Kleisttage, Herbsttage, Wannsee – Eine melancholische Reise in den Süden

„Küsse, Bisse/Das reimt sich und wer recht von Herzen liebt,/Kann schon das eine für das andre greifen“

H. v. Kleist, Penthesilea

Wenn eine Reisende oder ein Reisender, etwa vom Osten kommend, vom Potsdamer Platz über das Kulturforum sich bewegend, die Potsdamer Straße in Richtung Süden immer weiter geradeaus fährt, dann …, ja dann ist der Autofahrer ziemlich bescheuert und ortsunkundig, weil sie oder er nämlich nur im Stau steht und nicht vorankommt. Nichts schlimmer als Samstag auf der Potsdamer Straße mit dem Auto, auf nur einer Spur. Langsamer nie als im November. Also umfahren wir den direkten, den geraden Weg, schließlich besitzt Berlin wunderbare Stadtautobahnen – jede Stadt sollte sich Stadtautobahnen zulegen: man kommt schnell durch und es gibt dort keine Fahrräder. Also über die Stadtautobahn spurten, mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit versteht sich. Und so beginnen wir unsere Reise: in Steglitz, die Autobahn verlassend, und fahren die Straße Unter den Eichen immer geradeaus, dann auf die Berliner Straße, bis man, weiter geradeaus, die Potsdamer Chaussee erreicht, welche, wie es der Name bereits sagt, direkt nach Potsdam führt. Teils stehen am Straßenrand schöne Alleebäume, am Wegesrand, zu den entsprechenden Obst- und Gemüsezeiten der Saison, verkaufen Händler, die vorgeben, aus dem Umland zu stammen, Erdbeeren, Spargel und sonst was für Obst und Gemüse an Hungrige und an Köche. Die Fahrt über die Straße ist eine Reise für sich, etwa wenn man durch das ruhige und verschlafene Zehlendorf kommt. Wie heißt ein Schlachtruf, sobald sich Nachbarn über zu laute Musik auf Kreuzberger oder Neuköllner Partys beschweren?: „Geh doch nach Zehlendorf!“ Dabei ist es schön in Zehlendorf, ab einem gewissen Alter zieht man entweder nach München – sofern man ordnungsliebend ist, graffitibefreite Zonen sowie klinisch-antibakterielle Sauberkeit mag und etwas für die Bayern übrig hat – oder nach Ottensen, wer Lehrer oder Yogatherapeut geworden ist. Und für den ganz normalen und beschaulichen Menschen mit Berliner Gemüt bieten sich Zehlendorf, Steglitz, Friedenau an. Dort wohnten, nebenbei gesprochen, Uwe Johnson, Günter Grass, meines Wissens zeitweise auch Max Frisch und Erich Kästner.

Wenn der Autofahrer endlich den fast äußersten Teil des Berliner Südwestens erreicht hat und nach Wannsee kommt, dann biegt er hinter der Eisenbahnunterführung links ab in die Bismarckstraße, und da findet sich nach kurzer Strecke rechter Hand das Doppelgrab von Henriette Vogel und Heinrich von Kleist. Es befindet sich auf einem Hügel, von dem die Betrachterin oder der Betrachter auf den Kleinen Wannsee schauen können. Schöner Herbstwald, gefärbtes Laub, das ich mir betrachte, wer möchte da nicht begraben liegen? Und die Ufer sind leider besetzt von Ruder- und Segelclubs, so daß der Flaneur nicht spazieren kann. Mit diesem Blick auf den See und in den Herbstwald hinein erschoß Heinrich von Kleist am 21. November 1811 zuerst die todkranke Henriette Vogel und hernach sich selber. Davon mehr und im Detail am Todestag  – hier in Ihrem Sensationsblog, unter der Rubrik „Todesschüsse“. Als wärst Du selbst dabei, so hautnah reportiert Ihnen ihr ästhetischer Lieblingsberichterstatter Bersarin jene Ereignisse, die sich an jenem 21.11.1811 an einem trüben Novembertag am Kleinen Wannsee zutrugen. Auf dem ersten ursprünglichen Grabstein kam der Name von Henriette Vogel nicht einmal vor.

