Zu entdecken gilt es im Rahmen dieser Serie im Hinblick auf all die Ausprägungen der Melancholie die erotische Dimension derselben – zum Beispiel so, wie sie im 13. Jahrhundert zuerst in der (italienischen) Liebeslyrik aufschien; zumindest wenn man Giorgio Agamben und seinem Buch „Stanzas“ folgt. Melancholie, die im Bezug zur Liebe steht, hat zugleich, wie Eva Geulen schreibt, mit jener wunderbaren christlichen Todsünde, die ich selber als die momentan angemessene Weise der Entäußerung betrachte, nämlich mit der acedia (also jener Trägheit des Herzens) zu tun. Zugleich ist diese Trägheit (als Zurückhaltung und Vorbehalt genommen) alles andere als faul und müßig, wie es die christliche Schreibweise indoktriniert, denn beständig versucht die acedia, welche sich mit der Melancholie eins weiß, einen Pol der Ruhe als Destruktion und einen Raum zu finden, um in der Produktion von Bildern und in den unterschiedlichen Weisen von Darstellung eine Dauer und Punktierung zu erzeugen, die zugleich aber in dem Bewußtsein inszeniert wird, nicht zu bestehen und nichts zu fixieren; es bannt die Sprache und das Bild den Verlust oder auch die Abwesenheit der/des Anderen. Zugleich beruht dieser Modus einer Präsenz, die sich – zumindest in jenem Gefühl der Liebe, welches wir als das emphatische und einzige ansprechen – gleichzeitig entzieht, auf der Illusion, es gäbe intakte Subjektivität und Bei-sich-sein-im-andern. Das Moment der Phantasmagorie oder auch des Narzißmus koppelt sich mit der ästhetischen Inszenierung innerhalb der Sprache oder des erzeugten Bildes. Das begehrte Objekt bleibt Objekt und damit Anderes, solange es als Objekt konzipiert wird. Die Sprache verschafft die nötige Distanz.
Agamben schreibt in den „Stanzen“ (1978): „Das, wovon die Spaltung zwischen Poesie und Philosophie Zeugnis ablegt, ist die Unmöglichkeit, den Gegenstand der Erkenntnis voll und ganz zu besitzen.“ Der Diskurs der Liebe verbindet sich in solcher Weise des Denkens mit Erkenntnistheorie. Diese Differenzerzeugung, welche die vollständige Negation von Präsenz und Fülle anerkennt und begreift oder diese Präsenz zumindest in einen anderen Modus der Darstellung retten möchte, greift eine Wendung Adornos aus der „Ästhetischen Theorie“ auf: nämlich die, daß Philosophie und Kunst einander bedürfen: beide Weisen des Diskurses haben teil und kommen der Sache doch niemals nahe.
„Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hat sie es nicht; die Erkenntnis, welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables.“ (Adorno: Ästhetische Theorie, S. 191) Und einige Seiten davor heißt es: „Deshalb bedarf Kunst der Philosophie, die sie interpretiert, um zu sagen, was sie nicht sagen kann, während es doch nur von Kunst gesagt werden kann, indem sie es nicht sagt.“
Die Liebe ist der radikale Entzug und das Moment der Fülle im Rahmen der Reflexion. Marcel Proust schrieb dazu den vollkommenen Roman. Hernach war in der Literatur alles anders.
X
Wunderbarer Beitrag! Wobei ich den Bezug zwischen Melancholie und Erotik eher negativ sehe – erinnere mal da an eine Blogdiskusion bei Netbitch, wo es um spontanes Reagieren ging.
Ganz vielen Dank, Wenn Du diese Diskussion bei Netbitch findest, kannst Du es entweder hier verlinken oder mir den Link schicken? Ich würde es gerne lesen.
Ich sehe die Beziehung zwischen Melancholie – der schwarzen Galle – und Erotik keinesfalls negativ. Es ist „all das Vergebliche“, was beiden innewohnt. Die Erotik und die Lustabfuhr ist ja ein Steinewälzen, eine glückliches Steinewälzen, dessen Wesen darin besteht, daß gleich nach „getaner Arbeit“ und in noch vermeintlich ewiger Ruhe und Befriedigung der Drang neu entsteht. Im Akt des Zeugens und Vergehens wird bereits der Keim für die nächste Vergeblichkeit gelegt.
So auch die Melancholie: Sie hat ebenfalls etwas vergeblich Drängendes etwas Steinewälzendes in sich – jenem Sysiphos gleich, den Camus als glücklichen Menschen verstanden wissen will.
Rein passiv ist die Melancholie also keinesfalls. Nur reine Kraft- und Saftmenschen mißverstehen den Melancholiker als entschlußarmen Faulpelz.
Wesentlich scheint mir in den Formen der Melancholie der Objektentzug, das Begehren und die Ästhetisierung bzw. die Poetisierung desselben zu sein. Aber im Grunde kann die Melancholie nur die Philosophie angemessen poetisieren und zugleich reflektieren.
Camus‘ Sicht teile ich nicht ganz, schon gar nicht seine Positionen der Philosophie. Man kann sie als Reflex auf seine Zeit, jedoch nicht als die Reflexion dieser Zeit begreifen. Seine Romane und Theaterstücke: das ist zu lange her, als daß ich es angemessen beurteilen könnte. Ein wenig vermute ich aber, daß es sich um Thesenliteratur handelt, wo beständig ein Mensch in die Entscheidung gestellt ist und einmal wieder die Idee sinnlich scheint. Mein ceterum censeo: daß Beckett (und gerade seine Romane) viel zu sehr unterschätzt wird.
Camus war mir nur einen Querverweis wert – mehr war nicht gemeint. Camus ein Melancholiker? Das ist auch bei mir zu lange her und geradeheraus geschrieben: Ich habe wichtigers vor, als das zu überprüfen.
Die Melancholie als ästhetisierende Erotik mit gleichzeitiger Nähe und Distanz zum Objekt – so ist es. Wobei – wie ich schrieb – die Erotik ohnedies so bei mir gesehen wird (Der unerotische Saft- und Kraftmensch hingegen „fickt“, zündet sich dann eine Zigarette an und fingert nach der Fernbedienung, um die zweite Halbzeit nicht zu verpassen – Jogis 12-ter Mann eben).
Siehst Du hier auch (melancholische) Beziehungen zur Minne?
Den Bezug zur Minne müßte ich nachlesen, um dazu etwas Substantielles zu schreiben. Ich hänge gerade in Agambens „Stanzen“ und bin am überlegen, in bezug auf einen Blogstreit bei Gleisbauarbeiten einen Text über Texte zu schreiben.