Am 29.1. gab es im Lido ein Konzert der besten deutschsprachigen Band, nämlich von Tocotronic. Ich konnte leider aus verschiedenen Gründen nicht auf dieser Veranstaltung weilen. Wie der dort anwesende Jens Balzer berichtete, war es ein ausgesprochen gelungenes Konzert. 20 Jahre Tocotronic: dies gilt es zu feiern, denn jedes Album ergab eine (angenehme) Überraschung, immer ein Stück weiter ging es auf dem Weg.
Schaum und Stoff
Werden zerbrechen
Was Körperpanzer
Falsch versprechen
Europas Mauern
Werden fallen
An die Anemonen
Und Korallen
Wiederholte
Differenzen
Für Asyle
Ohne Grenzen
Wir haben
Weiche Ziele
Süßliche Exile
Ornamente
Und Verbrechen:
Schaum und Stoff
Werden uns rächen
Stahl und Eisen
Werden kippen
Staub zersplittert
Marmorklippen
Wir haben
Weiche Ziele
Wir sind
Plüschophile
…
…
…
Wir haben
Leichte Waffen
Um Gespinste
Zu erschaffen
Mit den Pilzen
Und den Sporen
Spione
In den Rohren
Wir ordnen
Neue Zonen
Wo die Soft Boys
Wohnen
Neue Zonen
Dieses Stück ist nicht nur Musik, es ist Lyrik, und zwar gelungene. Diese Lyrik zieht Begriffe derart auseinander, daß sich aus diesen Wörtern dann ein ganz anderen Zusammenhang erzeugt. Schaum und Stoff. Und es entstehen Assonanzen, Verbindungen, Synthesen, die ein Anderes eröffnen, ohne es auszumalen, und es ist dieses Andere zugleich die Welt der Sporen und Pilze, der Anemonen und Korallen. Kalt, unbestimmt, anders. Digital ist besser, so heißt ihr erstes Album, und daraus gibt es jetze Freiburg – ein Stück das auch in einer weniger angerockten Version sogar noch gut ist:
X
X
______________
Und das war genau unser Leben: neben der Philosophie, der Kunst, der Photographie: damals, egal ob nach Bahrenfeld, nach Neukölln, nach Westend im Bus. Es gab diese jene solchen Tage – vollgesogen mit der Melancholie einer Nacht, die irgendwann dann zuende ging. Halb fünf Uhr morgens und die Dämmerung des Tages bricht an. Es ist dies eines der schönsten Lieder, wenn man noch jung ist. Ach, ich wäre gerne auf dem Konzert gewesen.
„Halt mich fest, ich glaub‘, ich brauch das jetzt. Kauf mir ein Bier, ich trinke es dann bei mir!“
X
Ich protestiere auf’s Entschiedenste gegen diese mutwillige Verbreitung friburgiensophober Propaganda! Und das ohne Triggerwarnung! Ich habe schon länger kein Backgammon mehr gespielt! Und das letzte Tanztheater, das ich besucht habe, war in Berlin (Kresniks Ernst Jünger)! Laß Dir das mal gesagt sein!!!
Hm, ja, ich hätte warnen müssen, wie es üblich ist. (Wenngleich Freiburg ja seine schönen Seiten ebenso hat.)
Eigenartige Koinzidenz: mein letzter Besuch im Tanztheater ist ebenfalls lange her und auch Kresnik – allerdings Ulrike Meinhof. (Den Jünger hätte ich gerne gesehen.)
Komme ich das nächste Mal nach Freiburg, dann mache ich im Blog einen Photoessay, der wohlwollend-lobend ausfällt. (Die Spezialität des Berliners ist bekannlich das Loben und Preisen.)
