Erste Bestimmungen einer philosophischen Postmoderne (5)

Nietzsches Wahrheit (4. und letzter Teil) 

Vorbemerkung

 Manchmal, so sagt man, muß ein Mann das tun, was er tun muß. (Eine Frau sicherlich auch.) Ich muß, bevor ich mich, wie mit den Blogs Exportabel und Metalust verabredet, mit Adornos Musiktheorie auseinander setze, meinen Nietzsche-Text zum Ende bringen, um mich dann unbeschwert an den Aufsatz Adornos „Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens“ heranzubegeben.

 „Es ist der Mensch“ – nur anders

 Übertragungen und Verschiebungen sind die häufig verwendeten Topoi in diesem Aufsatz von Nietzsche, ein immer wiederkehrendes Motiv:

„… so nimmt sich das räthselhafte X des Dinges an sich einmal als Nervenreiz, dann als Bild, endlich als Laut aus. Logisch geht es also jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu, und das ganze Material worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus Wolkenkukuksheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge.“ (S. 879)

Darin steckt eine vehemente Kritik des Essentialismus und der kantischen Transzendentalphilosophie gleichermaßen. Zwar wird, noch im Kantischen Sinne, ein „räthselhaftes X des Dinges an sich“ angesetzt. Doch fungiert es eher als sich verschiebender blinder Fleck, weniger jedoch als erkenntnistheoretischer Grenzbegriff, und in diesem Sinne kann man bereits mit Nietzsche sagen, daß die Grenzen meiner Sprache zugleich die Grenzen meiner Welt sind. Wir sind in der Sprache, nicht jedoch am Wesen der Dinge.

Wir begegnen in diesem Zitat einer von vielen Reihung im Text Nietzsches, die eine Perspektiviät in der Philosophie nötig machen, ist doch der Blickwinkel von diesen unterschiedlichen Sphären her sehr verschieden: Nervenreiz, Bild, Laut. Bei jedem Mal ein anderer Bereich, der am Ende in Sprache übergeht und dennoch einen eigenen Referenzrahmen erforderlich macht.

Doch kommen wir gleich zum Beginn des Essay zur Sache und gehen in die entscheidende, vielzitierte Passage des Wahrheitsaufsatzes hinein:

„Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.“ (KSA 1, S. 880 f.)

Der in die Verborgenheit geratene Ursprung, von dem sich in der Lesart Nietzsches eigentlich gar nicht ausmachen läßt, ob es ihn gibt oder ob da nicht vielmehr nichts sei. Allenfalls noch als (notwendige) Fiktion eines Ursprungs mag da etwas vorliegen, und Aussagen über Wahrheit und über die Bedingungen ihrer Konstitution lassen sich höchstens noch in einer genealogischen Perspektive treffen. Die Wahrheit selbst jedoch zielt nicht mehr auf diesen Ursprung oder auf einen wesenhaften Objektbereich ab.

Was ist also Wahrheit: Diese Frage wird in diesem zentralen Satz lakonisch beantwortet, elliptisch, fast beiläufig. Nicht mehr die Übereinstimmung des Objekts mit dem Denken, der Sache mit dem Intellekt oder irgend eine der klassischen Antworten wird genannt. Wahrheit wird zu einem Phänomen in und durch die Sprache. Übertragungen und Verschiebungen, Interpretation, mithin relative Sichtweisen, lassen eher von einem Wahrheitsgeschehen sprechen, als daß man hier noch einen festen Begriff von Wahrheit ansetzten könnte.