Die Anlage des Kleistgrabes ist recht verwildert, sie soll umgestaltet bzw. ästhetisch flurbereinigt werden, so daß es dort mehr Platz zum Spazieren am Wasser gibt. Ich selber begab mich, nach einer sinnierenden Minute, in der ich auch der eigenen Melancholie frönte, weil ich am Vormittag eine ziemliche schriftliche Eselei begangen habe, weiter hin zum Großen Wannsee, um dort ein wenig zu spazieren – bis hin zum Heckeshorn. Photographien von diesem Kleistgang zeige ich auf Proteus Image.

Auch die Strecke am Großen Wannsee entlang – auf der Straße, auf dem Gehsteig – führt lediglich an Häusern im Privatbesitz vorbei: ein Segel- oder Ruderverein folgt auf den anderen. Es gibt kaum einen freien Blick auf den, geschweige einen freien Zugang zum Wannsee: Members only. Zuweilen thronen am Ufer auch prachtvolle Villen. Aber es stehen zur linken ebenfalls Appartementhäuser der 70er Jahre, die architektonisch recht interessant ausschauen. Unten beim Heckeshorn geht es dann in den Wald hinein und es gibt Wege am See

Vor 70 Jahren, einige Kilometer entfernt, begannen im Oktober 1941 am S-Bahnhof Grunewald die ersten umfassenden Deportationen der Berliner Juden. Über 50 000 Juden wurden von diesem S-Bahnhof in die Vernichtungslager im Osten verbracht. Gefüllt mit 1.013 Juden in den Vieh- oder Güterwagons verließ am 18. Oktober 1941 der erste Deportationszug der Deutschen Reichsbahn den Bahnhof Grunewald.

„Die Rolle der Deutschen Reichsbahn im Holocaust blieb lange unbeachtet. Erst in den 1980er und 1990er Jahren wurden in Erinnerung an dieses Kapitel in der Vergangenheit des Bahnhofs Grunewald mehrere Mahnmale errichtet. Daher wurden die ersten Mahnmale von anderen Gruppen errichtet. Die erste Gedenktafel zur Erinnerung an diese Deportationen wurde 1953 am Signalhaus aufgestellt, allerdings wurde sie aus unbekannten Gründen wieder entfernt, auch der Zeitpunkt des Abbaus ist nicht dokumentiert. Die Einweihungsfeier wurde damals von Polizisten gestört, weil die Vereinigungsgruppe, die die Gedenktafel initiiert hatte, als kommunistisch galt. Die zweite Tafel des Gedenkens wurde erst zwanzig Jahre später im Jahr 1973 angebracht und 1986 gestohlen. Am 18. Oktober 1987, dem 46. Jahrestag des ersten Transportes, wurde ein weiteres Mahnmal von einer Frauengruppe der evangelischen Gemeinde Grunewald errichtet. Auf zwei Eisenbahnschwellen stand senkrecht eine dritte mit der Inschrift

„18.10.41“

Eine Messingplatte mit der Beschriftung

„Wir erinnern / 18. Okt. 41 / 18. Okt. 87“

vervollständigte das kleine Ensemble. Nachdem die Initiatorinnen das Mahnmal altersbedingt nicht mehr pflegen konnten, wuchs es zu und die Messingplatte wurde entwendet. 2005 wurde es dann vereinfacht, mit querliegender anstatt senkrechter Eisenbahnschwelle, wieder hergerichtet und eine neue Messingplatte montiert, …“ (Wikipedia)

Soviel zur zeitnahen Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit. „Entwendet“ ist ein feiner Euphemismus.

Sicherlich böte sich in bezug auf Kleist eine Text/Photostrecke an: eigene Bilder, dazu Texte von Kleist, aber mir scheint solche Anordnung doch ein wenig zu bemüht. Und um solch ein Projekt wirklich gut zu gestalten, muß man sich sehr viel Zeit nehmen, die jemand, der in Vollzeit im Beruf steht, naturgemäß nicht besitzt. Und schließlich ist „Aisthesis“ bloß ein bescheidener ästhetisch-kritisch-theoretischer Blog, aber kein Buchprojekt.

„Zeit geben“

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