus. Aber das ist ein nochmal anderes Thema und betrifft den Zusammenhang von Kunst und Wahrheit sowie ästhetischer Kritik, Kommentar und Interpretation.
Oh, das wäre ein Mißverständnis, wenn Sie meinten, ich wolle gegen Stölzls Inszenierung angehen oder gegen Ihre Darstellung dieser Inszenierung; ich hab sie nicht gesehen, finde aber, da ich den Holländer gut kenne, sehr einleuchtend, was Sie über den Abend erzählt haben. In dem, was Sie „gelingende Kritik“ nennen, sind wir sowieso einig, wobei es auch gelungene Kritiken gibt, die ideologisch oder sogar sachlich falsch sind, dennoch eben „gelungen“, das. heißt, selbst Kunstwerke. Denken Sie an Karl Krauss‘ ausführliche Invektive gegen Heinrich Heine oder auch an, noch einmal Nietzsche, seinen „Fall Wagner“. Die Forderung, es müsse auch die Kritik Kunst sein, stammt meines Wissens von Schlegel, dessen Sicht Benjamin geerbt und weitergeführt hat; eine Traditionslinie führt neben dem der Tageszeitungspolitik unterliegenden Feuilleton, dennoch oft in ihm, bis in die Gegenwart weiter; mir fallen für die Musikkritik sofort Büning und Jungheinrich ein; oft sind es aber Komponisten selbst, die solche Kritiken schreiben; Henze gehörte zu ihnen. Interessant daran ist, daß „Wahrheit“ – aussagelogisch verstanden als „was ich schreibe, ist faktisch so“ – dabei durchaus zurücktreten kann, ich meine die faktische Wahrheit gegenüber einer emphatischen – eine Bewegung, die mich beschäftigt hat und weiterbeschäftigt, seit ich selbst Kritiken schreibe.
Diskussionswert bleibt diese Ihre Meinung:Innerhalb der Partitur oder des Textes zu bleiben, diesen Text genau so wie er ist (selbst mit einigen Streichungen) zu verwenden.Wiewohl selbst ein Vertreter von Modifikationen der „Originale“, bleibt es für mich problematisch, von einem Text, „so wie er ist“, zu sprechen und gleichzeitig Streichungen zuzugestehen; ich habe das mit den Regieanweisungen ernst gemeint, daß auch sie eigentlich zum Stück gehören, auch wenn die Praxis das seit jeher meist ignoriert hat. Stücke, die eigens für das Regietheater geschrieben worden, zeigen das im positiven Umkehrschluß: Viele Stücke Heiner Müllers sind von vornherein als, sagen wir, Steinbrüche angelegt, aus denen sich die Regisseure den Tuff holen oder den Basalt oder den Granit oder Marmor, den sie für ihre Bühnen-Erzählungen jeweils brauchen; auch Jelinek und Handke gehören dazu. Das sind Stücke, die den Themen im Jazz entsprechen: von vornherein als zu improvisierende gemeint; anders im „klassischen“ Theater, dessen Imagination von seinen Autoren ausgesprochen bestimmt ist. Auch heute noch werden Theaterstücke so geschrieben; geraten diese in die Hand eines Regietheaterregisseurs, kann das für Uraufführungen – also für das künftige Schicksal eines solchen Stücks – verheerend, kann aber auch großartig sein. Noch deutlicher wird’s, wenn wir uns Verfilmungen ansehen, die es, immerhin, bei literarischen Vorlagen nur dann gibt, war das Buch erfolgreich – also dann, wenn es sowieso schon bekannt ist. Da schaden dann selbst Verfälschungen so wenig, wie es bei der 10.005ten Così-Inszenierung ganz egal ist, wie werk“treu“ oder „umgeschrieben“ der Text behandelt wird.
„…wobei es auch gelungene Kritiken gibt, die ideologisch oder sogar sachlich falsch sind, dennoch eben ‚gelungen‘, das. heißt, selbst Kunstwerke.“ Das sehe ich genauso. Oft sind es die besten Kritiken/Essays, die trotzdem grandios an der Sache – die es freilich als eine Art An-sich oder als freischwebende Entität nicht gibt – vorbeigehen. Kraus‘ Text gehört dazu, auch Texte von Adorno oder Foucault. So wie überhaupt gerade solche, die aus der Philosophie kommen, es in ihrer essayistischen Kunstkritik oft genug schaffen, ihren Gegenstand zu verfehlen und dennoch dessen Gehalt zu entfalten vermögen, und zwar gerade dadurch, weil sie am besprochenen Werk vorbeischießen. Funken und Licht aus dem Kunstwerk herauszuschlagen qua Sprache, ein Mehr oder eine bestimmte Sicht zu entfalten: das ist das Magische an gelingender Kritik. Auch Benjamin gehörte zu diesen Kritikern, und in seiner Dissertation zur „Kunstkritik in der deutschen Romantik“ schrieb er dazu in der Tat einiges: Die Kritik ist weniger die Beurteilung, sondern die Vollendung des Kunstwerkes. Ein romantischer Topos, den ich nach wie vor für reizvoll halte, und zwar gerade dort, wo die Kritik das Kunstwerk ernst und damit in seinem Eigensinn nimmt. [Allerdings macht es dieser Umstand für mich so schwierig, in einem Blog (und das heißt dann am Ende: eher feuilletonistisch) über ein Buch, einen Film, eine Inszenierung, eine Ausstellung zu berichten. Es fehlt die Zeit, eine solche Kritik angemessen zu komponieren und zu bearbeiten. Es bleibt ein Blog am Ende ein Arbeitsjournal, ein Notizbuch, in dem Schreiberin oder Schreiber Dinge, Aspekte, Sichtweisen festhalten, die es andernorts fruchtbar zu machen gälte.]