Also irgendwie ist das alles TonSteineScherben-Recycling:
„Auf den Asphaltfeldern grasen
Goldene Kälberherden Tag und Nacht
Über ihnen Wolkenkratzer
Wo die Computer schmatzen – ach
Wo ist noch Platz für mich
Oder ein Dach für dich
Hörst du es flüstern im Land
Dracula sucht einen Sarg
Helmut kauft sich Coks im Park
Siehst du die Schrift an der Wand
Der Turm stürzt ein
Der Turm stürzt ein
Halleluja
Der Turm stürzt ein
Der Pepsodent von Ju-Es-Ah
Ist ein cooler Looser seiner Macht
Glänzend doch schon Rost zerfressen
Fliegt er durch den Wilden Westen – ach
Wo ist noch Platz für mich
Oder ein Dach für dich
Hörst du es flüstern im Land
Old Shatterhand und Nietzsche tot
Im Kaufhof klaut sich Gott sein Brot
Siehst du die Schrift an der Wand
Der Turm stürzt ein
Der Turm stürzt ein
Halleluja
Der Turm stürzt ein
Russe in Beton und Stahl
Müde alles Material
Hörst du das Knistern im Land
Jesus kommt trotz Pillenknick
Flöte hat mit Faust gekickt
Die Postbeamten tragen Schwarz
‚Ne Tonne Öl kostet tausend Mark
Siehst du die Schrift an der Wand
Der Turm stürzt ein
Der Turm stürzt ein
Halleluja
Der Turm stürzt ein“
“
Harikafulas lauern
in Winnetous Garagen
unter den Traumfabriken,
die farsch und sterntaub rasen.
Affenwesen klamern sich an Kleotapierfesten.
Palmen singen Kara-Melodien.
Zahnpasteten schwärmen aus, den Ziegenpilz zu mästen.
Leichenteile schnuppern Evergreens.
Auf Lustfontänen springen.
Die Papageien tanzen
aus spiegelleichten Rosen
mit fischverzierten Lanzen.
In schwülen Sümpfen lieben,
die Amazonen jagen
nach unfruchtbaren Moosen,
die wild und brotvoll schlafen.
Kettentiger atmen unter Wildfetzen versiegelt,
saugen sich an Wespenstichen satt,
beichten ihre Unschuld stolz und lautlos jedem Spiegel
und ihre Gesichter blättern ab.“
Risse, nicht Russe, Goethe, nicht Flöte, sorry.
Ja, die Referenz und die Nähe zu „Ton Steine Scherben“ besteht zum Teil. Das sehe ich auch so. Wobei diese Referenzen eher subtil sind. Als Recycling würde ich es aber nicht bezeichnen. Im Stil und in der Musik sind Tocotronic schon anders. Aber es verstand sich diese Band immer als eine politische, allerdings eher in der Tradition eines Foucault sowie Deleuze und in ihren „Botschaften“ eher indirekt und offen bleibend, das Postulat der Identität brechend.
Ich muss ja sagen dass ich von der Hamburger Schule Die Sterne mehr schätze, das ist für mich sozusagen die härtere Variante von Tocotronic. Freilich haben Letztere einen Fehler, für den sie nichts können: Sie treten in einem Outfit auf auf das ich allergisch reagiere, weil Angehörige eine mir seinerzeit verhassten linken Gruppe genauso herumrannten.
Ich lobe erst einmal die Überschrift des Artikels und werde mich zur Platte äußern, wenn sie sich gedreht haben wird.
@ che
Mich habenTocotronic musikalisch mehr gereizt als die Sterne, Blumfeld war mir zu diskurs-schlagermäßig und bei der Musik wurde ich immer sehr dämmerig, Ich habe da nie hingefunden, trotz der sicherlich guten Texte. Anders Tocotronic. Das ist eine Mischung aus vielen. Geballter Subjektivität, die aber nicht nur vom Subjekt faselt, sondern es zugleich aufsplittet und in die Kritik, die Konzepte von Identität und Bei-sich-sein in Zweifel zieht. Gerade diese Weise von Subjektivierung, ich will es mal dialektische Konzeption nenne, kommt den Theorien und Denkweisen, in denen ich operiere, sehr nahe: Verschwör dich gegen dich. „Pure Vernunft darf niemals siegen, wir brauchen dringend neue Lügen, die uns durchs Universum leiten und uns das Fest der Welt bereiten“ Eines der besten Stücke:
Und der Text ist derart großartig, da macht es erst einmal wow und dann frage ich mich, wieso passiert das bei dieser Art von Pop-Musik? Das sind Derrida, Foucault und Lacan als Musik.
Was die Kleidung betrifft: Antideutsche?! Tocotronic positionieren sich (zum Glück) wenig, da sind sie ganz poststrukturalistisch. Denker hinter der Maske. Ich selber liebe und praktiziere diese Haltung zuweilen ja auch.
@ genova
Die eigentliche Plattenkritik steht bei mir aber hier: https://bersarin.wordpress.com/2013/01/26/ratio-et-oratio-verschwor-dich-gegen-dich-tocotronics-neue-schallplatte-wie-wir-leben-wollen/
Und da bin ich mal gespannt, wie Dir dieses Album gefällt.