Diese Sicht auf Wahrheit wird die spätere Philosophie Nietzsches dann virtuos und in den verschiedenen Ausprägungen und Schattierungen entfalten. Mit Günter Abel läßt sich dann durchaus von „Interpretationswelten“ sprechen. Es gibt keine wahre Welt, sondern diese gerät am Ende zur Fabel. (Siehe hierzu den einschlägigen, von mir bereits angeführten Aphorismus aus der „Götzendämmerung“.) Was dann gut in den postmodernen Slogan mündet, daß es eben keine Wahrheit, sondern nur Interpretationen, mithin plurale Sichweisen auf „Welt“ gibt, nichtessentialistische „Wahrheiten“ im Plural: verschiedene Sprachspiele, Diskurse, die kaum noch kompatibel sind, funktionale Ausdifferenzierungen, verschiedene Geltungssphären, die mal von einer kommunikativen Vernunft zusammengehalten, dann wieder als vollständiges Differenzgeschehen gedacht werden. Doch sind diese Dinge allerdings eine bereits sehr moderne Erfahrung. Sie sind geradezu das Spezifikum einer plural entfalteten Moderne. Insofern sind die Einsichten Lyotards, etwa im „Widerstreit“ und im „Postmodernen Wissen“ sicherlich nicht vom Himmel herabgefallen, sondern sie stehen in einer philosophischen Tradition, die von Lyotard dann allerdings sehr spezifisch gedreht wird. Nietzsche zumindest liefert für diese Drehungen und Wendungen der Moderne (hin zur Postmoderne), und insbesondere mit diesem Wahrheitsaufsatz eine Menge an Munition. Insofern auch dürfte der Ansatz nicht ganz falsch sein, Nietzsche als einen der ersten Philosophen des 20. Jahrhunderts zu titulieren.

Diese „Interpretationswelten“, diese Konstruktionen von Wirklichkeit mittels Sprache (1) erheben bei Nietzsche zugleich jedoch den Anspruch auf die Strukturierung eines ausgedehnten Feldes namens Gesellschaft. Gleichsam an einem einzigen Faden wird aus einigen anthropologischen bzw. biologischen Grundlagen die Konstruktion einer ganzen Begriffs-Welt herausgezogen:

„Alles, was den Menschen gegen das Thier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen; im Bereich jener Schemata nämlich ist etwas möglich, was niemals unter den anschaulichen ersten Eindrücken gelingen möchte: eine pyramidale Ordnung nach Kasten und Graden aufzubauen, eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Gränzbestimmungen zu schaffen, die nun der anderen anschaulichen Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulirende und Imperativische.“ (S. 881 f.)

Der Mensch, das noch nicht festgestellte Tier, wie Nietzsche es in „Jenseits von Gut und Böse“ formuliert, das mit Sprache begabte Tier. Dieser Abbau des Anschaulichen zugunsten des Begriffs, als Akt identifizierenden Denkens und reifizierender Sprache, ist allerdings mit Verlusten erkauft. Und hier berühren sich die Ausführungen Nietzsches mit der Kritik Adornos/Horkheimers in der „Dialektik der Aufklärung“ und insbesondere mit den Ausführungen Adornos in der „Negativen Dialektik“ zur Logik des Begriffs (S. 23 ff.).

„Während jede Anschauungsmetapher individuell und ohne ihres Gleichen ist und deshalb allem Rubiciren immer zu entfliehen weiß, zeigt der grosse Bau der Begriffe die starre Regelmässigkeit eines römischen Columbariums und athmet in der Logik jene Strenge und Kühle aus, die der Mathematik zu eigen ist.“ (S. 882)

Bereits einige Passagen vorher hielt Nietzsche fest, daß jeder Begriff durch die Gleichsetzung des Nicht-Gleichen (S. 880) entsteht. Sprache erzeugt die Fixierungen, welche allerdings nur mit (philosophischer) Sprache oder aber vermittels der Kunst wieder aufzubrechen sind. Im ganzen ist dieses „Begriffshimmel“, jenes Gerüst, was über die Dinge gewebt wird – „ein Bau, wie aus Spinneweben“ –, hochartifiziell konstruiert, hat dabei aber in seiner Selbstreferenzialität nichts mehr mit den Dingen als solchen und an sich selbst betrachtet zu schaffen. Es ist für Nietzsche die reine Konstruktion:

„Wenn Jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt, es eben dort sucht und auch findet, so ist an diesem Suchen und Finden nicht viel zu rühmen: so aber steht es mit dem Suchen und Finden der „Wahrheit“ innerhalb des Vernunft-Bezirkes.“ (S. 883)

So ist das Rätsel im ersten Teil des Wahrheitsaufsatzes fast gelöst, und man kann wie Ödipus gegenüber der Sphinx aussagen: „Es ist der Mensch“, protagoräisch als Maß aller Dinge gesetzt. Das Verfahren des Philosophen „ist: den Menschen als Maass an alle Dingen zu halten, wobei er aber von dem Irrthume ausgeht, zu glauben, er habe diese Dinge unmittelbar als reine Objekte vor sich. Er vergisst also die originalen Anschauungsmetaphern als Metaphern und nimmt sie als die Dinge selbst.“ (S. 883)