Ja, Heiner Müllers Stücke schätze ich aus eben diesem Grunde, weil sie offen sind. Und es gehören selbstverständlich auch die Regieanweisungen zum Text mit dazu. Zudem gibt es bestimmte Inszenierungen, nach denen ein Stück nie mehr so wie vorher aufgeführt werden kann. Der Ring von Boulez/Chéreaux oder manches Stück von Stein oder Zadek sind von diesem Schlag. Aber dies ist in anderen Künsten nicht anders. Nach Duchamp war das Verhältnis zwischen Gegenstand und Kunstwerk ein anderes. Nach der Farbfotografie eines William Eggleston, eines Shore oder Parr ließen sich nicht mehr in der Weise Cartier-Bressons Bilder machen. Es gibt diese Einschnittmomente – sei es in der Malerei, der Literatur oder der Musik. Und leider gibt es beim Regietheater viele Inszenierungen, wo ich irgendwann aufstehe, gehe und mir denke: die Botschaft hör ich wohl, allein, es fehlt der Glaube.
Nein, den Text, den Text an sich, den Urtext: den gibt es nicht. Das meinte ich nicht mit der Formulierung „ein Text, so wie er ist“. Er geht ein Theatertext – bereits beim einfachsten Lesen schon – durch Brillen und Filter und wenn es schlecht läuft, findet in der Kritik eh nur eine Referenzrahmenbestätigung statt: Kritikerin oder Kritiker lesen das heraus, was sie hineingepreßt haben. Insofern war das von mir etwas mißverständlich ausgedrückt. Ich meinte lediglich, daß ein Regisseur am Text selbst nichts abwandelt oder einen Text als Vorlage nimmt und dann einen ganz anderen daraus macht. Auch das geht natürlich, ist dann aber eine andere Weise der Inszenierung. In solchem Verfahren, wenn ein Text umgeschrieben oder abgewandelt wird, durch andere Texte ergänzt wird (wie Castorf das gerne macht), wird man sich fragen, wo die Grenze sei. Ist die Inszenierung des Faust von Christoph Marthaler in den 90er Jahren noch der Fausttext von Goethe? Aus jenem bekannten „Habe nun, ach!, Philosophie …“ wird eine Gestammel, in dem nur noch die Vokale verbleiben: Lallen, lallen immerzu, mit Celan: „aeuaiooie“, so erklang es als Josef Bierbichler diese Verse aufs Vokalsubstrat einkochte.
Improvisation (im Zusammenspiel mit Konstruktion) ist im Hinblick auf eine solche Ästhetik des Offenen bzw. was die Praxis einer erweiterten Aufführung betrifft, der treffende Begriff.
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Da der Verweis auf den Blog „Die Dschungel. Anderswelt.“ beim Namen von ANH nicht funktioniert, setzte ich hier noch einmal den Link, um hinüberzugelangen:
http://albannikolaiherbst.twoday.net/
[Allerdings macht es dieser Umstand für mich so schwierig, in einem Blog (und das heißt dann am Ende: eher feuilletonistisch) über ein Buch, einen Film, eine Inszenierung, eine Ausstellung zu berichten. Es fehlt die Zeit, eine solche Kritik angemessen zu komponieren und zu bearbeiten. (…)]
Genau das empfand ich bei Ihrer Holländer-Kritik n i c h t; nur daß auf die musikalische Interpretationen wenig bis nicht eingegangen wurde, aber Sie haben ja deutlich gemacht, aus welchem Grund. Deshalb ist das völlig legitim.
Mich kostet eine Kritik in aller Regel einen Tag bis anderthalb Tage Arbeit, wobei ich bekanntlich mitschneide und mir die Aufführung dann noch zweidreimal anhöre, meist direkt, während ich schreibe. Das ist zwar urheberrechtlich bedenklich, aber ich verwende die Mitschnitte tatsächlich nur für die Kritiken, bzw. nachher rein privat. Das ermöglicht mir Vergleiche oft noch nach Jahren, und ich stelle sie auch in späteren Kritiken an.
In Extremfällen habe ich auch schon mehrere Tage an Kritiken geschrieben; damit kommen sie allein schon vom Zeitaufwand her in die Nähe einer Kunstanstrengung; so war das zum Beispiel >>>> dort. Der Aufwand legitimiert meinem arbeitsethischen Innern den Umstand, daß ich Pressekarten bekomme: Ich bezahle mit Arbeit. Bei freiem Eintritt muß das erwartet werden, egal, ob man ein freier Kritiker oder Feuilletonchef einer Zeitung ist. Nicht wenige Personen nutzen ihre Stellung schlichtweg aus.
Ich werde morgen diesen interessanten, vor allem aber auch anregenden Dialog über Kunst und Kritik fortsetzen und Ihnen antworten, Im Augenblick schwillt die Grippe (seit Freitag da), steigt das Fieber (seit Sonntag im Körper). Im Augenblick ist an einen irgendwie angemessenen Text nicht zu denken.
Nichts Fieseres als ein grippaler Infekt im Frühsommer oder Sommer. Sie haben mein Mitgefühl, auch wenn das egoistisch ist, indem ich hoffe, meinerseits um so etwas herumzukommen. Man mag ja nicht einmal einen kräftigen Grog trinken, weil einem das bei diesem Wetter so widersinnig vorkommt.
Das Gespräch läuft uns nicht weg. Gute Besserung,
Ihr ANH
Ich danke Ihnen für die guten Wünsche. Nein, das Gespräch läuft nicht weg. Bei mir war es gestern noch Rotwein, bei dem ich dachte, er hülfe. Tat er nicht. Heute trinke ich den Bronchialtee und sehe gleich auf Arte einen frühen Spielberg-Film.
Was die Zeit für eine Kritik betrifft, so ist der Fall bei mir ähnlich gelagert. Ich brauche für eine normale Kritik, die nicht vergleichend vorgeht und andere Werke oder Werksgruppen mit in den Blick nimmt oder die eher ins Essayhafte hinüber schwenkt, in etwa einen Tag, höchstens zwei Tage, was am Ende dann auf zwei bis drei Tage hinausläuft, da ich im übrigen Leben ca. 8 Stunden lang einer Erwerbsarbeit nachgehe. Bei einem Text über ein bestimmtes Thema aus der Ästhetik, der Philosophie, der Kunst kann es durchaus länger werden, weil dann Texte (wieder-)gelesen werden wollen. Da kann ich, was die Lese- und Schreibzeit betrifft, durchaus eine Woche oder länger dransitzen. Und insofern nimmt ein solcher Text durchaus Kunstwerkcharakter ein. Schon jetzt müßte ich im Grunde anfangen, Camus zu lesen und mich daranzusetzen, da er im November 100. Geburtstag hat. Und wenn ich dazu etwas schreibe. dann möchte ich halt schon gerne Sartres Philosophie, aber auch die Surrealisten, Queneau und Boris Vian mit im Text haben. [Ich neige dazu, mir zu viel vorzunehmen.]
Was Sie über das Rezensionswesen, das Mitschneiden, das Mithören schreiben, so stimmt es, daß vom Urheberrecht her es einige Bedenken gibt, aber in solchen Fällen würde auch ich diese Vorgaben lax handeln. Es geht ja nicht darum, mit der Aufnahme oder der Besprechung ein Geschäft aufzuziehen. Schade ist es, wenn ich in Wochenzeitung Buch- oder Ausstellungsbesprechungen lese, die nicht einmal das Niveau eines normalen Literatur- oder Kunstblogs erfüllen. Da denke ich mir zuweilen, in welche Hände fallen manchmal Pressekarten und Rezensionsexemplare. Andererseits ist es wie überall: Qualität ist schwankend. Auch in meinem Blog gibt es gute, mittlere und zuweilen auch schwache Tage. Den Text, den ich gleich über Lissabon einstellen werde, gehört zu denen, die ich normalerweise so nicht veröffentlichen würde. Andererseits kann ich mit einem leeren und schmerzenden Kopf nicht schreiben.
Das schöne am Kranksein ist, daß der Kranke nicht in die Welt der Erwerbs-Arbeit muß. Das schlechte daran ist die Unfähigkeit arbeiten zu können, weil der Kopf zugenebelt, eingehüllt und schmerzend ist. So reicht es nur zu seichter Lektüre hin.
Auch Maurice Merleau-Ponty bitte nicht vergessen. Albert Camus war ja mehr Denker als es manch einem bekannt sein mag; und dann auch Edmund Husserl, um es im wahrsten Sinne des Wortes auf den Punkt zu bringen.
Gute Besserung.
Vielen Dank. Ja, die Phänomenologie. Aber es ist bis zum November zum Glück noch eine lange Zeitspanne. [So schreiben wir dahin, und es ist November.]