Nietzsche steht hier ganz in der Tradition eines Anti-Platonismus, vorgängerisch sozusagen im Bezirk des sophistischen Homo-mensura-Satzes. Der Anti-Essentialismus Nietzsches geht hier zum einen in Anthropologie zum anderen aber auch in eine genealogisch-kritische Perspektive über. Beides muß man in den Details rekonstruieren. Von diesem Aufsatz Nietzsches ausgehend lassen sich also viele (Ariadne-)Fäden in die Moderne oder aber in die Postmoderne spinnen. Interessant ist hierbei, sozusagen am Vorabend der Psychoanalyse, der Aspekt des „Vergessens jener primitiven Metaphernwelt“ (S. 883) sowie die „strömende Bildermasse“, die bei Nietzsche durchaus als ontologischer Prius angesetzt wird, weshalb er eben noch in der Metaphysik des Ursprungsdenkens verbleibt, allerdings mit verkehrten Vorzeichen. Noch steht Nietzsche im (schopenhauerschen) Dualismus von principium individuations und (rauschhaftem) Willenswirken, jenem Strömenden, als dunklem Seinsgrund, schon konstatiert er jedoch die reine und zugleich relative Immanenz, die uns einzig noch verbleibt, und die in der entfalteten Moderne dann zur Beckettschen (Spiel-)Hölle geworden ist, was Georg Lukács dann in anderem Zusammenhang als die „transzendentale Obdachlosigkeit“ bezeichnete, welche das Signum der (kapitalistischen) Moderne ist.

„… kurz nur dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst, lebt er mit einige Ruhe, Sicherheit und Consequenz; wenn er einen Augenblick nur aus dem Gefängnis dieses Glaubens heraus könnte [und hier ist sie wieder die schopenhauersche Dualität sowie die Unvermitteltheit des Übergangs, Anm. Bersarin], so wäre es sofort mit seinem ‚Selbstbewusstsein‘ vorbei. Schon dies kostet ihm Mühe, sich einzugestehen, wie das Insekt oder der Vogel eine ganz andere Welt percipiren als der Mensch, und dass die Frage, welche von beiden Weltperceptionen richtiger ist, eine ganz sinnlose ist, da hierzu bereits mit dem Maassstab der richtigen Perception d. h. mit einem nicht vorhandenen Maassstab gemessen werden müsste.“ (S. 883 f.)

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(1) Schöne Fälle hierfür liefern uns beständig die PR-Agenturen und die Spin-Doctors mit Begriffen wie „Neiddebatte“, wenn es einer wagt, auf die immer extremer werdenden soziale Unterschiede hinzuweisen. Oder eine schöne Umetikettierung: statt Managerboni wird „Halteprämie für Führungskräfte“ gesagt, um exorbitante Zahlungen zu kaschieren.

2 Gedanken zu „Erste Bestimmungen einer philosophischen Postmoderne (5)

  1. Ich bin gespannt was deine Ausführungen zu Adornos Musiktheorie angeht, denn seine Ansichten zu Jazz sind meiner Meinung nach der Teil seiner Schriften, den man bedenkenlos in die Tonne kloppen kann. Obwohl, wenn man für „Jazz“ stattdessen „Pop“ einsetzt, dann stimmt es wieder.

  2. Adornos Texte zum Jazz kenne ich zu wenig – ich bin kein Musiktheoretiker, weshalb ich mich mit Analysen hier zurückhalte. Ich verweise in bezug auf den Jazz aber nochmals auf eine sehr gute Darstellung drüben bei Momorulez in seinem Blog Metalust (siehe Blogroll).

    Ja, wenn man stattdessen Pop einsetzt: Diesen Verdacht hege auch ich.

    Für eine solche Analyse sollte man dann freilich das Kulturindustriekapitel aus der DA hinzunehmen.

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    Dein Kommentar hier erinnert mich daran, daß ich ja auch noch eine Serie zur Postmoderne angefangen habe, die leer lief.

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